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MELDUNG/924: Während EU-Regierungen Seenotrettung blockieren, ertrinken mehr als 600 Menschen (ÄoG)


Ärzte ohne Grenzen - 12. Juli 2018

EU-Innenministertreffen:

Während EU-Regierungen Seenotrettung blockieren, ertrinken mehr als 600 Menschen


Berlin/Marseille, 12. Juli 2018. Angesichts von mehr als 600 Todesfällen im Mittelmeer in den vergangenen vier Wochen kritisieren die Hilfsorganisationen SOS Mediterranee und Ärzte ohne Grenzen die Behinderung der Seenotrettung durch europäischen Regierungen. Die EU-Innenminister treffen sich heute zu Beratungen über die Flüchtlingspolitik in Innsbruck.

"Die politischen Entscheidungen der EU-Staaten der vergangenen Wochen haben tödliche Folgen", sagt Karline Kleijer, Notfallkoordinatorin bei Ärzte ohne Grenzen. "Es war eine kaltblütige Entscheidung, Menschen, Frauen und Kinder im Mittelmeer ertrinken zu lassen. Das ist unfassbar und nicht hinnehmbar. Die europäischen Regierungen müssen selbst gezielte Such- und Rettungsaktivitäten starten, statt absichtlich lebensrettende medizinische und humanitäre Hilfe für Menschen in Seenot zu behindern."

Unter den Ertrunkenen, deren Zahl von der Internationalen Organisation für Migration erfasst wird, befinden sich auch Babys und Kleinkinder. Die Zahl von mehr als 600 Toten bedeutet, dass sich fast die Hälfte aller bisherigen Todesfälle im Jahr 2018 zu einer Zeit ereignete, als kein einziges NGO-Rettungsschiff im zentralen Mittelmeer aktiv war. Italien hat vor einem Monat das von SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen betriebene Rettungsschiff "Aquarius" daran gehindert, 630 auf See gerettete Menschen an Land gehen zu lassen.

"Die politische Entscheidung, die Häfen für die Ausschiffung Geretteter zu schließen, und das totale Chaos im zentralen Mittelmeer haben zu noch mehr Toten geführt auf dieser ohnehin lebensbedrohlichsten Fluchtroute über das Meer", sagte Sophie Beau, Vizepräsidentin von SOS Mediterranee. "Europa trägt die Verantwortung für diese Ertrunkenen. Die europäischen Regierungen müssen sofort reagieren. Sie müssen garantieren, dass das internationale Seerecht und das humanitäre Völkerrecht voll und ganz eingehalten werden. Sie verpflichten dazu, Schiffbrüchige zu retten."

Die NGO-Schiffe, die in den internationalen Gewässern zwischen Malta, Italien und Libyen im Einsatz waren, werden von Politikern beschuldigt, ein Pull-Faktor zu sein. Die jüngsten Entwicklungen im Mittelmeer zeigen jedoch, dass Menschen in ihrer Verzweiflung aus Libyen fliehen, unabhängig davon, ob Rettungsschiff vor Ort sind oder nicht.

Die europäischen Regierungen wissen umfassend über das alarmierende Ausmaß an Gewalt und Ausbeutung Bescheid, dem Flüchtlinge und Migranten in Libyen ausgesetzt sind. Trotzdem halten sie die Menschen um jeden Preis davon ab, Europa zu erreichen. Eine Schlüsselkomponente dieser Abschottungsstrategie ist es, die libysche Küstenwache auszurüsten, auszubilden und zu unterstützen. Nur dadurch ist es dieser möglich, die Menschen auf See abzufangen und nach Libyen zurückzubringen. Schiffsbesatzungen, die nicht unter libyscher Flagge fahren, würden gegen internationale Abkommen verstoßen, falls sie Menschen nach Libyen zurückbrächten. Libyen ist kein sicherer Ort. Menschen, die in internationalen Gewässern gerettet werden, dürfen nicht dorthin zurückgezwungen werden, sondern müssen in Einklang mit dem Seerecht und internationalen Abkommen in einen sicheren Hafen gebracht werden.

Die libysche Küstenwache hat seit Jahresbeginn etwa 10.000 Menschen auf dem Mittelmeer abgefangen und in Internierungslagern gefangen gesetzt, ohne Rücksicht auf die Gefahren für Leib und Leben, denen sie die Menschen dort aussetzt. Die Strategie der EU, alle Verantwortung für die Seenotrettung auf die libysche Küstenwache abzuwälzen, wird zu mehr Leid und zu weiteren Todesfällen führen.

Die Rettung von Menschenleben muss absolute Priorität haben. Skrupellose Schleuser setzen nach wie vor Menschen in seeuntüchtige Boote und bringen sie so in Lebensgefahr. Ein ausreichend ausgestattetes und funktionierendes staatliches System zur Seenotrettung im Mittelmeer ist dringend nötig. Solange es dies nicht gibt, sind private Rettungsschiffe notwendig, um Menschenleben zu retten. Der Zugang zu den nächstgelegenen sicheren Häfen, ob für die Ausschiffung Geretteter oder für das Beladen mit Nachschub, muss ihnen gewährt werden.


Weitere Informationen zu den Bedingungen in den offiziellen libyschen Internierungslagern finden Sie hier:
www.msf.de/t1

https://msf.exposure.co/human-suffering

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Quelle:
Ärzte ohne Grenzen e. V. / Medecins Sans Frontieres
Pressemitteilung vom 12. Juli 2018
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juli 2018

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