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ARTIKEL/1261: Chance oder Bedrohung: Die personalisierte Medizin (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 3/2012

Individualisierte Medizin

Chance oder Bedrohung: Die personalisierte Medizin


Zwei Veranstaltungen in Hamburg thematisierten die Problematik einer personalisierten Medizin. Horst Kreussler hat sie besucht.

Im Arbeitskreis Interdisziplinäres Ethik-Seminar im UKE beschrieben Prof. Thomas Eschenhagen (UKE) und Gesundheitsökonom Hardy Müller (WINEG, Wissenschaftliches Institut der TK für Nutzen und Effizienz im Gesundheitswesen) neben dem aktuellen Stand der Dinge vor allem auch Perspektiven und Risiken. Fazit: Das Konzept einer personalisierten Medizin, wie es zumal von der Industrie forciert wird und wie es sich zurzeit abschätzen lässt, erscheint zum einen vielfältig riskant, zum anderen aber bei sorgsamer Realisierung auch als eine Chance für die bessere medizinische Versorgung von Patienten.

Eschenhagen, Direktor des Instituts für Experimentelle Pharmakologie und Toxikologie des UKE, zeigte dass Spielarten einer individuellen Medizin schon lange existieren, wie die zielgerichtete Antibiose nach mikrobiologischer Bestimmung des jeweiligen Erregertyps beim Patienten. Ebenfalls sei es seit einiger Zeit möglich, die Standardtherapie chronischer Patienten nach evtl. vorliegenden Genvarianten zu modifizieren, die für die Arzneimitteltherapie relevant sind. Zum Beispiel wirken bei Herzpatienten Statine oder Betablocker sehr unterschiedlich - oder auch Marcumar, das je nach (In-)aktivität eines bestimmten Leberenzyms in bis zur fünffachen Normaldosis benötigt wird.

Weiterhin seien jedoch spezifische Therapien für Patienten von Subgruppen möglich, die für die Masse der übrigen Patienten nicht wirksam seien, so z. B. Medikamente bei Angehörigen bestimmter Gruppen wie Afroamerikaner, der kaukasischen Gruppe oder Menschen aus dem Mittelmeerraum im Unterschied zu Mittel- oder Nordeuropäern.

Der Referent zeigte sich in der Frage "Risiko oder Chance" ausgewogen: Zum einen hätte seiner Ansicht nach ein Arzt normalerweise gern genetische Informationen von seinen Patienten, d. h. nur die für die Medikation wichtigen ca. 50 Genetischen Marker sollten nicht als außergewöhnlich gegenüber anderen Tests hervorgehoben werden - in Zukunft würden sie in einer Reihe mit anderen Laborparametern stehen. Andererseits könne man fragen, wozu überhaupt Pharmakogenetik, wenn vielfach noch nicht einmal das für die Arzneimitteldosierung relevante Körpergewicht beachtet werde.

Auch der Kassenvertreter gab sich vorsichtig zurückhaltend, aber auch - mit der Forderung nach Klärung offener Fragen - bereit zu neuen Wegen. Hardy Müller, zugleich Geschäftsführer des Aktionsbündnisses Patientensicherheit, kritisierte zunächst Begriffsverwirrungen und Etikettenschwindel bei diversen gutklingenden Bezeichnungen für personalisierte Medizin, wie etwa Stratifizierende Therapie, Neue Medizin, Medizin der Zukunft, InMed (zur Information) oder natürlich auch hier "Paradigmenwechsel". Die Flut an Publikationen zum Thema (siehe Google; z. B. DÄ-Titelgeschichte "Fortschritt oder falsches Versprechen?" H. 37/2011), aber auch die zunehmende Zahl von Veranstaltungen fördere einen Hype, der aus heutiger Sicht nicht zu rechtfertigen sei. Für ihn stellten sich eine Reihe offener Fragen: Wie können Patienten über geplante genetische Tests und ihre Ergebnisse informiert werden, sodass sie die komplexe Materie mit ihren genetischen Wechselwirkungen einschätzen können? Wird Evidence Based Medicine durch personalisierte Medizin abgelöst? Bedroht die Kostensteigerung durch teure und unsichere Gentests und Therapien das solidarische Gesundheitssystem? Hierzu ein Beispiel: Neue Krebsmittel ohne belegte Lebensverlängerung mit Jahrestherapiekosten von über 100.000 Euro - wenn schon jetzt das Geld nicht reicht?

