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UMWELT/638: Bericht von der Tagung "25 Jahre Tschernobyl" vom 8.-10.4.11 in Berlin (M. Klingenburg-Vogel)


Bericht von der Tagung "25 Jahre Tschernobyl" vom 8.-10. April 2011 in Berlin

Von Mechthild Klingenburg-Vogel, 1. Mai 2011


"Wir Ärzte müssen informieren, denn nur informierte Menschen können verantwortungsvoll handeln!"

Dieser Aufforderung der australischen Ärztin Helen Caldicott, die mit dem Nuclear Free Future Award geehrt wurde für ihr seit über 40 Jahre dauerndes Engagement, in dem sie unermüdlich und sehr erfolgreich vor den gesundheitlichen Folgen der oberirdischen Atombombenversuche, der Kernenergie, des Uranabbaus sowie der Atomkriegsgefahr warnte, möchte ich folgen und Ihnen von der Tagung der IPPNW (Internationale Ärztinnen und Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs/Ärzte in sozialer Verantwortung") zu "25 Jahre Tschernobyl" berichten.

Schon die Eröffnung der Tagung war sehr bewegend: Katsumi Furitsu, eine japanische Ärztin, die seit über 20 Jahren immer wieder nach Tschernobyl gefahren war, um mit Rat und Tat der dortigen Bevölkerung zu helfen, sollte ein Grußwort sprechen. Sie trat ans Mikrofon, rang fassungslos nach Worten, und sagte dann weinend, dass sie aus ihrer Erfahrung mit Tschernobyl wisse, wie viel Leid auf ihre Landsleute noch zukomme. Sie mache sich bittere Vorwürfe, dass sie und ihre Kollegen nicht aktiver gewarnt und so die furchtbare Katastrophe von Fukushima verhindert hätten. Deshalb, um meinen Kindern gegenüber nicht noch mehr Schuld zu empfinden über das, was wir in ihre Zukunft abladen, schreibe ich diesen Bericht. Dabei würde ich diese Fakten am liebsten immer wieder verdrängen und könnte mir vorstellen, dass es Vielen so geht. Doch ich möchte Sie mit den vorgetragenen Untersuchungsergebnissen aufrütteln, weil sie die verharmlosende Absicht der offiziell mitgeteilten Zahlen über die gesundheitlichen Folgen des Reaktorunglücks offen legen. Dabei beschränke ich mich auf eine sehr kurze Zusammenfassung und möchte Sie auf die von der IPPNW und der Gesellschaft für Strahlenschutz herausgegebene, ausgezeichnete und differenzierte Veröffentlichung "Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl"[1] verweisen.

Die in dieser Broschüre referierten internationalen Untersuchungen entblößen die Aussage des damaligen Direktors der Internat. Atomenergiebehörde IAEO, Hans Blix 1986, "die Atomindustrie kann jedes Jahr eine Katastrophe wie Tschernobyl verkraften" nicht nur als menschenverachtend-zynisch, sondern charakterisieren die einseitige, allerdings in ihrer Satzung festgelegte Pro-Kernkraft-Interessenvertretung der IAEO, die in ihren offiziellen Verlautbarungen die Zahlen der von ihr selbst zugrunde gelegten Studien massiv geschönt hat und die auch heute noch verschleiernde Vergleiche zieht mit der sog. "natürlichen" Radioaktivität (entspricht dem Anteil an kosmischer Strahlung plus der durch natürliche Radionukleide (z.B. Radon, Kalium 40, Uran) und der bereits durch Atombombentests und AKWs verursachten "Hintergrundsradioaktivität") sowie der medizinisch in Einzelfällen notwendigen diagnostischen oder therapeutischen, überwiegend einmalig kurzzeitig einwirkenden ionisierende Gamma- oder Röntgenstrahlung gegenüber den schwerwiegenden Folgen von inkorporierten Alpha- oder Betastrahlern, z.B. Cäsium 137 oder Strontium 90, die Jahrzehnte- bis Jahrtausende wirksam sind . So sind heute noch immer z.B. in Bayern Wildpilze und Wildfleisch hoch belastet und dürf(t)en teilweise nicht verzehrt werden!

