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ARTIKEL/1490: Hauptstadtkongress - "Informationsbroker" in der Radiologie (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 7-8/2018

Hauptstadtkongress
Info-Broker in der Radiologie

von Horst Kreussler


Digitalisierung war auch auf dem Hauptstadtkongress das vorherrschende Thema. Stimmung zwischen Euphorie und Pragmatismus.


Gibt es in zehn Jahren noch Radiologen oder werden die Bilder von Robotern befundet? Diese Frage wurde im Pressegespräch beim diesjährigen Hauptstadtkongress in Berlin gestellt. Die Digitalisierung des Gesundheitswesens war, wie derzeit auf fast jeder Fachtagung, das beherrschende Thema. In der Eröffnungssitzung erhielt der Siemens-Vorstandsvorsitzende Dr. Bernd Montag die Gelegenheit, eine Zukunftsvision aus Sicht der Industrie vorzutragen. Die Digitalisierung werde die medizinischen Berufe rasch verändern: Radiologen würden zu "Informationsbrokern", Laborärzte aus dem Labor verschwinden, und auch die anderen Fachärzte müssten sich umstellen.

In einer Podiumsdiskussion meinten Prof. Erwin Böttinger (Universität Potsdam) und Dr. Martin Hirsch (Ada Health, Berlin, Enkel des Nobelpreisträgers Werner Heisenberg), die derzeit weltweit stark erforschte Künstliche Intelligenz (KI) werde Ärzten helfen: "Welcher Arzt kann sich 7.000 Krankheiten merken?" Vor allem bei der Diagnostik seltener Krankheiten, bei der genetischen Prävention oder bei der telemedizinischen Kommunikation mit peripheren Gesundheitszentren weltweit könnten Algorithmen aus der KI hilfreich sein. An Einwänden, "doch auf dem Teppich zu bleiben", mangelte es andererseits nicht, etwa an Hinweisen auf die großen Schwierigkeiten selbst bei der relativ einfachen Gesundheitskarte (versus elektronische Patientenakte), d. h. auf zugrundeliegende Interessenkonflikte.

Besonders deutlich kamen Für und Wider der Digitalisierung in der Medizin in einem Workshop im Hauptstadtforum Gesundheitspolitik zum Ausdruck: "Mehr Zeit für Menschlichkeit zwischen Gesundheits-App und Pflegeroboter: Wirkungen und Nebenwirkungen der Digitalisierung im Krankenhaus". "Spiegel"-Journalist Thomas Schulz berichtete in einem Input-Vortrag über seine jahrelangen Erfahrungen im Silicon-Valley-Netzwerk um San Francisco. Dort gebe es die weltweit größte Ansammlung von interdisziplinärem Wissen bei sehr starker Vernetzung (trotz Konkurrenz) und seit etwa zwei Jahren eine enorm hohe Kapitalausstattung durch die Web-Konzerne Google, Apple, Microsoft, Facebook und Co. Und: Forschungsfeld Nr. 1 für unzählige Start-ups sei jetzt Biologie, Gesundheit, Medizin. Schulz' zentrale These, die er in seinem soeben erschienenen Buch "Zukunftsmedizin - Wie das Silicon Valley Krankheiten besiegen und unser Leben verlängern will" erläutert, lautet: Das Zeitalter der digitalen Medizin beginnt jetzt - Maschinen-Medizin mit KI verändert das Gesundheitssystem.

Big Data und die Auswertung mit KI erstreckten sich auf die Zelltherapie (z. B. Kampf gegen Alzheimer), auf die Gentherapie (Entfernung defekter DNA), auf den Organersatz ("Leber aus dem 3D-Drucker", "Modem fürs Gehirn"), auf die Immuntherapie zur Prävention und mit dem Ziel der Lebensverlängerung und vor allem auf den Kampf gegen Krebs mit Genomanalysen und personalisierter Medizin. Allerdings räumte Schulz ein: "Der Weg in die personalisierte Digitalmedizin scheint alles andere als vorgezeichnet: Es müssen grundsätzliche Debatten geführt werden über Kosten, Zugang, Datenschutz und Ethik." Wenn es demnächst möglich sein sollte, dass Patienten per App einen drohenden Herzschaden frühzeitig erkennen, oder wenn ihnen versprochen wird, ihr Leben auf 120 oder 150 Jahre zu verlängern ("klingt nach Science Fiction") - wie damit umgehen? "Wie kann der Arzt das alles dem fragenden Patienten erklären?"