Hype um die personalisierte Medizin ist aus heutiger Sicht nicht zu rechtfertigen: Hardy Müller (WINEG)

Resümee des Initiators der Seminarreihe, Prof. em. Winfried Kahlke: Er befürchtet aus medizinethischer Sicht, dass viele Patienten von personalisierter Medizin nicht profitieren, jedoch noch mehr ärztliche Zuwendung verlieren könnten - also noch mehr technisch-statistische Medizin, weniger menschliche Medizin?

Zuvor hatte ein vergleichbares Expertenduo, Prof. Heyo K. Kroemer (Leiter der Pharmakologie der Universität Greifswald) und Dr. Frank Verheyen (Direktor WINEG der TK) mit ähnlicher Akzentuierung die Problematik diskutiert - im Rahmen des vom BMBF geförderten Wissenschaftsjahrs 2011 in der Akademie der Wissenschaften in Hamburg. Kroemer, in wichtigen Gremien auf Bundesebene (Fakultätentag, BÄK) maßgeblich vertreten, forderte für eine individualisierte Medizin vier Voraussetzungen: eine genaue Kenntnis des Gesundheitszustandes der Normalbevölkerung (guter Ansatz: "SHIP"-Projekt im Rahmen der Community Medicine für Vorpommern), eine sinnvolle Einteilung in Kohorten, gute Analyseverfahren und in den Kliniken wirklich gute biologische und medizininformatische Kenntnisse. Hierbei habe ein weiteres Forschungsprojekt von Land und BMBF "GaniMed" (Greifswald Approach to Individual Medicine) vielversprechende Ansätze gebracht: "Die kleinste Universitätsmedizin Deutschlands (aber 555 Jahre alt) muss sich nicht verstecken!" In der Praxis zeigen sich laut Kroemer schon ethische Probleme, etwa dieses: Wenn nach statistisch gesicherten Erkenntnissen ein bestimmtes Drittel der Patienten mit hoher Wahrscheinlichkeit auf das ggf. einzige Medikament nicht ansprechen wird, ist es zu rechtfertigen, dieses Drittel nicht damit zu behandeln und in Kauf zu nehmen, dass dabei auch einige Patienten ausgeschlossen werden, die dennoch profitiert hätten?

In der Herz-Kreislauf-Forschung z. B. werde mit anderen Zentren wie Lübeck (Prof. Schunkert) kooperiert. "Aber wir werden erst in etwa fünf Jahren wissen, ob es besser und effizienter geht. Wir müssen es aber trotz ethischer Zweifel probieren, der Druck des demographischen Problems lässt uns keine Wahl."

Genau diese Fragen stellte auch Verheyen, allerdings kritischer: Zunächst müsse geklärt werden, ob personalisierte Medizin einen Zusatznutzen gegenüber der etablierten Medizin bringe, dann könnten die Kosten betrachtet und ethische Fragen geprüft werden. Dies sei in der Praxis nicht einfach, weil sich das Vergleichsstandardpräparat im Laufe des längeren Untersuchungszeitraums (z. B. acht Jahre) mehrmals ändern könne. Und technisch müssten riesige Datenmengen ausgewertet werden.

Ob langfristig Einsparungen realisiert werden könnten, sei offen. Es gebe zu denken, dass die Industrie weg von der Blockbuster-Strategie bei Volkskrankheiten jetzt in Nischenbereiche investiere ("niche-buster") und hier Preismaximierung anstrebe, um bei kleinen Packungszahlen auf entsprechend große Gesamtumsätze zu kommen.

Am Ende blieb eine Wegweisung des Moderators Prof. Ansgar Lohse (1. Med. Klinik UKE) im Ohr: "Individualisierte Medizin könnte da sinnvoll sein, wo wir keine gute Therapie für alle haben."



Wunsch und Wirklichkeit

"Die (nach jeweiligem Genprofil) individualisierte Therapie ... bei Krebs, M. Alzheimer und anderen schweren Krankheiten war eines der Hauptargumente, um für die Entschlüsselung des menschlichen Genoms ... über drei Milliarden US-Dollar bereitzustellen ... bislang sind allerdings nur überschaubare 14 Wirkstoffe (oder zehn Wirkstoffgruppen) dafür in Deutschland zugelassen."

Dr. Gerhard Schillinger, Leiter des Stabsbereichs Medizin im AOK-Bundesverband, in: Gesundheit und Gesellschaft H. 11/2011, S. 23.

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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 3/2012 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2012/201203/h12034a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt März 2012
65. Jahrgang, Seite 68 - 69
Herausgeber: Ärztekammer Schleswig-Holstein
V.i.S.d.P.: Dr. Franz Bartmann
Bismarckallee 8-12, 23795 Bad Segeberg
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Mai 2012

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