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ARTIKEL/1415: Flüchtlinge - Engagement auf allen Seiten (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 1/2016

Flüchtlinge
Engagement auf allen Seiten

Von Anne Mey


Nicht nur Probleme, auch pragmatische Lösungen und Chancen wurden bei einer Veranstaltung der Grünen zur medizinischen Versorgung von Flüchtlingen thematisiert.


Wie schaffen wir die Integration von Flüchtlingen in unser System? Unter dieser Fragestellung hatte die gesundheitspolitische Sprecherin der Landtagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, Dr. Marret Bohn, Mitte Dezember in das Landeshaus in Kiel eingeladen, um mit Fachleuten und Gästen über die medizinische Versorgung der Geflüchteten zu diskutieren.

Gesundheitskarte

Staatssekretärin Anette Langner zeigte sich im Vorfeld ihres Vortrages zur Gesundheitskarte beeindruckt von den vollen Reihen des Konferenzsaales und dem damit verbundenen Interesse am Thema. "Es hat Anfang des Jahres einen großen Flüchtlingspakt im Land gegeben. Als Resultat sind die Zielsetzungen für die Umsetzung einer Gesundheitskarte in Schleswig-Holstein formuliert worden", so Langner. Ziel sei es gewesen, den bürokratischen Aufwand zu reduzieren, eine schnelle und diskriminierungsfreie Gesundheitsversorgung für Flüchtlinge sowie eine landesweite Annäherung an den regulären Versichertenstatus zu erreichen. Zur Zielsetzung gehörte auch, die Nutzung der elektronischen Gesundheitskarte in Schleswig-Holstein unabhängig vorn konkreten Wohnort zu ermöglichen. Sie soll ab dem Zeitpunkt zur Verfügung stehen, wenn ein Wohnsitz in den Kommunen eingenommen wird. "Die Leistungsgewährung soll zwar unter Beachtung der Vorgaben des Asylbewerberleistungsgesetzes erfolgen, aber mit der Gesundheitskarte nähert sich das Leistungsangebot sehr an das an, was den GKV-Versicherten zur Verfügung steht", erläuterte Langner. Die Rahmenvereinbarung zwischen dem Gesundheitsministerium und den beteiligten Kassen im Land sieht drei Leistungsbereiche vor:

1) Leistungen im Rahmen der Notfall- und Schmerzbehandlung, die direkt von den Kassen abgerechnet werden;

2) Leistungsbereiche, die regelhaft von den Kassen im Rahmen eines Genehmigungsverfahrens zur Verfügung gestellt werden (Heil- und Hilfsmittel);

3) Leistungsbereiche, die Antragsleistungen sind (Vorsorge, Kuren, Reha-Maßnahmen, psychologische Langzeittherapien, Zahnersatz, sofern es keine Notfallbehandlung ist, Haushaltshilfen, künstliche Befruchtung, strukturierte Behandlungen bei chronischen Erkrankungen).

"In Zukunft entscheiden Ärzte über die Erforderlichkeit von Behandlungen und nicht mehr Mitarbeiter in den Sozial- und Gesundheitsämtern. Das hat in vielen Bereichen zu einer sehr unterschiedlichen Gewährung von Leistungen geführt, die natürlich unserem Anspruch, jedem Menschen die gleiche Behandlung zukommen zu lassen, widerspricht", so Langner, die sich stolz darüber zeigte, dass nahezu alle Krankenkassen in Schleswig-Holstein die Vereinbarung unterzeichnet haben und damit auch demonstrierten, dass sie darin eine gemeinsame Verantwortung sehen. Mit den Kassen wurde ein Satz von acht Prozent verhandelt, um die Verwaltungskosten zu decken. Nach zwei Quartalen sollen die Kosten dann exakt evaluiert werden, "damit nachweisbar ist, ob die Kosten tatsächlich so anfallen oder nicht". Die Verteilung der Flüchtlinge auf die Kassen erfolgt laut der Staatssekretärin in den Kreisen nach Marktanteilen der Krankenkassen. Geplant ist die Ausgabe der elektronischen Gesundheitskarte an Flüchtlinge ab dem 1. Januar 2016. Allerdings hat ein privates Unternehmen, das selbst eine Gesundheitskarte für Flüchtlinge herstellen will, Beschwerde bei der Vergabekammer eingereicht, was den Prozess der Einführung noch verschieben könnte. Dieser Sachverhalt war bis Redaktionsschluss noch nicht geklärt.

