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AUSLAND/2558: Opioid-Krise in den USA - Drogenproblem Nr. 1 (Securvital)


Securvital 4/2019 - Oktober-Dezember
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen

Opioid-Krise in den USA
Drogenproblem Nr. 1

von Norbert Schnorbach


Schmerzmittel können abhängig machen, vor allem die starken opiumhaltigen Medikamente. Trotzdem wurden sie in den USA massenhaft verschrieben. Sie haben viele Menschen in die Sucht getrieben - mit tödlichen Folgen.


Etwa 200.000 Menschen starben in den jüngsten drei Jahren in den USA durch Drogensucht. Die meisten dieser Todesfälle sind eine verheerende Folge von Arzneimittelmissbrauch, der sich wie eine Epidemie ausbreitete und Hunderttausende drogensüchtig machte. Es ist eine Katastrophe von historischem Ausmaß, die seit Jahren die US-amerikanische Gesellschaft bedroht. Pharmahersteller und Ärzte sind mitschuldig daran.

Über Jahre hinweg wurden opiumhaltige Schmerzmedikamente in großem Stil von Pharmafirmen beworben und von vielen Ärzten verordnet. Sie galten zunächst als starke Schmerzmittel für Schwerkranke, wurden dann aber auch bei alltäglichen Beschwerden wie Knie- und Bauchschmerzen immer häufiger angewendet. Anfangs unterschätzten Ärzte offenbar die Suchtgefahr. Nach und nach stellte sich jedoch heraus, dass die Patienten sehr schnell von dem Stoff abhängig wurden, immer höhere Dosierungen verlangten oder auf andere Substanzen umstiegen, auch auf harte Drogen wie Heroin. Es entstand ein krimineller schwarzer Markt für die Opioid-Mittel und ähnlich wirkende Ersatzdrogen, die die Gesundheit zugrunde richten und als Überdosis tödlich sind.

"Die Pharmaunternehmen tragen viel Verantwortung, sie haben die Opioide in den Markt gepuscht."
Michael McMahon, Bezirksstaatsanwalt in den USA

Mittlerweile gilt dieser massenhafte Missbrauch als größte Gesundheitskrise in den USA. Die durch die Schmerzmedikamente in Gang gesetzte Drogensucht ist nicht auf soziale Brennpunkte beschränkt, sondern geht quer durch alle Schichten der Bevölkerung, in Großstädten ebenso wie in ländlichen Gebieten. So viele Menschen sterben daran, dass US-Medien einen Vergleich zu Terroranschlägen zogen: Beim Attentat am 11.9.2001, das die Türme des World Trade Centers in New York zum Einsturz brachte und die Welt erschütterte, kamen 3.000 Menschen ums Leben, jetzt sterben 20 mal so viele Amerikaner jedes Jahr durch die Drogenkrise.

Der Beginn der Epidemie liegt zwei Jahrzehnte zurück. Kurz vor der Jahrtausendwende brachte das Unternehmen Purdue Pharma ein Schmerzmittel mit dem Namen Oxycontin auf den Markt. Es wurde aggressiv vermarktet und entwickelte sich schnell zu einem der bekanntesten und umsatzstärksten Arzneimittel gegen Schmerzen.

Angeblich harmlos

Der Hersteller bewarb die Pillen laut Medienberichten als effizientes Mittel auch für moderate Beschwerden, angeblich "ideal für eine große Bandbreite von Schmerzen". Eine Untersuchung des US-Kongresses deckte auf, wie aktiv das Unternehmen vorging: Pharmavertreter drängten den Ärzten das Mittel auf und verteilten kostenlose Gutscheine für Oxycontin-Packungen. Der Konzern zahlte für Ärztetagungen und vergab Werbeaufträge an viele Medien. Oxycontin wurde ein Bestseller, immer mehr Patienten nahmen das angeblich harmlose Mittel für die verschiedensten Beschwerden. Auf dem Höhepunkt der Opioid-Schwemme wurden zehn Milliarden Tabletten pro Jahr in den USA auf den Markt gebracht.

Mittlerweile zieht die Justiz die Firma Purdue - und andere Opioid-Hersteller - zur Verantwortung für die rücksichtslose Vermarktung von Oxycontin und vergleichbaren Schmerzmitteln, die süchtig machen. Purdue und die schwerreiche Eigentümerfamilie Sackler steht vor Straf- und Vergleichszahlungen in Höhe von mehreren Milliarden US-Dollar. Der Konzern hat inzwischen die formelle Insolvenz beantragt. Auch andere Pharmafirmen wie Johnson & Johnson wurden zu hohen Geldstrafen verurteilt oder haben millionenschwere Vergleiche vor den Gerichten geschlossen, um Verurteilungen zu entgehen. Zahlreiche weitere Gerichtsverfahren sind noch offen. Als Kläger und Opfer der Drogenkrise treten nicht nur Patienten auf, deren Gesundheit ruiniert ist, sondern auch amerikanische Gemeindeverwaltungen, denen die Sozialleistungen für Drogenkranke zur Last fallen. Es gibt Schätzungen, dass der volkswirtschaftliche Schaden 500 Milliarden Dollar beträgt.