Kein Wunder, dass die Podiumsdiskutanten aus Ärzteschaft, Krankenhausleitungen und Industrie diesem euphorischen Szenario eher pragmatisch gegenübertraten. "Wir brauchen eine Digitalisierung, die wirklich hilft", sagte der Berliner Kammerpräsident Dr. Günther Jonitz. Großartige Versprechen müssten genau wie sonst solide belegt werden. Bloße Datenkorrelationen seien noch längst keine Kausalzusammenhänge und der Mensch sei nun mal mehr als die Summe seiner Daten oder Krankheiten. Selbst wenn Roboter im Modellversuch sehr viel schneller und treffsicherer Hautkrebs oder Herzrhythmusstörungen identifiziert hätten als Fachärztegruppen, bestehe doch die Gefahr vieler "Fehlalarme". Eine neue Technik in der Medizin solle immer dem patientenorientierten Arzt und die Helfer im Krankenhaus unterstützen und letztlich zu einer humaneren Medizin beitragen.

Ähnlich argumentierte Dr. Rainer Norden, Chef des Evangelischen Klinikums Bethel: Digitalisierung sei auf dem Weg, müsse aber unbedingt ethisch kontrolliert werden. Er sieht in den Kliniken immer mehr technische Optimierungsprozesse mit den Zielen Kostensenkung und Gewinnsteigerung, allerdings mit ungeahntem neuem Verwaltungsaufwand. "Und in diese Prozesse sollen schließlich die Patienten reingepresst werden?"

In der zum Kongresstermin publizierten Ausgabe der Fachzeitschrift "ChrisCare" mit dem Titelthema "Digitalisierung im Gesundheitswesen" bringt Prof. Timo Ulrich (Akkon-Hochschule, Berlin) die Ambivalenz auf den Punkt: Fortschritte ja ("Digitalisierung verändert die Medizin"), aber ist die datenbasierte Computer-Medizin wirklich "Allheilmittel/Revolution/Quantensprung"? Er zitiert den Pionier der evidenzbasierten Medizin in Deutschland, Prof. Gerd Antes (Cochrane-Stiftung), der eine Nutzen-Risiko-Kosten-Analyse von "Big Data" fordert und sagt: "Es ist bisher kein erkennbarer Nutzen durch Big Data für den Patienten oder das Gesundheitswesen allgemein messbar."

Ähnlich kürzlich auch das Hamburg Center for Health Economics. Das heißt konkret im Arzt-Patienten-Verhältnis: Totale Digitalisierung konkurriert mit Zeit und Aufmerksamkeit bei der Patientenfürsorge: "Ohne bewusstes Gegensteuern wird die digitale Patientenakte mehr Aufmerksamkeit erhalten als der Patient selbst." (Dr. Georg Schiffner, Geriater und Chefarzt in Hamburg-Wilhelmsburg).

Am Ende des Kongresses war auch die Zukunft der Selbstverwaltung ein besonderes Thema. Im Vorwege zu einer in Berlin angekündigten Tagung der Stiftung Marktwirtschaft drängte sich dem Beobachter die Frage auf, ob die ärztliche Selbstverwaltung auch die Gefahr einer sie - durch Arbeitnehmer- und Verbraucherschutz - einengenden digitalen Staatswirtschaft sieht und entsprechend agiert.


8.400

Teilnehmer kamen in diesem Jahr zum Hauptstadtkongress. Nach Angaben der Veranstalter war dies auf der größten deutschen Branchenkonferenz Rekord. Leitthema war "Digitalisierung und vernetzte Gesundheit."


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 7-8/2018 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2018/201807/h18074a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
70. Jahrgang, Juli-August 2018, Seite 28
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der Kassenärztlichen Vereinigung
Schleswig-Holstein
Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. August 2018

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