Traumabehandlung

Auf Verbesserungen durch die Gesundheitskarte hofft Krystyna Michalski vom Paritätischen Wohlfahrtsverband, die das "Projekt zur psychotherapeutischen und psychosozialen Versorgung von traumatisierten Flüchtlingen in Schleswig-Holstein" vorstellte. Laut ihrer Aussage sind 40 bis 50 Prozent der Geflüchteten traumatisiert und benötigen Unterstützung. Das Projekt will daher geeignete Hilfen vor Ort und Ansprechpartner für Behörden und Ärzte bieten. Außerdem sind psychotherapeutische Krisenintervention und psychosoziale Begleitung sowie Netzwerkarbeit Bestandteil des Konzeptes. Auch Schulungen z.B. für Ehrenamt, Landespolizei oder auch das Security-Personal in Erstaufnahmeeinrichtungen werden angeboten. "Die soziale Sicherheit ist wichtig zur Heilung, was bei ungeklärter Aufenthaltsperspektive schwierig ist", so Michalski.

Auch Dr. Ali Ekber Kaya beschäftigte sich in seinem Vortrag mit traumatisierten Flüchtlingen, sieht die Lage jedoch nicht ganz so prekär wie seine Vorrednerin: "Ein Trauma-Erlebnis heißt nicht, dass man automatisch eine traumatische Störung bekommt. Man muss auch mal die Kirche im Dorf lassen", so der Facharzt für Psychiatrie, Neurologie und Allgemeinmedizin, der von sich selbst sagt: "Ich erfülle alle Kriterien eines Flüchtlings" und damit zeigen will, dass Migration nicht immer problematisch ist. 2007 startete der Oberarzt am Psychiatrischen Krankenhaus Rickling seine muttersprachliche Institutsambulanz. 40 Personen arbeiten dort in einem multiprofessionellen Team, wovon viele der Therapeuten dreisprachig sind. "Nur ein psychisch gesunder Mensch kann sich in der Gesellschaft integrieren", so Kaya. Und dies gelinge besonders gut, wenn die Flüchtlinge in ihrer Muttersprache behandelt würden, denn "elementare Emotionen werden in der Muttersprache am besten ausgedrückt". Außerdem gebe es Dinge, die Migranten krank machen, die wir im Okzident gar nicht kennen, wie die Verletzung der Ehre oder des Ansehens. Kaya beleuchtete in seinem Vortrag auch die Unterschiede des Umganges mit Krankheit, was bei einer kultursensiblen Behandlung berücksichtigt werden müsse: Im Gegensatz zur westlichen Welt, wo ein Kranker lieber seine Ruhe haben möchte, sich zurückzieht und eher keinen Besuch empfangen möchte, würde ein solches Verhalten im Orient als Beleidigung empfunden. Dort werde man in Gemeinschaft schneller gesund. In der Spezialambulanz und auch der stationären Behandlung von Migranten in Rickling berücksichtigt Kaya all diese Aspekte bei der Therapie, die auf den Bausteinen stabilisieren, Konfrontieren und Integrieren aufbaut. Das Gefühl von Sicherheit zu geben sei dabei besonders wesentlich.

Medizinische Erstuntersuchung und Flüchtlingsambulanz

Im Gegensatz zur psychischen Gesundheit stellte PD Dr. Jan-Thorsten Gräsner, Direktor des Instituts für Rettungs- und Notfallmedizin (IRuN) am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) Kiel, fest, dass 95 Prozent der Flüchtlinge körperlich vollkommen gesund sind. Gräsners Institut unterstützte die Erstaufnahmeeinrichtungen in Rendsburg und Albersdorf. Aktuell werden von den Institutsmitarbeitern in Neumünster Erstuntersuchungen durchgeführt. "Wir haben einen Röntgencontainer vor Ort, sodass die komplette Erstuntersuchung an einem Platz absolviert werden kann", so Gräsner. Die Konzentration von Erstuntersuchung und Röntgen an einem Ort ohne große Wege und Transfer der Flüchtlinge habe sich als effektiver Weg bewährt. Das Land plane daher bereits, einen zweiten Röntgencontainer dort einzusetzen. Unter Volllast schafft es das Team laut Gräsners Aussage, 350 bis 400 Flüchtlinge am Tag zu untersuchen, wobei die Ergebnisse derzeit wegen unterschiedlicher IT-Systeme auf einem Blatt Papier festgehalten würden. Dies kommentierte sein Kollege PD Dr. Ivo Markus Heer, Ärztlicher Direktor am Friedrich-Ebert-Krankenhaus Neumünster, mit den Worten: "Ein gescheit ausgefüllter Zettel ist sehr viel mehr wert als ein nicht vorhandenes Computersystem. Daher bin ich sehr dankbar für Zettel."

