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POLITIK/1713: Neue Eckpunkte der Gesundheitsreform - mehr als eine hitzebedingte Entgleisung (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 28/29 vom 16. Juli 2010
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Mehr als eine hitzebedingte Entgleisung
Neue Eckpunkte der Gesundheitsreform

Von Hans-Peter Brenner


Fast alle sind sich in der Bewertung der neuen "Eckpunkte" für die aktuellste Variante der x-sten Gesundheitsreform einig: die Versicherten, insbesondere die Rentner, werden künftig stärker zur Kasse gebeten, um die Kosten bei der Gesetzlichen Krankenversicherung wieder ins Lot zu bringen. Kaum einer zeigt sich zufrieden mit diesem fälschlicher Weise als "Kompromiss" titulierten Eckpunkten. Bis auf einen: Gesundheitsminister Rösler (FDP).

Der äußerte mit Genugtuung: "Das zu erwartende Defizit in Höhe von elf Mrd. Euro für das Jahr 2011 wird ausgeglichen werden. Gleichzeitig werden wir den Einstieg in eine dauerhaft solide Finanzierung des Gesundheitssystems auch schaffen." Alle in der Koalition könnten "zufrieden" sein. Es bleibe aber eine Daueraufgabe, das System zu reformieren und die Ausgaben zu begrenzen.

Irgendetwas muss trotz dieser Zufriedenheitsbekundung schief gelaufen sein. Zwar überdeckten der Fußball-WM Trubel und die unerträglichen und abnormen Hitzerekorde bislang erfolgreich erstes aufkommendes Unbehagen und Unmutsäußerungen bei Sozialverbänden, und Gewerkschaften. Aber selbst die eigenen Reihen konnte der Minister mit diesem neuen "Kompromiss" nicht schließen. Die seit Bekanntwerden der Reformpläne immer lauter werdenden koalitionsinternen Dissonanzen erreichen beinahe Vuvuzela-Dimensionen.

Das konservative Springer-"Flaggschiff" Die WELT leitartikelt deshalb voll Missbehagen: "Koalition zerpflückt ihre Gesundheitsreform." Vor allem die CSU und CDU-geführten Landesregierungen stellten systematisch Details und Dauerhaftigkeit des Projekts von Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) infrage. Entgegen dem Appell von Bundeskanzlerin Merkel (CDU) bietet damit ihre Regierung zu Beginn der neunwöchigen parlamentarischen Sommerpause erneut ein zerrissenes Bild.

Besonders tut sich dabei der neue baden-württembergische Ministerpräsident Mappus hervor, ein nach eigenen Worten "bekennender Konservativer". "Wir haben keinen großen Wurf gelandet", beklagte er. Die Kosten müssten noch weiter "gedämpft" werden und es müssten "mehr Anreize zum Sparen ins System eingebaut werden.." Gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung forderte er eine deutliche Verschärfung. "Es werden unpopuläre Entscheidungen gefällt werden müssen."

Als gebe es nicht bereits mehr als genug "Unpopuläres" in diesen neuen "Eckpunkten." Sie sehen als hauptsächliche Maßnahme eine Steigerung des Beitragssatzes ab 2011 von 14,9 auf 15,5 Prozent vor. Damit liegt der Beitragssatz wie schon bis 2009 bei 15,5 Prozent. Damals wurde er dank zusätzlicher Steuerzuschüsse um 0,6 Prozent abgesenkt. Es sollte damit ein gewisser Ausgleich zu den mit dem Gesundheitsfonds eingeführten Zusatzbeiträgen der Kassen geschaffen werden, die bislang bis zu 1% des Bruttoeinkommens betragen durften.

Beim jetzigen erneuten Anstieg um 0,6 Prozent sollen angeblich Arbeit"geber" und Arbeit"nehmer" zu "gleichen Teilen" belastet werden. Dies ist eine bewusste Irreführung. Der sogenannte Arbeitgeberbeitrag wird nach der Vereinbarung anschließend bei 7,3 Prozent eingefroren, während der Anteil der versicherten auf 8,2 Prozent angehoben wird. Zusätzlich wird den Kassen die Möglichkeit gegeben, künftig einen in der Höhe nicht begrenzten Zusatzbeitrag zu erheben, wenn sie mit ihrem Geld nicht auskommen. Lediglich Versicherte, die einen Zusatzbeitrag zahlen sollen, der höher liegt als zwei Prozent ihres Monatseinkommens, sollen einen Sozialausgleich erhalten, wie dieser aussieht und wie er berechnet wird, bleibt offen. Die bisherige Obergrenze von 8 Euro ohne Einkommensprüfung entfällt.

Theoretisch könnte künftig bei einem Einkommen von 4000 Euro ein Zusatzbeitrag von bis zu 80 Euro aus eigener Tasche fällig werden. Nach Berechnungen des Bundesversicherungsamtes soll der Zusatzbeitrag bis 2014 im Mittel 16 Euro monatlich nicht übersteigen. Zwischen 2012 und 2014 werden nach Angaben Röslers für den Sozialausgleich jeweils weniger als eine Milliarde Euro aus dem Steuertopf nötig sein. Danach sei aber von einem jährlich um etwa eine Milliarde Euro steigenden Bedarf auszugehen.

Für Rentner bedeutet diese "Reform" für 2011 mehr als nur eine "Nullrunde". Sie müssen auf Betriebsrenten nun den vollen Krankenversicherungsbeitrag - inklusive des sog. Arbeitgeberanteils von künftig 7,3 % - zahlen. Die Sprecherin des Sozialverbandes VdK, Ulrike Mascher, warnte deshalb, dass die "Nullrunde für Rentner zur Minusrunde" wird.

Ähnliche Kritik kam vom Bundesgeschäftsführer der Volkssolidarität, Bernd Niederland, der von einer "Hiobsbotschaft" für die Versicherten sprach. Der Präsident des Sozialverbandes Deutschland, Adolf Bauer, kritisierte, dass mit der Aufhebung der 1 Prozent Obergrenze für die Zusatzbeiträge de facto die von Rösler beim Amtsantritt angekündigte "Kopfpauschale" näher gerückt sei. Für Besserverdienende seien damit zugleich weitere Anreize für einen Wechsel zu den Privatkassen geschaffen worden.

Den Unternehmerverbänden reichen diese Mehrbelastungen der Versicherten nicht aus. Sie beklagen, dass sie bei diesem Konzept überhaupt mit einem moderaten Anteil mit im Boot sitzen. Dabei würde allein die Wiedereinführung der paritätischen Beitragsfinanzierung pro Jahr etwa 10 Milliarden zusätzliche Einkünfte für die Beitragskassen erbringen. Das beklagte Defizit von gegenwärtig 11 Milliarden wäre damit auf einen Streich fast geschlossen. Doch auf diese naheliegende Idee kann man nur kommen, wenn man nicht die Besitzstände der Unternehmer und die Senkung der sogenannten "Lohnnebenkosten" als die "allerheiligsten Kühe" behandelt, die zu schützen und zu mehren, die schwarz-gelbe Regierung als die oberste ihrer Pflichten ansieht.


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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 42. Jahrgang, 28/29,
16. Juli 2010, Seite 1 + 3
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2010