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Wie wirken Schmerzmittel?

Opioide sind Medikamente, die ähnlich wie Opium und Morphium Schmerzen unterdrücken. Sie greifen in die Hirnchemie ein und verhindern die Schmerzwahrnehmung. Sie gelten als starke Betäubungsmittel mit zum Teil schweren Nebenwirkungen und Suchtrisiko. Durch Überdosierungen kommt es zu Todesfällen, da die Opioide das Atemzentrum lähmen können. Leichtere Schmerzmittel wie Ibuprofen unterdrücken die Schmerzsignale im Körper und wirken gleichzeitig entzündungshemmend. Bei langem Gebrauch und Überdosierung können Leberschäden (etwa durch Paracetamol) oder Magenprobleme (Aspirin) auftreten.
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Dass so viele Schmerzmittelpatienten süchtig wurden, hängt mit der chemischen Wirkung der Opioide zusammen. Der Wirkstoff ist mit dem Heroin verwandt und dockt im Körper an den gleichen Rezeptoren an wie Heroin und Fentanyl. Viele Patienten, die sich ihren zunehmenden Suchtbedarf nicht mehr auf legalem Weg organisieren konnten, besorgten sich die Pillen auf dem Schwarzmarkt oder nahmen Heroin, das bei Drogendealern sogar billiger erhältlich war als Opioid-Tabletten. Nach einer Schätzung der amerikanischen Behörde für Suchtkontrolle hat bei 80 Prozent der Heroinkonsumenten in den USA die Sucht mit Schmerzmitteln begonnen. Mittlerweile sind Mediziner sehr viel zurückhaltender mit Verordnungen für Opioide, doch ein Ende der Epidemie ist noch lange nicht in Sicht.

Dem internationalen Rauschgifthandel gab die Opioid-Epidemie in den USA zusätzlichen Auftrieb, weil die Nachfrage nach Heroin und chemischen Suchtmitteln wie Fentanyl stieg. Vor wenigen Monaten zerschlugen Drogenfahnder in den USA einen weit verzweigten Opioid- und Drogenhändlerring. Sie stellten eine Menge an Opioiden sicher, die nach Angaben des US-Justizministeriums genügt hätte, um mehr als 14 Millionen Menschen den Tod zu bringen. Die Vereinten Nationen sind besorgt darüber, dass diese Entwicklung auch in anderen Ländern um sich greift. Die UN-Organisation für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) berichtet von einem Anstieg des Opioid-Missbrauchs besonders in Afrika und Indien.

Gewöhnungsgefahr

Auch in europäischen Ländern könnte eine Opioid-Krise entstehen. Laut einem OECD-Bericht sind die Todesfälle durch Opioide in Skandinavien und Großbritannien deutlich gestiegen, in Deutschland noch nicht. Aber auch in Deutschland wird die Zahl der Abhängigen auf über 160.000 geschätzt. Das teilte das Bundesgesundheitsministerium kürzlich auf eine Anfrage im Bundestag mit. Gesundheitsexperten warnen in diesem Zusammenhang vor einer ausufernden Suchtgefahr. 420 Millionen Tagesdosen an Opioid-Schmerzmitteln wurden im vergangenen Jahr nach Angaben des bundesweiten Arzneiverordnungsreports trotz der bekannten Suchtwirkung von Ärzten verschrieben.

Dass Schwerkranke diese starken Schmerzmittel benötigen, gilt als unumstritten. Doch bei leichteren Beschwerden und alltäglichen Schmerzen sollten Opioide tabu sein. Allzu leicht, meinen Drogenforscher, können Patienten sich an die Schmerzstiller gewöhnen und nach steigenden Dosierungen verlangen. Das gilt auch für nicht verschreibungspflichtige Schmerzmittel, die in Apotheken frei verkäuflich sind. Laut einer neuen Studie des Instituts für Therapieforschung in München sind in Deutschland mehr als eineinhalb Millionen Erwachsene nach den Maßstäben der Suchtforscher abhängig von Schmerzmitteln. Es sei viel zu wenig bekannt, meint die Deutsche Gesellschaft für Schmerzmedizin, dass auch die frei verkäuflichen Schmerzmittel zur Sucht führen und Folgeerkrankungen auslösen können.

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Quelle:
Securvital 1/2020 - Januar - März, Seite 32 - 34
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen
Herausgeber: SECURVITA GmbH - Gesellschaft zur Entwicklung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Januar 2020

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