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ARTIKEL/1383: Gesundheitspolitik neu denken - Von Österreich nach Europa und retour (idw)


European Health Forum Gastein - 17.04.2015

Gesundheitspolitik neu denken - Von Österreich nach Europa und retour


Wie können europäische Gesundheitssysteme nachhaltiger gestaltet werden? Wie sieht eine sinnvolle Aufteilung der Gesundheitskompetenzen zwischen der EU und den Mitgliedsländern aus? Wie hängen Gesundheit und Wohlstand einer Gesellschaft zusammen? Und wer macht heute überhaupt Gesundheitspolitik? Darüber diskutierte eine international besetzte Expertenrunde im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltung des EHFG (European Health Forum Gastein) und FOPI (Forum der forschenden pharmazeutischen Industrie in Österreich), die am 09.04.2015 unter dem Motto "Gesundheitspolitik neu denken - Von Österreich nach Europa und retour" in der Aula der Wissenschaften in Wien stattfand.

Die Wirtschafts- und Finanzkrise 2008 führte in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union zu Kostendämpfungen und Ausgabenkürzungen - auch im Gesundheitsbereich. Mit dem 2010 verabschiedeten Wirtschaftsprogramm "Europa 2020" will die Europäische Union die Krise überwinden und Grundlagen für eine wettbewerbsfähigere Wirtschaft mit mehr Beschäftigungsmöglichkeiten legen. Ziel von "Europa 2020" ist die Schaffung von intelligentem, nachhaltigem und integrativem Wachstum. Alle EU-Länder haben sich zur Verwirklichung der "Europa 2020"-Ziele verpflichtet. Jedes Jahr nimmt die Kommission eine eingehende Analyse der haushaltspolitischen, makroökonomischen und strukturellen Reformpläne der EU-Länder vor und gibt Empfehlungen für die nächsten zwölf bis 18 Monate.

EU-Public Health Expertin Dr. Natasha Azzopardi-Muscat: Gesundheitskompetenzen wandern nach Europa

"Als Österreich vor 20 Jahren Mitglied der Europäischen Union wurde, war eine EU-weite Gesundheitspolitik nur formal im Maastricht Vertrag von 1992 verankert. Seither nimmt der Einfluss der EU auf die Gesundheitspolitik und Gesundheitssysteme ihrer Mitgliedstaaten stetig zu", fasst Dr. Natasha Azzopardi-Muscat, designierte Präsidentin der European Public Health Association (EUPHA), die derzeitige Entwicklung zusammen. Die Gründung der Europäischen Arzneimittelagentur EMA und des Europäischen Zentrums für Prävention und Kontrolle von Krankheiten ECDC sowie EU-weit gültige Richtlinien, wie etwa für den Umgang mit Blut, Gewebe und Organen, machen die zunehmende Zentralisierung der Gesundheitskompetenzen deutlich. Seit der Finanz- und Wirtschaftskrise trifft der Einfluss der EU auch direkt die Gesundheitssysteme ihrer Mitgliedstaaten. Seit 2011 gibt die Europäische Kommission im Rahmen des Europäischen Semesters als Teil des "Europa 2020"-Strategieprogramms auch länderspezifische Empfehlungen, die Gesundheitssysteme betreffend, und evaluiert regelmäßig deren Umsetzung.

"Alle Beteiligten in den Gesundheitswesen der Mitgliedstaaten sollten aufmerksam die Entwicklungen auf EU-Ebene verfolgen und sich aktiv bei der Gestaltung der europäischen Gesundheitspolitik einbringen", rät die Gesundheitsexpertin. "Nur so kann sichergestellt werden, dass die Europäisierung der Gesundheitssysteme nicht einseitig von oben nach unten verordnet wird, sondern in einem Dialog entsteht."

FOPI-Präsident Mag. Ingo Raimon: Eine nachhaltige Gesundheitspolitik muss pharmazeutische Forschung und Entwicklung forcieren

Einen Dialog wünscht sich auch FOPI-Präsident Mag. Ingo Raimon: "Das österreichische Gesundheitswesen steht vor großen Herausforderungen. Wir müssen in die Gesundheit der Menschen investieren. Dafür braucht es einen stabilen, nachhaltigen und weitsichtigen finanziellen Rahmen. Eine verstärkte Koordination der einzelnen Kostenträger und -bereiche sowie eine umfassende Sicht auf den Nutzen von Arzneimitteln können dazu führen, dass die vorhandenen Mittel besser eingesetzt werden. Somit wäre es dann auch möglich, ausreichend finanzielle Mittel für pharmazeutische Forschung und Entwicklung im Sinne der Patienten zu verwenden." Denn Fakt ist: Einerseits werden die Menschen immer älter, andererseits leiden die Österreicher bis zu 25 Jahre ihres Lebens an chronischen Erkrankungen. Anstrengungen für eine bessere Koordination der Mittel kämen daher künftigen Generationen zugute. Immerhin könnten innovative Arzneimittel direkt zur Genesung beitragen und damit etwa Kosten für Langzeitpflege reduzieren, ist Raimon überzeugt.