Grenzwerte sind politische Werte, die oft nicht primär die gesundheitlichen Risiken reflektieren, sondern auch wirtschaftlichen Interessen dienen. Mein Misstrauen gegenüber offiziellen Verlautbarungen wurde noch verstärkt, als ich erfuhr, dass die WHO, eine Organisation, der ich vertraute, der doch die Gesundheit der Weltbevölkerung am Herzen liegen sollte, in ihren Veröffentlichungen seit 1959 durch einen "Knebelvertrag" an die IAEO gebunden ist.


Zusammenfassung:

Von den 600.000 - 1 Million Liquidatoren, die als junge Männer - oft ohne ausreichende Schutzkleidung! - in Tschernobyl eingesetzt waren, sind inzwischen mindestens 50 - 100.000 verstorben. Über 90 % leiden an mehreren verschiedenen Krankheiten, insbesondere auch des Herz- Kreislaufsystems, an Krebserkrankungen der Atemwege, der Lunge, des Magen-Darmtrakts sowie an Leukämie. Viele sind invalidisiert und haben Symptome einer um 10 - 15 Jahre vorzeitigen Strahlen-induzierten Alterung.

Die Altersstruktur in den 3 am stärksten betroffenen Staaten hat sich insgesamt drastisch verändert: Sinkende Geburtenraten durch Unfruchtbarkeit und Frühaborte und eine auffällige Verringerung des Anteils weiblicher Geburten sowie späterer Infertilität, steigende Erkrankungs- und Sterblichkeitsrate sowie eine bei Männern um durchschnittlich 10 Jahre erniedrigte Lebenserwartung. Bekannt, aber kaum im vollem Umfang bewusst, ist die Zunahme von - äußerst aggressivem, schnell metastasierendem - Schilddrüsenkrebs bei Kindern, einer Krebsart, die vorher bei Kindern äußerst selten war: Von allen Kindern, die in der stark betroffenen Region Gomel 1986 0 - 4 Jahre alt waren, wird ein Drittel im Laufe ihres Lebens an Schilddrüsenkrebs erkranken, oft schon nach einer Latenzzeit von nur 4 Jahren!

- Wenn man in den Katastrophenplänen der Bundesregierung liest, dass bei einem AKW-Unfall die Menschen zwar in den Häusern bleiben sollen, gleichzeitig aber dann erst Jodtabletten an bestimmten Ausgabestellen und nur an unter 45-Jährige(!) ausgegeben werden, wobei der Schutzeffekt gegenüber der Aufnahme von radioaktivem Jod nur dann gegeben ist, wenn Jodid möglichst schon 1-2 Tage vorher, aber spätestens in den ersten 3 Stunden eingenommen wird, dann wird - bei einer 10-fach dichteren Besiedlung der BRD gegenüber der Ukraine - der Irrsinn der Beherrschbarkeit einer derartigen Katastrophe deutlich. Und dafür braucht es kein Erdbeben und keinen Tsunami, es reicht, wenn ein Sportflugzeug auf das dagegen völlig ungesicherte Maschinenhaus eines AKW stürzen würde! -

Auch weitere Krebskrankheiten, kindliche Leukämie, Brustkrebs, Magen- und Darmkrebs sowie Tumore des Zentralnervensystems treten signifikant, oft um eine Mehrfaches häufiger und viel früher auf als vor Tschernobyl.

In der Ukraine und in Weißrussland haben überraschenderweise Herz-Kreislaufkrankheiten noch massiver zugenommen als Krebserkrankungen, außerdem Schädigungen des Zentralnervensystems, z.T. mit der Folge verminderter Intelligenz oder psychiatrischer Störungen. Als Ursache werden u.a. Strahlen-induzierte Durchblutungs- und Gefäßveränderungen diskutiert.

