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AUSLAND/1675: Österreich - Kinder sollen kein Schaden sein (ALfA LebensForum)


ALfA LebensForum Nr. 96 - 4. Quartal 2010
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Kinder sollen kein Schaden sein

Von Stephan Baier


In vielen Ländern wird die Geburt eines behinderten Kindes von den Gerichten als »Schaden« betrachtet. Die Folge: Ärzte, die Anzeichen für eine mögliche Behinderung des Kindes übersehen, laufen Gefahr, nach dessen Geburt zu Unterhaltszahlungen verurteilt zu werden. In Österreich will die Bundesregierung der so genannten »Kind-als-Schaden«-Rechtsprechung nun endlich einen Riegel vorschieben. Die dafür notwendige Gesetzesänderung soll bereits im Sommer in Kraft treten.


Die Geburt eines Kindes mit Behinderung soll in Österreich künftig nicht mehr als Schadensfall beurteilt werden dürfen. Darauf zielt eine von Justizministerin Claudia Bandion-Ortner geplante Änderung des Schadensrechts, konkret des Paragrafen 1293 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs (ABGB), die Mitte Dezember vorgestellt wurde. Ergänzt werden soll hier folgende Formulierung: »Aus dem Umstand der Geburt eines Kindes können weder das Kind noch die Eltern noch andere Personen Schadensersatzansprüche geltend machen. Ausgenommen davon sind Schadensersatzansprüche aus einer Verletzung des Kindes während der Schwangerschaft oder der Geburt.«

Die von der bürgerlichen ÖVP nominierte, aber parteilose Justizministerin löst damit ein, worauf sich die Regierungsparteien SPÖ und ÖVP bereits in ihrem aktuellen Regierungsübereinkommen einigten, nämlich »außer Streit zu stellen, dass die Geburt und Existenz eines Kindes mit Behinderung kein Schaden ist, wie groß die Betroffenheit und Trauer der Eltern über die Tatsache der Behinderung ihres Kindes auch sein mag«.

»Kein Kind ist ein Schadensfall.«

Die Gesetzesänderung, die am 1. Juni 2011 in Kraft treten soll, soll Urteile unmöglich machen, wie sie in den vergangenen Jahren mehrfach für heftige Kontroversen sorgten. So hatte der Oberste Gerichtshof (OGH) zuletzt 2008 in einem Kärntner Fall geurteilt, dass »der Unterhaltsaufwand für ein nicht gewolltes Kind einen Schaden darstellt«. Weil die Mutter aussagte, sie hätte ihr Kind sicher abgetrieben, wenn die Behinderung erkannt und ihr mitgeteilt worden wäre, wurde die Landeskranken-Betriebsgesellschaft Kärnten dazu verurteilt, den gesamten Unterhaltsaufwand für das Kind zu tragen. In einem vergleichbaren Fall 1999 wurde einem Arzt lediglich der erhöhte Unterhaltsaufwand, also die Differenz zum Aufwand für ein Kind ohne Behinderung, auferlegt.

Dabei hatte in dem 2008 entschiedenen Fall die Mutter tatsächlich ein Kind gewollt: Sie hatte bereits zwei Kinder aus einer früheren Ehe, ließ sich aber 2001 die Spirale entfernen und freute sich auf ein weiteres Kind. In der Risikoambulanz des Landeskrankenhauses erklärte die damals 36-jährige Frau, sie wolle »auf Nummer sicher gehen«, ein gesundes Kind zu gebären. Scheitelsteißlänge und Nackentransparenz des Kindes wurden gemessen, das Trisomie-21-Risiko mit einem Computerprogramm errechnet. Bei einer weiteren Untersuchung wurde ein Organscreening durchgeführt. In der späteren Urteilsbegründung hieß es darum: »Eine in der 20. Schwangerschaftswoche festgestellte MMC (Meningomyelozele, Anm.) ist jedenfalls eine Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch (...) bis zur 24. Woche wären damals noch drei Wochen Zeit gewesen. Nach diesem Zeitraum hätte man damals in Österreich niemanden gefunden, der noch einen Schwangerschaftsabbruch vorgenommen hätte.«

