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AUSLAND/2445: Hilfe für Patienten auf Madagaskar - ein persönlicher Rückblick (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 5/2017

Gesundheitspolitik Dritte Welt
Licht auf der Schattenseite

von Dr. Gie Vandehult


Dr. Gie Vandehult gehört zu einem Team, das seit über zehn Jahren auf Madagaskar Patienten hilft. Ihr persönlicher Rückblick macht Mut.


Seit unserem ersten Einsatz im Dezember 2006 sind mehr als zehn Jahre vergangen. Zehn Jahre, in denen wir viel erlebt und etwa 2.000 Patienten operiert haben. Wir haben miterlebt, wie nah die Freude über eine Heilung und die Enttäuschung, nicht helfen zu können, beieinander liegen. Freud und Leid sind unzertrennlich, das haben wir in diesen zehn Jahren lernen müssen. Ebenso, dass es nicht immer einfach ist zu helfen. Strukturen, die über Jahre hinweg gewachsen sind, lassen sich nicht ohne Weiteres ändern. Seien es Einstellungen zur Hygiene, zu technischen Hilfsmitteln oder einfach die Tatsache, dass kulturelle Unterschiede und Vorstellungen sich gegenseitig im Weg stehen. Man benötigt Humor, Energie und Durchhaltevermögen, um ein Projekt über so einen langen Zeitraum zu betreuen.

Madagaskar hat einen festen Platz in unseren Herzen und auch nach zehn Jahren freuen wir uns, wenn wir unsere Kisten packen und losziehen können. Dieses Jahr fliegen wir zunächst in den bitterarmen Süden Madagaskars, um dort im Busch in einem kleinen Krankenhaus zu operieren. Die zweite Woche verbringen wir dann in der Insel-Hauptstadt Antananarivo.

Das Krankenhaus in Manambaro war einst der strahlende Stern der medizinischen Versorgung der Region. Viele Patienten sind aus der fast 1.000 Kilometer entfernten Hauptstadt gekommen, um sich in dem Krankenhaus mit 40 Betten behandeln zu lassen. Nach dem Jahrtausendwechsel verkümmerte das Haus langsam und hatte zeitweise wegen ungünstiger Führung kaum noch Patienten. Vor rund zwei Jahren hat sich dann Dr. Heuric, ein exzellenter madagassischer Chirurg mit einer Vision und viel Energie an die Arbeit gemacht. Er hat das Ziel, das Krankenhaus wieder auf die Beine zu bringen. Was er in kurzer Zeit geschaffen hat, ist sensationell. Es geht mit großen Schritten wieder in die Richtung des strahlenden Sterns. Im Oktober 2007 mussten wir noch mit Strom aus einem uralten Schiffsgenerator arbeiten. Zwischendurch hatten wir immer mal wieder weder Strom noch Wasser. Heute kommt der Strom zuverlässig aus einer Solaranlage. Was wir immer haben, sind Patienten. Unsere Ankunft wird im Radio, in den Kirchen und über Poster und Flyer angekündigt. Bei unserer Ankunft warten oft über 200 Personen und hoffen, dass wir helfen können. Die Sichtung dauert viele Stunden, ist spannend und sehr anstrengend. Wir sehen hier Krankheitsbilder, die vielleicht nur mit ein paar Zeilen im Lehrbuch erwähnt werden und die die meisten Kollegen in Europa mit hoher Wahrscheinlichkeit nie zu Gesicht bekommen.

Wir haben in Manambaro 79 Patienten operiert, davon war die Hälfte unter sechs Jahren. Um einen reibungslosen und sicheren Ablauf zu gewährleisten, operieren wir auf zwei Tischen in einem OP-Saal. Der eine OP-Tisch ist "plastisch", der andere "pädiatrisch". Auf dem plastischen Tisch werden vor allem angeborene Fehlbildungen wie Lippen-, Gaumenspalten und Handfehlbildungen sowie narbige Kontrakturen nach Verbrennungen operiert. Am pädiatrischen Tisch werden Leistenhernien und angeborene genitale Fehlbildungen behandelt.