Die von der Internat. Strahlenschutzkommission ICRP angenommene Schwellendosis für teratogene Schäden (Erbschäden) von 100 mSv wird durch zahlreiche Untersuchungen widerlegt: Obwohl der überwiegende Anteil genetischer Veränderungen erst noch Generationen später auftreten wird, sind in belasteten Gebieten eine Zunahme an Frühaborten und bereits ab Ende 1986 ein deutlicher Rückgang an Lebendgeborenen und eine erhöhte Säuglingssterblichkeit, eine deutliche Erhöhung von teilweise schweren Fehlbildungen (Anenzephalie, Neuralrohrdefekte, Polydakylie, Lippen-Gaumenspalte), aber auch Chromosomenanomalien nachweisbar. So kam es auch in Berlin im Januar 1987 zu einem um das 4- bis 6-fache erhöhten Peak von mit Trisomie 21, Down-Syndrom (Mongolismus) geborener Kinder, in München zu einer 2-3 fachen Zunahme. Am stärksten betroffen von genetisch bedingten Krankheiten sind Kinder von Strahlen-exponierten Eltern, auch solche, die erst Jahre nach der Reaktorkatastrophe gezeugt wurden. So wurde in stärker belasteten Gebieten auch eine hochsignifikante Zunahme an kindlichem Diabetes mellitus (D.m. Typ 1) sowie u.a. an Nieren-, Lungen- (TBC!) und an Infektionskrankheiten gegenüber weniger belasteten Gebieten festgestellt.

Wenn ich mir die Einzelschicksale von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Krebserkrankungen oder Leukämie vor Augen halte, deren Leiden, deren Angst, deren Herausgerissen-Werden aus ihrem bisherigen Lebensentwurf und mich in die Situation von Eltern und Angehörigen einfühle, dann könnte ich schreien, wenn von Verfechtern der Kernkraft als Argument höhere Stromkosten angeführt werden. Wie soll man die Kosten an solch körperlichem und seelischem Leid beziffern (abgesehen von den realen Kosten für die Versichertengemeinschaft)!

- Einer Krebserkrankung sieht man nicht mehr an, wodurch sie ausgelöst wurde. Woher wissen wir hier bei uns, dass z.B. die Mutter eines Jugendlichen, der heute eine akute Leukämie bekommt, nicht 1986 Strahlung abbekommen hat oder ob sein Vater vor seiner Zeugung Cäsium-belastete Wildpilze gegessen hatte? Ich bin selbst Mutter und fühle mich der Möglichkeit, dass ich durch Tschernobyl evtl. eine derartige Zeitbombe oder eine genetische Schädigung an meine Kinder weitergegeben haben könnte, ausgeliefert. Das ist keine neurotische Strahlenphobie, sondern Anerkennung einer Realität, die berechtigt Angst macht! Aber Angst hat auch eine wichtige Warnfunktion. Deshalb hat Fukushima mich wie viele andere wieder aufgerüttelt und ich hoffe, dass möglichst viele die Angst und Sorge, dass auch hier ein Kernkraftwerksunfall passieren könnte, nicht weiter verdrängen, sondern in konstruktive Veränderungen umsetzen. -

Die vielen erschütternden Berichte und Dokumentationen auf dem Kongress wurden aushaltbar durch Beiträge, die Hoffnung machten, so z.B. Informationen über die Möglichkeiten alternativer und dezentraler Energieversorgung, die schon heute umsetzbar sind und die die Behauptung, wir müssten im Falle eines raschen Ausstiegs aus der Kernenergie dann Atomstrom aus (noch) unsichereren AKWs von Nachbarländern beziehen oder neue, Treibhausgas-produzierende Kohlekraftwerke bauen, entkräften. Wir alle können etwas tun, den Stromanbieter wechseln, im Kleinen Wärmedämmung und Energiesparmaßnahmen durchführen und vor allem: informieren! Informieren, um, wie Helen Caldicott sagte, verantwortlich handeln zu können! Gerade Ärzte, die täglich konfrontiert sind mit schlimmen menschlichen Schicksalen, sollten präventiv tätig werden und aufklären!


Die von mir erwähnte Broschüre[1] sowie zahlreiche weitere sehr gute Informationsmaterialien sind zu beziehen u.a. über die IPPNW (e-mail: IPPNW@IPPNW.de, Tel: 030-4493736), über die Gesellschaft für Strahlenschutz, über "ausgestrahlt" oder z.B. über Eurosolar. Lesenswert u.a. auch: Hermann Scheer: Energieautonomie. Eine neue Politik für erneuerbare Energien. München 2005.

[1] http://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Atomenergie/Gesundheitliche_Folgen_Tschernobyl.pdf


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Quelle:
Dr. med. Mechthild Klingenburg-Vogel
Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin - Psychoanalyse
mit freundlicher Genehmigung der Autorin
E-Mail: klingenburg-vogel@web.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Mai 2011