Laut OGH erfolgte die Untersuchung »nicht fachgerecht«, denn die behandelnde Ärztin machte »trotz einer großen Anzahl von Ultraschalluntersuchungen bis zur Geburt (...) nie Wahrnehmungen in Richtung Wasserkopf, Klumpfüße oder offene Wirbelsäule«. Doch mit diesen Behinderungen kam das Kind am 12. Januar 2002 zur Welt. Die Höchstrichter erkannten nicht nur einen »schwerwiegenden Fehler der untersuchenden Ärztin«, sondern bauten ihr Urteil auf dem Abtreibungswillen der Mutter auf: »Wenn den Klägern rechtzeitig gesagt worden wäre, ihr Kind leide an MMC, hätten sie die Schwangerschaft rechtzeitig abbrechen lassen.«

Einwände, das Kind könne nicht zum Schaden gemacht werden, ohne »die Etablierung einer Sekuritäts-Eugenik« zu betreiben, das Kind werde so »immer neuer seelischer Pein« und seine Familie »immer neuen sozialen Irritationen« ausgesetzt, referiert die Urteilsbegründung zwar, misst ihnen aber keine Bedeutung bei: Es sei evident, dass der Unterhaltsaufwand für ein nicht gewolltes Kind einen Schaden darstellte, so die Richter. Geboten sei daher »eine Trennung der Existenz des Kindes vom damit unbestreitbar verbundenen wirtschaftlichen Aufwand«.

Der OGH lehnte in seiner Urteilsbegründung »eine moralisch-ethische Bewertung« als »hier rechtlich weder erforderlich noch fruchtbringend« ausdrücklich ab. Auch die Frage einer »psychischemotionalen Schädigung des Kindes«, dem nun höchstgerichtlich bescheinigt wurde, von den Eltern in seinem So-Sein nicht gewollt und eben deshalb durch seine Existenz und die damit verbundenen Kosten ein Schaden zu sein, interessierte die Richter nicht: »Ob nun ein Kind von Eltern geplant, von diesen erwünscht, angenommen, eher als finanzielle Belastung angesehen oder gar abgelehnt wird, liegt im Verantwortungsbereich der Eltern.« Die Schlussfolgerung des OGH lautete deshalb 2008: »Dass in einem solchen Fall die Entscheidung für einen Schwangerschaftsabbruch auch wegen der erheblichen finanziellen Aufwendungen für ein behindertes Kind erfolgen kann, ist objektiv durchaus voraussehbar.«

Wenngleich in Österreich auch künftig Kinder abgetrieben werden, nur weil eine Behinderung erkannt oder befürchtet wird, braucht ab 1. Juni kein behandelnder Arzt mehr Schadensersatzforderungen aus der Geburt eines behinderten Kindes befürchten. Justizministerin BandionOrtner kritisierte ausdrücklich die bisherige »missverständliche Judikatur des OGH, wonach Ärzten Unterhaltspflichten auferlegt wurden im Fall der Geburt behinderter Kinder aufgrund Beratungsfehler«. Dadurch sei ein »gewisser Haftungsdruck« für die Ärzte entstanden, der nicht ausschloss, »dass Eltern zur Abtreibung eines womöglich behinderten Kindes verhalten wurden«. Nach Angaben des Justizministeriums sollen die besonderen Bedürfnisse und Aufwendungen zur Pflege und Betreuung behinderter Kinder »auf andere Weise als durch das Schadenersatzrecht, nämlich durch öffentliche Leistungen abgegolten werden«.

Der ÖVP-Sprecher für Menschen mit Behinderungen, der selbst körperlich schwer behinderte Franz-Joseph Huainigg, begrüßte die geplante Gesetzesänderung als mutigen, positiven und wichtigen Schritt für die Gleichstellung behinderter Menschen. Damit werde »klar festgeschrieben, dass die Geburt eines behinderten Kindes keinen Schadensfall darstellen kann«. Zu dem oben geschilderten Fall aus Kärnten hält Huainigg fest: »Auch wenn die OGH-Richter im Interesse der betroffenen Familien urteilten, war die Symbolik dieser Rechtsprechung fatal!« In der Folge hätten Ärzte Frauen gedrängt, die ganze Palette an vorgeburtlichen Untersuchungen durchzuführen, auch ohne Anlass und mit zusätzlichen Risiken für das Kind. Für die Mütter sei die Schwangerschaft keine Zeit der guten Hoffnung und der frohen Erwartung, sondern vielfach geprägt von Unsicherheit und Stress. Und Eltern, die eine Abtreibung in jedem Fall ablehnten, seien dadurch finanziell benachteiligt worden, weil sie jeden Anspruch auf Schadensersatz aufgaben.