Ein paar Patienten bleiben besonders im Gedächtnis. Ein zwölfjähriger Junge war ein halbes Jahr zuvor infolge eines epileptischen Anfalls mit dem Gesicht ins Feuer gefallen. Das Gesicht ist zu einer halloweenähnlichen Maske verzogen. Augenlider und Oberlippe fehlten, der Junge konnte weder die Augen noch den Mund schließen, Speichel und Tränen sickerten aus Mund und Augen. Welch entsetzliches Schicksal. Es hat keine ärztliche Behandlung gegeben, keine Schmerztherapie, nichts. Die Familie des schwer traumatisierten Jungen hat kein Geld. Ein neues Gesicht können wir dem Jungen nicht geben, aber es gelingt, die Ober- und Unterlider sowie Teile der Wangen und die Oberlippe zu rekonstruieren und mit Vollhaut zu decken. Im Februar 2017 kommt er zur weiteren Behandlung nach Manambaro.

Leistenhernien und Lippen-/Gaumenspalten zu operieren ist eine dankbare Aufgabe. Die Eltern sehen das Ergebnis sofort und freuen sich mit uns. Schwer ist es, wenn wir nichts ausrichten können. Ein weiterer zwölfjähriger Junge wurde stundenlang liegend nach Manambaro durch den Busch gebracht in der Hoffnung, wir könnten noch etwas ausrichten. Der kleine Mann hatte fünf Monate zuvor einen Knoten in der Unterlippe bemerkt, der schnell wuchs. Mittlerweile füllte der Tumor die gesamte Mundhöhle aus, hatte den Unterkiefer zerstört, eiterte und blutete. Der schmächtige, kleine Patient konnte kaum den Mund öffnen. Die Mutter versuchte, ihm Suppe um den Tumor herum einzuflößen. Jemandem zu sagen, "wir können nichts tun, es ist zu spät" schmerzt. Aber wir haben uns nicht getraut, eine Tumorreduktion vorzunehmen. Wir hätten ihn nicht oder nur sehr schwer intubiert bekommen, der Junge war fast ausgeblutet und es gab keine Möglichkeit, ihm Blut zu geben. Das Ausmaß des Tumors ohne diagnostische Hilfsmittel einzuschätzen ist außerordentlich schwierig. In dieser Situation eine Operation vorzunehmen wäre grob fahrlässig. Trotzdem fühlen wir uns, als ob wir ihn und seine Familie im Stich lassen.

Nach acht Tagen intensiver Arbeit verlassen wir Manambaro und fliegen zurück in die Hauptstadt. Dort wartet bereits ein voller OP-Plan auf uns, erstellt von der deutschen Hebamme Tanja Hock und ihrem Team. Einer unserer ersten Patienten ist ein sechs Wochen alter kleiner Junge mit einer massiv ausgeprägten Lippenspalte. Er hat schon viel Gewicht verloren, weil er einfach nicht saugen kann. Die Mutter versucht, ihn teelöffelweise zu füttern - mit nur geringem Erfolg. Wir wägen die Risiken ab und beschließen, den Eingriff vorzunehmen: Wir haben eine Kinderanästhesistin im Team, der Junge ist zwar dünn, aber gesund, und die Lippe würde sich problemlos schließen lassen. Am nächsten Tag wird der Säugling operiert und saugt bereits zwei Stunden nach der Operation zufrieden an der Nuckelflasche auf dem Schoß der überglücklichen Mutter.