Senior Health Policy Analyst Dr. Matthias Wismar: Gesunde Gesellschaften sind produktiver und wohlhabender

"Gesunde Gesellschaften sind produktivere Gesellschaften. Die Gesundheit der Menschen erhöht den Wohlstand einer Gesellschaft und entlastet ihr Sozialsystem", hält Dr. Matthias Wismar, Senior Health Policy Analyst, European Observatory on Health Systems & Policies, WHO, fest und schließt an die Überlegungen von FOPI Präsident Raimon an. Gesundheit und Krankheit werden jedoch wesentlich von Faktoren beeinflusst, die außerhalb der Zuständigkeit der Einrichtungen der Gesundheitsversorgung liegen: Lebensstile, soziale Netzwerke, Lebens-und Arbeitsbedingungen und allgemeine sozio-ökonomische, kulturelle und Umweltbedingungen. "Einige dieser Faktoren, die auch 'Gesundheitsdeterminanten' genannt werden, können durch Politik verändert werden. Damit dies eine positive Veränderung im Sinne einer besseren Bevölkerungsgesundheit bewirkt, soll Gesundheit in allen Politikfeldern mitgedacht werden", fordert Wismar. "Das Prinzip 'Health in All Policies' gilt zum Beispiel für die Politikfelder Bildung, Steuern, Umwelt, Entwicklung oder Verkehr."

EHFG-Präsident Prof. Helmut Brand: Öffentliche Gesundheit als Teil internationaler Politik braucht breiten internationalen Austausch

"Das European Health Forum Gastein kann als führender gesundheitspolitischer Kongress in der EU die Weichen für eine intelligente und nachhaltige, nationale und europäische Gesundheitspolitik stellen, weil wir all jene Personengruppen vernetzen, die diese Politik direkt oder indirekt gestalten und beeinflussen", erklärt EHFG-Präsident Prof. Helmut Brand. Nur der Austausch von Erfahrungen und Meinungen ermögliche es, voneinander zu lernen, Tendenzen frühzeitig zu erkennen und Potenziale für Synergien zu identifizieren, ist Brand überzeugt. "Dieser Austausch findet über Länder- und Branchengrenzen hinweg statt. Unter unseren Teilnehmern sind Vertreter aus Politik, Verwaltung, Industrie, Forschung und Zivilgesellschaft. Wir decken das gesamte Spektrum ab: vom EU-politischen Entscheidungsträger über nationale Versicherungsträger bis hin zu Patientenorganisationen." Erst diese Zusammensetzung ermögliche es, der Vielschichtigkeit gesundheitspolitischer Fragen gerecht zu werden und eine Basis zu schaffen, die in unterschiedlichsten Kontexten Ausgangspunkt für die Entscheidungsfindung sein könne.

Dr. Josef Probst, Generaldirektor des Hauptverbands: Patientenzentrierte Gesundheitsversorgung für gesundheitskompetente Menschen

Auch Dr. Josef Probst, Generaldirektor im Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger sieht Potenziale: "In Österreich haben wir die Situation, dass die Menschen zwar länger leben, aber rund 25 Jahre mit maßgeblicher gesundheitlicher Beeinträchtigung. Dass das nicht so sein muss, zeigt ein Blick auf Skandinavien. Wir haben Handlungsbedarf bei der Behandlung von chronischen Krankheiten. Probst betont dabei die Potenziale von Prävention, Gesundheitsförderung und patientenzentrierter Gesundheitsversorgung. "Wir sollten uns in Richtung einer emanzipierten Gesellschaft mit gesundheitskompetenten Menschen entwickeln. Ziel ist es, die Patienten unter Einbeziehung ihrer individuellen gesundheitlichen Bedürfnisse zu befähigen, aktiv an ihrer Behandlung mitzuwirken. Sie sollen Entscheidungen gemeinsam mit dem behandelnden Arzt treffen", erklärt Dr. Probst. Ein Schritt in die richtige Richtung sei das Konzept der neuen Primärversorgungszentren und -netzwerke in der Gesundheitsreform. "Darüber hinaus müssen wir unsere Lebenswelten im Sinne der WHO weiterentwickeln: Für die Menschen sollen gesunde Entscheidungen im täglichen Leben leicht gemacht werden", fügt Probst abschließend hinzu. Schulterschluss zwischen allen Akteuren des Gesundheitswesens

Um ein "intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum" zu generieren - wie bei "Europa 2020" vorgesehen - benötigen wir einen breit angelegten Schulterschluss zwischen sämtlichen Akteuren des Gesundheitswesens - von der Politik zu medizinischen Einrichtungen bis zu Selbsthilfegruppen und Sozialeinrichtungen, von der Pharmaindustrie zu Leistungsempfängern bis zu jenen, die diese finanzieren. Hier verstehen sich EHFG und FOPI einmal mehr als Dialogpartner, die Entscheider zusammenbringen, um konstruktiv Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten.


Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung stehen unter:
http://idw-online.de/de/institution1762

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
European Health Forum Gastein, Lisa Bornscheuer, 17.04.2015
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. April 2015

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