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ARTIKEL/1413: Erster Versorgungsforschungstag in Hamburg - Fakten gegen Mythen (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 7-8/2015

Fakten gegen Mythen
Erster Versorgungsforschungstag in Hamburg. Auswirkungen auf Nachbarn.

Von Dirk Schnack


Die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) sitzen auf einem Berg von Daten, durften oder konnten sie bislang aber kaum nutzen. Folge: Die Körperschaften nahmen zwar Entwicklungen wahr und wurden von ihren Mitgliedern auf Beobachtungen hingewiesen, mit Fakten unterlegen konnten sie dies aber nicht immer. So weiß man zwar, dass sich viele Patienten aus den angrenzenden Bundesländern Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen in Hamburger Praxen und Kliniken behandeln lassen, der tatsächliche Anteil wurde bislang aber stets nur geschätzt.

Aus solcher Intransparenz entstehen nicht selten Mythen, mit denen die KV Hamburg auf ihrem ersten Versorgungsforschungstag aufräumen wollte. Zum Beispiel mit der These von der Überversorgung im Ballungsraum oder mit der weit verbreiteten Meinung, dass viele stationär erbrachte Leistungen auch ambulant vorgenommen werden könnten, oder mit der Annahme, Kliniken und Praxen konkurrierten im hart umkämpften Hamburger "Markt" um Patienten. Ziel des mit 150 Gästen gut besuchten Versorgungsforschungstages war es laut KV-Vize und Gastgeber Dr. Stephan Hofmeister, das Thema Ambulantisierung zu "entemotionalisieren", sprich mit Fakten zu untermauern.

Zur angeblichen Überversorgung stellte die KV klar: Zwar verfügt die Hansestadt nachweislich über ein überdurchschnittlich gutes Versorgungsangebot, doch nach Daten des Zentralinstituts für die Kassenärztliche Versorgung (ZI) versorgen Hamburger Praxen und Krankenhäuser Patienten, die fast zu einem Drittel aus den umliegenden Bundesländern kommen. Um diese Patienten bereinigt, liegen die stationären Kapazitäten je Einwohner sogar noch 16 Prozent unter und die ambulanten nur fünf Prozent über dem bundesweiten Durchschnitt. ZI-Geschäftsführer Dr. Dominik Graf zu Stillfried sieht in diesem Verhältnis einen Substitutionseffekt: "Wo viel ambulant passiert, erfolgt weniger stationär." Mit anderen Worten: Hamburg hat zwar tatsächlich eine überdurchschnittlich hohe ambulante Versorgungsdichte. Das hat aber den Vorteil, dass die Kliniken weniger leichte Fälle zugewiesen bekommen und sich auf die schweren Fälle konzentrieren können. Stillfried sprach sich deshalb auf dem Versorgungsforschungstag für Investitionen in Strukturen aus - Investitionen in den ambulanten Sektor helfen nach seiner Argumentation, unnötige Einweisungen von Patienten in Krankenhäuser zu vermeiden.

Im stationären Sektor der Hansestadt ist es aus diesem Grund auch nicht zu einem Patientenabfluss gekommen. Die Kliniken erbringen vielmehr deutlich komplexere Eingriffe als die Krankenhäuser in den anderen Bundesländern. Nach Angaben von Dr. Claudia Brase, Geschäftsführerin der Hamburgischen Krankenhausgesellschaft (HKG), weisen die Kliniken in der Hansestadt die größte Fallschwere aller Kliniken im Vergleich der Bundesländer auf. Die Mehrzahl dieser Fälle könnte gar nicht in Praxen behandelt werden. Daraus folgt, dass Praxen und Kliniken auch weniger um Patienten konkurrieren. Brase betonte auch, dass Krankenhäuser um Patienten, die sich derzeit in Praxen behandeln lassen, gar nicht konkurrieren wollen, weil ihnen die Mehrleistungen nicht angemessen honoriert werden - ein Effekt, der durch den vorgelegten Entwurf für ein Krankenhausreformgesetz noch verstärkt werden könnte, wie Klinikvertreter auf dem Hamburger Krankenhaustag nur einen Tag später zu bedenken gaben.

Dennoch gibt es auch in Hamburg noch Potenzial für Verbesserungen. In erster Linie betrifft dies Patienten, die sich ohne Einweisung in die Notaufnahmen begeben. "Wenn man das Versorgungssystem in Hamburg stärken will, ist das der Ansatzpunkt", sagte von Stillfried. Möglich wäre dies aus Sicht von Prof. Leonie Sundmacher aus München durch eine Verbesserung der kontinuierlichen ambulanten Behandlung und durch eine bessere Erreichbarkeit. Das Problem dabei: Die niedergelassenen Ärzte bekommen nur 81 Prozent ihrer erbrachten Leistungen im MGV honoriert und haben wenig Interesse, noch mehr unbezahlte Leistungen zu erbringen; damit haben sie das gleiche Problem wie die Krankenhäuser. Als Lösung empfahl Prof. Jonas Schreyögg, Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen und Leiter des Hamburg Economic Health Center (HCHE), eine Angleichung der Vergütungen zwischen dem ambulanten und dem stationären Sektor. Wie schwierig das ist, zeigen die zahlreichen Bemühungen in den vergangenen Jahren um eine Schnittstelle zwischen den Sektoren.

Für andere Regionen, in denen noch deutlich mehr Leistungen ambulant erbracht werden könnten als in der Metropole Hamburg, gab es Tipps: Prof. Matthias Augustin sieht Organisation und Kooperation als Voraussetzungen, um Patienten rechtzeitig ambulant behandeln und Verschleppungen und als Folge die Einweisung schwerer Fälle vermeiden zu können. Am Beispiel seines Fachgebietes Dermatologie zeigte Augustin, dass in Regionen mit dünneren Versorgungsangeboten Patienten zum Teil deutlich später zum Facharzt kommen und schließlich stationär aufgenommen werden müssen. Solche Verläufe, gab Augustin zu bedenken, wären bei einer höheren ambulanten Facharztdichte vermeidbar.

Prof. Hendrik van den Bussche vom Hamburger Institut für Allgemeinmedizin riet ebenfalls zu einer besseren Kooperation zwischen den Ärzten sowie u. a. zu Leitlinien mit Behandlungspfaden, zu präventiven Maßnahmen wie Sturzprophylaxe und Immunisierung, zum Einsatz von Telemedizin und zu einem effektiveren Notdienst, um Klinikeinweisungen zu vermeiden.

Vielleicht liegt die Lösung aber auch in völlig neuen Modellen zwischen den Sektoren. Die KV in der Hansestadt lotet derzeit aus, ob auf Krankenkassenseite Interesse an einem Modellprojekt für ambulante Behandlung mit einer beobachtenden Betreuung über Nacht besteht. Details gab es zu diesem Modell am Versorgungsforschungstag laut KV-Chef Walter Plassmann noch nicht. Vorstellen könnte er sich ein solches Modell in der Praxisklinik Mümmelmannsberg, die ohnehin seit Jahren an der Schnittstelle der Sektoren arbeitet.


Info

30 % der in Hamburger Praxen und Kliniken behandelten Patienten kommen aus den umliegenden Bundesländern.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 7-8/2015 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2015/201507/h15074a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
68. Jahrgang, Juli/August 2015, Seite 22
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
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Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. August 2015

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