Ein anderer Patient, ein knapp sechsjähriger Junge, ist von uns zunächst gar nicht begeistert. Sein rechter Vorfuß ist drei Wochen zuvor von einem Ochsenkarren verletzt worden. Gegen viel Geld, das die Familie eigentlich nicht hat, wurde der Fuß nach dem Unfall zunächst mit Fäden, die eher Schnürsenkeln ähnelten, zusammengezurrt. So wurde der Junge damals seinem Schicksal überlassen. Hoch infiziert und mit nekrotischer Haut werden uns nun der Fuß und sein Besitzer vorgestellt. Der Junge jault wie eine hysterische Sirene, wenn sich jemand dem bandagierten Fuß nähert oder es wagt, einen Blick darauf zu werfen. Da er nicht laufen kann, wird er von der Mutter getragen, was ihn jedoch nicht daran hindert, wild um sich zu schlagen. Dank Ketanest (Chemie gewinnt immer) können wir den Fuß auspacken und verstehen, warum der kleine Mann so ein Theater macht. Es müssen immense Schmerzen sein. Ein angefertigtes Röntgenbild zeigt keine Frakturen, es handelt sich um einen erheblich infizierten Weichteildefekt. Erst nach drei Operationen ist der Fuß geflickt und der Junge wird etwas zutraulicher. Beim letzten Verbandwechsel wird sogar zaghaft gelächelt - vielleicht hat das geschenkte Spielzeugauto dabei ein wenig geholfen. In Tana haben wir dasselbe Spektrum an Patienten wie in Manambaro. Der Kinderchirurg operiert eine Leistenhernie nach der anderen. Zum Teil sind sie so groß, dass sie die Kinder beim Laufen behindern.

Während des gesamten Aufenthalts in Madagaskar operieren wir diesmal 131 Patienten. Darunter sind 37 Patienten mit Leistenhernien, 28 mit Lippen- und Gaumenspalten und 42, bei denen hand- und gesichtschirurgische Eingriffe erforderlich - und möglich - sind. Zehn unserer Patienten sind noch kein Jahr, 70 Prozent unter sechs Jahre alt. Deren Operationen sind eine anästhesistische Glanzleistung, wenn man bedenkt, dass wir vor Ort nicht über Narkosegeräte verfügen, sondern mit Sauerstoffflasche, Druckreduzierer, Ambubeutel und Propophol arbeiten müssen. Wir bringen alles mit: Instrumente, Fäden, Verbandsmaterial, Medikamente und die gesamte Anästhesieausrüstung. Lediglich Infusionen und Sauerstoff werden vor Ort bereitgestellt. Die Logistik ist nicht immer ganz einfach, aber es klappt meistens erstaunlich gut. Nach zehn Jahren Erfahrung mit Pro-interplast-Einsätzen lässt sich sagen: Wir freuen uns mit jedem Patienten, dem wir helfen konnten. Wir leiden mit jedem, den wir seinem Schicksal überlassen müssen, und wir werden weiterhin bemüht sein, denjenigen ein wenig Licht zu bringen, die auf der Schattenseite geboren worden sind. Es gibt viel zu tun - wir bleiben dran und packen es an.

Ohne unsere Spender und Helfer hätten wir keine 2.000 Patienten in zehn Jahren operieren können. Wir bedanken uns bei allen, die das Projekt mittragen: pro interplast (ein Verein zur Förderung medizinischer und sozialer Hilfe in Entwicklungsländern), die geduldig seit zehn Jahren die Einsätze unterstützen, die Firma Primamed, die Material spendet, die Klindwortapotheke in Bad Schwartau, die Medikamente spendet, Michael Triebig, 3T Reisen in Frankfurt, der die Flüge organisiert, Frau Kinzel in Bad Schwartau, die unermüdlich Kuscheltiere genäht hat, und unsere Familien und Freunde. Sie alle machen es uns möglich, in den Busch zu ziehen, um die Welt ein bisschen freundlicher zu machen. Danke.

Dr. Gie Vandehult


Ihr Erfahrungsbericht

Sie haben selbst im Ausland ärztlich geholfen oder Ihre berufliche Erfahrung in einem anderen Kontext eingebracht? Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt freut sich über Ihren persönlichen Erfahrungsbericht. Bitte nehmen Sie Kontakt mit uns auf oder schicken Sie uns unverbindlich Ihr Manuskript plus Fotos an:
aerzteblatt@aeksh.de


Team
Neben der Autorin Dr. Gie Vandehult, die als Fachärztin für plastische Chirurgie in Bad Schwartau tätig ist, unterstützen auch Susanne Glasner, Volker Galle, Monica Zimmert, Jana Panther, Michel Sasieta von Anelm, Thomas Lange, Jane Lienau und Alfred Klindwort die Einsätze auf der Insel Madagaskar.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 5/2017 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2017/201705/h17054a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
70. Jahrgang, Mai 2017, Seite 20 - 22
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juni 2017

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