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MELDUNG/314: Nachrichten aus Forschung und Lehre vom 25.03.11 (idw)


Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilungen


→  Multiplexing im Gehirn
      unabhängige Kodierung von Orientierung und Bewegung erstmals gezeigt
→  Nature
      Saarländische Wissenschaftler identifizieren wichtiges menschliches Geruchs-Gen


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Ruhr-Universität Bochum - 24.03.2011

Multiplexing im Gehirn
Unabhängige Kodierung von Orientierung und Bewegung erstmals gezeigt

Überlagerte Aktivitätsmuster übermitteln unterschiedliche Informationen beim Sehen

Fährt mein Zug an oder der am Gleis gegenüber? Welcher Zug sich in Bewegung setzt, erkennt man oft erst dann, wenn man beim Blick aus dem Fenster Relativbewegungen von Konturen an verschiedenen Orten erfasst hat. Doch wie werden diese unterschiedlichen Informationen gleichzeitig durch dasselbe Netzwerk aus Millionen aktivierter Nervenzellen im Gehirn geschleust? "Nervenzellen synchronisieren sich mit unterschiedlichen Partnern in verschiedenen Frequenzen", erklärt Dr. Dirk Jancke, Neurowissenschaftler an der Ruhr-Universität in Bochum.

So entstehen sich überlagernde Aktivitätsmuster, die jeweils Richtung, Geschwindigkeit und Orientierung von Objekten abbilden. Dieses "Gehirn-Multiplexing" zeigen Bochumer Wissenschaftler zusammen mit Kollegen der Universität Osnabrück mit Hilfe eines neuen bildgebenden Verfahrens, des "Real-time Optical Imagings". Ihre Ergebnisse sind im Journal "NeuroImage" veröffentlicht.

Optische Messung von Gehirnaktivität in Echtzeit

Das optische Verfahren nutzt die Eigenschaften von bestimmten fluoreszierenden Farbstoffen: Sie lagern sich in die Membranen von Nervenzellen ein und ändern ihre Leuchtintensität immer dann, wenn die Zellen elektrische Impulse erhalten oder aussenden. Ein hochauflösendes Kamerasystem sorgt dafür, dass so die Aktivitäten von Nervenzellen über mehrere Quadratmillimeter große Oberflächenbereiche des Gehirns erfasst werden können.

Bewegung von Objektkonturen erstmalig im Gehirn sichtbar gemacht

Als visuellen Reiz setzten die Wissenschaftler einfache, schwarz-weiße Streifenmuster ein, die sich mit konstanter Geschwindigkeit über einen Monitor bewegten. Solche Gitterreize werden seit mehr als 50 Jahren für die Erforschung des Sehsystems genutzt und gehören zum Standardrepertoire bei der medizinischen Diagnose visueller Erkrankungen. Dennoch wurden Gehirnsignale, die gleichzeitig die Orientierung des Gitterreizes und dessen räumliche Verschiebung darstellen, bis heute nicht gefunden. Diese sehr kleinen Signale konnten die Forscher zum ersten Mal nachweisen. Um sie schließlich sichtbar machen zu können, waren weitere, rechenaufwendige mathematische Analyseschritte notwendig.

Gehirnbereiche wählen "die Frequenz"

Optical Imaging zeigt, wie die Orientierung von Objekten durch spezifische Aktivitätsmuster - so genannte Karten - in der primären Sehrinde des Gehirns abgebildet ist. In diesen Karten repräsentieren lokale Gruppen von Nervenzellen bestimmte Kantenorientierungen, beispielsweise waagerecht oder horizontal. So entsteht eine Art Punktemuster auf der Gehirnoberfläche, dessen Anordnung die Orientierung des gezeigten Gitterreizes widerspiegelt. "Durch unser neues Imaging-Verfahren sehen wir nun zusätzlich Aktivitätswellen, die sich als Streifenmuster über die Oberfläche des Gehirns bewegen. Das heißt, Bewegungsrichtung, Geschwindigkeit und Orientierungskarten sind getrennt repräsentiert. Dies hilft Mehrdeutigkeiten aufzulösen, wie sie häufig in natürlichen Bildsequenzen auftreten", so Dr. Jancke. Die entstehenden raum-zeitlich oszillierenden Muster können dann individuell an nachfolgende Gehirngebiete übertragen und interpretiert werden. Dr. Jancke nutzt zur Veranschaulichung einen Vergleich: "Radios empfangen gleichzeitig einen permanenten Strom an Informationen über Radiowellen. Um nun einen bestimmten Sender hören zu können, wählen wir gezielt dessen Frequenz. So könnte zum Beispiel ein nachfolgendes Gehirnareal die Orientierung eines Objektes analysieren, während andere gleichzeitig dessen Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit verarbeiten."