Für die österreichische Bischofskonferenz begrüßten der Vorsitzende, Kardinal Christoph Schönborn, und Familien-Bischof Klaus Küng die von der Justizministerin angekündigte Gesetzesänderung. Kardinal Schönborn sagte, es müsse darum gehen, Eltern auf andere Weise zu helfen als dadurch, »dass man deren eigenes Kind als Schadensfall betrachtet«, denn »kein Kind ist ein Schadensfall«. Bischof Küng begrüßte die Neufassung des Gesetzes, die »viel Druck von Eltern und Ärzten nehmen und manche Entscheidung zugunsten eines Kindes und gegen eine Abtreibung möglich machen wird«.

Heftiger Widerspruch kommt dagegen von dem evangelischen Theologen Ulrich Körtner, Ordinarius für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und langjähriges Mitglied der Bioethikkommission der Bundesregierung Österreichs: Den finanziellen Preis für die Änderung der Rechtslage hätten »die betroffenen Kinder und ihre Familien zu zahlen«, klagt Körtner in einem Gastkommentar in der Wiener Tageszeitung »Die Presse« unmittelbar vor Weihnachten. Schadensersatzklagen bei gravierenden Diagnosefehlern auszuschließen, sei »unverantwortlich und zynisch«. Körtner wörtlich: »Zu Ende gedacht zielt die geplante Gesetzesnovelle gegen das geltende Abtreibungsrecht. Sollte das Parlament dem Vorschlag der Ministerin folgen, stünde letztlich die Zulässigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs aufgrund einer embryopathischen Indikation infrage, damit auch die Pränataldiagnostik insgesamt.«

Obwohl die Gesetzesänderung dem oben zitierten Regierungsübereinkommen entspricht, kritisierte der Justizsprecher der SPÖ, Hannes Jarolim, das Vorhaben der Justizministerin: »Es ist unbestritten, dass menschliches Leben - ganz gleich ob gesund oder behindert - wertvoll ist, und dass menschliches Leben und damit ein Kind niemals als Schaden gewertet werden kann. Ein Kind ist für die Eltern, wenn sie sich dazu entschieden haben, eine Freude und ein großes Glück.« Man könne, so Jarolim, allenfalls darüber diskutieren, »dass man den Eltern in Fällen, in denen dem Arzt ein schwerwiegender Diagnosefehler unterlaufen ist, nicht mehr den kompletten Unterhalt, aber selbstverständlich weiterhin den Mehraufwand für ein behindertes Kind zusprechen soll«. Der SPÖ-Justizsprecher fordert nun weitere Gespräche zu dem Thema, um, wie er formulierte, »abseits von populistischen Meldungen ethisch vertretbare Lösungen zu finden«.

Noch weiter geht Frauenministerin Gabriele Heinisch-Hosek (SPÖ), die den Vorstoß der Justizministerin ganz ablehnt. Ärzte sollen, so meint sie, im Fall einer nicht diagnostizierten Behinderung auch weiter haftbar bleiben: »Gynäkologen haben wie alle anderen Ärzte für Fehler geradezustehen«, so die SPÖ-Politikerin. Dass die ärztliche Sorgfaltspflicht nicht aufgehoben würde, wenn das Schadensrecht im Sinn der Justizministerin modifiziert würde, lässt die Frauenministerin nicht gelten. Begründung: »Die Frau muss das Recht haben, sich entscheiden zu können.« Gemeint ist: gegen das behinderte Kind in ihrem Bauch.


IM PORTRAIT

Stephan Baier
Der Autor, 1965 in Roding (Bayern) geboren, ist Österreich- und Europa-Korrespondent der überregionalen katholischen Tageszeitung »Die Tagespost«. Nach dem Studium der Theologie in Regensburg, München und Rom arbeitete er zunächst als Pressesprecher für die Diözese Augsburg, dann fünf Jahre lang als Pressesprecher und Parlamentarischer Assistent für Otto von Habsburg im Europäischen Parlament. Baier, Autor mehrerer Sachbücher, ist verheiratet und Vater von fünf Kindern.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Claudia Bandion-Ortner
- Ulrich Körtner


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Quelle:
LEBENSFORUM Ausgabe Nr. 96, 4. Quartal 2010, S. 12 - 13
Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. März 2011