Als problematisch hat sich in der Praxis die Angabe der Identifikationsnummer erwiesen, so Gräsner. Er begrüßte daher die Ankündigung eines einheitlichen Flüchtlingsausweises, dessen gesetzliche Grundlagen am Tag der Veranstaltung vom Bundeskabinett beschlossen wurden. Damit verbunden ist auch eine Datenbank, auf die verschiedene Behörden zugreifen können. Somit hätten dann auch nachbehandelnde Einrichtungen die Chance, die aufgenommenen Daten zu nutzen. Gräsner stellte auch klar, dass die Erstuntersuchungen gezeigt haben, dass Befürchtungen vor großen Infektionskrankheiten oder Ausbrüchen Richtung Varizellen o. ä. letztendlich unbegründet waren. Er sieht daher in den Untersuchungen nicht nur eine medizinische Notwendigkeit, sondern auch die Möglichkeit, Fakten und Wissen zu schaffen. Von 5.000 Flüchtlingen habe man beispielsweise gerade einmal drei Patienten wegen Tuberkulose nach Borstel geschickt. Auch diese Fakten müssen verbreitet werden, um Ängste abzubauen - eine Aufgabe, die das Gesundheitsamt wahrnimmt, wie Dr. Alexandra Barth, Leitende Amtsärztin am Gesundheitsamt Neumünster, schilderte, So gehöre viel Pressearbeit dazu, um Vorurteile wie "Flüchtlinge sind dreckig und bringen Krankheiten" abzubauen.

Der ärztliche Direktor am FEK stellte anschließend die "Einheit Integrierende Versorgung" (EIV) vor, eine Ambulanz speziell für Flüchtlinge (das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt berichtete in Heft 11/2015), in der derzeit zwei syrische Ärzte und vier Pflegekräfte und Medizinische Fachangestellte beschäftigt sind. Als schwierig erweise sich allerdings bisher die Akquise von Pflegekräften mit entsprechenden Sprachkenntnissen. Diese seien häufig nicht so gut vorbereitet wie die Ärzte, die aus den Krisengebieten flüchten, und hätten oftmals keine Papiere und Urkunden dabei, die ihre Fachkenntnisse belegen. Positiv hob Heer allerdings hervor, dass die Erteilung der vorläufigen Berufserlaubnis bei geflüchteten Ärzten mit entsprechenden Unterlagen äußerst schnell vonstattengeht; so habe er nur vier Tage darauf warten müssen. Hintergrund für die Einrichtung der Ambulanz war die hohe Frequentierung des FEK durch Flüchtlinge, für die aufgrund der Sprachbarriere im Schnitt drei bis fünf Mal mehr Zeit benötigt wird als bei deutschen Patienten. Vom ersten Krisentreffen im August bis zur Aufnahme des Teilbetriebes am 16. Oktober sind laut Heer gerade einmal knapp zwei Monate vergangen. Der Vollbetrieb soll im Januar starten. Schon jetzt sei aber eine Entlastung der allgemeinen Strukturen und der zentralen Notaufnahme durch die EIV bemerkbar.


Modell

Holger Adamek, stellvertretender Referatsleiter an der Behörde der Senatorin für Soziales, Jugend, Frauen, Integration und Sport Bremen, stellte das "Bremer Modell" vor. Seit zehn Jahren gibt es in dem Stadtstaat die Gesundheitskarte für Asylsuchende von der AOK Bremen. Das Modell, das 2012 von Hamburg und 2015 von Nordrhein-Westfalen übernommen wurde, habe sich bewährt und sei derzeit "alternativlos". Daher soll es auch mit Asylverfahrensbeschleunigungs-Gesetz in unveränderter Praxis weitergeführt werden.


PD Dr. Jan-Thorsten Gräsner, Direktor des Instituts für Rettungs- und Notfallmedizin (IRuN) am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) Kiel beschäftigte sich in seinem Vortrag mit der medizinischen Erstuntersuchung von Flüchtlingen in Schleswig-Holstein.


INFO

2 - 3 % der Patienten in der Erstaufnahmeeinrichtung in Neumünster sind laut Dr. Hilmar Keppler, leitender Arzt der zentralen Aufnahmeeinrichtung, schwerstkrank. Dazu zählen schwere onkologische Erkrankungen, suizidale und Dialyse-Patienten.

30 % der Patienten haben laut Keppler lediglich banale Erkrankungen, z.B. kleinere bei der Flucht erlittene Verletzungen.

6.000 Menschen waren im September 2015 in der Erstaufnahmeeinrichtung in Neumünster untergebracht.


Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 1/2016 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2016/201601/h16014a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt
69. Jahrgang, Januar 2016, Seite 14 - 15
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
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Redaktion: Dirk Schnack (Ltg.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Februar 2016

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