Komplexere Reize einsetzen

Die Wissenschaftler erhoffen sich für die Zukunft weitere Erkenntnisse über die parallele Echtzeitverarbeitung im Gehirn durch die Verwendung komplexerer Sehreize. Denn offenbar werden natürliche Bilder, denen wir täglich ausgesetzt sind, effizient verarbeitet. "Es bleibt spannend herauszufinden, wie unser Gehirn aus diesen komplexen Informationen stabile Sinneseindrücke in jedem Augenblick erzeugt", so Jancke.

Weitere Informationen
Dr. Dirk Jancke
Real-time Optical Imaging Group
Institut für Neuroinformatik NB 2/27
Ruhr-Universität, 44780 Bochum
E-Mail: jancke@neurobiologie.rub.de
http://homepage.ruhr-uni-bochum.de/Dirk.Jancke/

Titelaufnahme
Onat S, Nortmann N, Rekauzke S, König P, Jancke D (2011).
Independent encoding of grating motion across stationary feature maps in primary visual cortex visualized with voltage-sensitive dye imaging.
Neuroimage 55: 1763-1770.
http://dx.doi.org/10.1016/j.neuroimage.2011.01.004

Redaktion: Meike Drießen

Weitere Informationen finden Sie unter
http://homepage.ruhr-uni-bochum.de/Dirk.Jancke/brain_multiplexing.html
Filmdownload

Zu dieser Mitteilung finden Sie Bilder unter:
http://idw-online.de/de/image137996
Das Gehirn kodiert gleichzeitig Orientierung und Bewegung eines Objekts. Ein horizontales Streifenmuster wurde auf einem Bildschirm gezeigt (rechts skizziert), und dann nach unten bewegt. Von links nach rechts: Blick auf die Gehirnoberfläche und ein 20 Millisekunden Kamera-Schnappschuss aktiver Bereiche. Dunkel gefärbt (rot umrandet) sind Regionen, in denen Nervenzellen vermehrt aktiv sind, die horizontal orientierte Kanten kodieren. Diesem Muster überlagert sind Aktivitätswellen (rot markiert den Wellenkamm der Aktivierung, blau niedrige Amplitude), die sich in Richtung und Geschwindigkeit des Gitters bewegten. Damit wurde erstmalig sichtbar gemacht, wie Informationen im Gehirn über Orientierung eines Objekts und dessen Bewegung gleichzeitig verarbeitet und getrennt weitergeleitet werden.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung:
http://idw-online.de/de/institution2

Quelle: Ruhr-Universität Bochum, Dr. Josef König, 24.03.2011


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Universität des Saarlandes, Saar - 23.03.2011

Nature - Saarländische Wissenschaftler identifizieren wichtiges menschliches Geruchs-Gen

Was haben Schmerzempfinden und die Wahrnehmung von Gerüchen miteinander zu tun? Auf den ersten Blick gar nichts. Auf genetischer Ebene aber sehr viel. Wie saarländische Wissenschaftler nun gemeinsam mit Kollegen aus Großbritannien, den USA und Frankreich herausgefunden haben, ist ein einziges Gen dafür verantwortlich, dass Menschen sowohl Schmerz als auch Düfte wahrnehmen können. Bei Patienten mit einem Funktionsausfall dieses Gens, das die Bezeichnung SCN9A trägt, fehlen diese beiden wichtigen Sinnesempfindungen.

Die neuen Ergebnisse zeigen detailliert, wie die Funktion dieses Gens zu einer direkten Kontrolle der gesamten Nervenaktivität des Geruchssystems führt. Diese Erkenntnisse wurden jetzt im renommierten Fachmagazin Nature veröffentlicht.

Seit 2006 sorgen Studien über das fehlende Schmerzempfinden bei einer bestimmten Gruppe von Patienten in der Fachwelt für Aufsehen. Diese Patienten brechen sich zum Beispiel die Knochen, ohne dabei Schmerzen zu empfinden. Da dieser Defekt besonders oft in bestimmten Familien vorkommt, haben die Wissenschaftler eine genetische Veränderung dahinter vermutet. Tatsächlich konnte ein einziges Gen identifiziert werden, das für das fehlende Schmerzempfinden verantwortlich ist. Dabei handelt es sich um das Gen mit der Bezeichnung SCN9A, das einen bestimmten Natrium-Ionenkanal kodiert. Trägt dieses Gen eine spezifische Mutation, so kann dieser Natrium-Kanal vom Körper nicht hergestellt und in die Zellmembran der schmerzempfindlichen Nervenzellen eingebaut werden. Die Folge ist, dass keine Nervenreize mehr weitergeleitet werden können, so dass letztendlich im Gehirn kein Schmerzempfinden ausgelöst werden kann.

"Wir haben uns gefragt, ob derselbe Natrium-Kanal auch für die Funktion der Nervenzellen im Riechsystem wichtig sein könnte", erklärt Professor Frank Zufall, Leiter der Abteilung "Molekulare Medizin Sensorischer Systeme" am Institut für Physiologie der Universität des Saarlandes in Homburg und federführender Wissenschaftler der Geruchs-Studie, die Fragestellung des "Nature"-Artikels.

Nachdem das Forscherteam herausfinden konnte, dass dieser spezielle Natrium-Kanal namens Nav1.7 auch stark in den olfaktorischen Sinneszellen der Nase vorhanden ist, stellte sich die Frage nach der konkreten Funktion dieses Kanals. Dazu wurde das Gen in den Riechsinneszellen von Mäusen ausgeschaltet. Tatsächlich zeigten diese Mäuse, genau wie die Patienten mit einem veränderten SCN9A-Gen, einen völligen Ausfall ihres Geruchssystems, ein Zustand, der als "generelle Anosmie" bezeichnet wird.

Dabei hatten die Wissenschaftler eine harte Nuss zu knacken: "Das Schwierige war, dass die Sinneszellen in der Nase, die am Anfang der Wahrnehmung stehen, nach wie vor auf Düfte reagieren und Aktionspotenziale feuern, wenn der Nav1.7-Kanal ausgeschaltet ist", erklärt Frank Zufall. Das heißt, die Zellen in der Nase funktionieren trotz defektem Gen einwandfrei und leiten elektrische Reize, die von Düften ausgelöst werden, weiter. Die Forscher mussten also weitersuchen, bis sie herausfanden, dass bei fehlendem Nav1.7-Kanal im Verlauf des Geruchsnervs, an der ersten Schaltstelle zum Gehirn, die Reizweitergabe in Richtung Gehirn völlig blockiert war.

Die Wissenschaftler haben damit eine neue Strategie entwickelt, um menschliche Gene, die für das Riechen verantwortlich sind, zu identifizieren und ihre Funktionsweise zu entschlüsseln: Sie suchen nach Genen, die für den Defekt eines Sinnessystems - hier Schmerzempfinden - verantwortlich sind, und überprüfen, ob dieselben Gene auch für andere Sinnessysteme - hier das Riechen - benutzt werden. Das hat pragmatische Gründe: "Vielleicht gibt es ja auch Patienten mit angeborener Taubheit oder Blindheit, die gleichzeitig nicht riechen können", erklärt Professor Zufall dieses Vorgehen. Die Gene, die den menschlichen Geruchssinn steuern, sind bisher so gut wie unbekannt.

Neben der Identifizierung des ersten menschlichen Gens, das die Nervenübertragung des gesamten Geruchssystems direkt steuert, sowie einem besseren molekularen Verständnis unserer Sinnessysteme kann diese Arbeit auch ganz konkrete Anwendungen möglich machen. "Die Erkenntnisse sind von großem kommerziellen Interesse, da der Nav1.7-Natriumkanal einen wichtigen Angriffspunkt für die Herstellung neuartiger Schmerzmittel darstellt", erklärt Frank Zufall. Damit können potentielle Nebenwirkungen dieser Medikamente besser verstanden werden.

Diese Arbeit wurde unter anderem von den DFG-Sonderforschungsbereichen SFB 520 "Räumlich-zeitliche Interaktionen zellulärer Signalmoleküle" und SFB 894 "Ca2(+)-Signale: Molekulare Mechanismen und Integrative Funktionen", der internationalen Graduiertenschule GK 1326 "Calcium-Signaling and Cellular Nanodomains" sowie der Volkswagen-Stiftung gefördert.

Kontakt und weitere Informationen:
Prof. Dr. Dr. Frank Zufall
E-Mail: frank.zufall@uks.eu
Webseite: http://physiology.uni-saarland.de/Home/Physiology_Home.html

Den vollständigen Artikel finden Sie hier:
http://dx.doi.org
Geben Sie in das Suchfeld folgenden Identifikationscode ein: 10.1038/nature09975

Titel:
Loss-of-function mutations in sodium channel Nav1.7 cause anosmia
Autoren:
- Universität des Saarlandes: Frank Zufall, Trese Leinders-Zufall, Jan Weiss, Martina Pyrski, Eric Jacobi, Bernd Bufe (alle Institut für Physiologie), Bernhard Schick, Vivienne Willnecker (beide Klinik für Hals-Nasen- und Ohrenheilkunde)
- Universität London: Samuel J. Gossage, John N. Wood (auch Universität Seoul)
- Universität Cambridge: C. Geoffrey Woods
- Universität Yale: Charles A. Greer
- Universität Paris: Philippe Zizzari

Weitere Informationen finden Sie unter
http://dx.doi.org
http://physiology.uni-saarland.de/Home/Physiology_Home.html

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung:
http://idw-online.de/de/institution8

Quelle: Universität des Saarlandes, Saar - Uni - Presseteam, 23.03.2011


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. März 2011