Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → GESUNDHEITSWESEN

POLITIK/1721: Gesundheits"reform", die achte - in nur 20 Jahren (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 39 vom 1. Oktober 2010
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Die faulen Tricks des Gesundheitsministers
Gesundheits"reform", die achte - in nur 20 Jahren

Von Hans-Peter Brenner


"Das soll eine 'Gesundheitsreform' sein? Diese Bezeichnung ist ein Witz und zwar ein schlechter. Die Reform die Philipp Rösler, der Gesundheitsminister -, auch dieser Begriff ist beschönigend - vorgestellt hat, ist ein halbgares Finanzierungsmodell um weiterhin vielfältige Lobbygruppen in der Medizin bedienen zu können. Selbst sein Ansinnen, die chronischen Defizite im Gesundheitswesen zu beheben, wird sich allenfalls als kurzfristig lindernd erweisen. Solange die Medizin weiterhin nach Kriterien von Markt und Wachstum bemessen wird, steigen die Ausgaben unaufhörlich. Das liegt in der Logik eines Wirtschaftssystems, das auf neue Angebote und eine Stimulation der Nachfrage angewiesen ist." So sieht es der Kommentator der "Süddeutschen Zeitung" vom letzten Wochenende. Auch viele andere Kommentatoren und Gesundheitsexperten sparen nicht mit Kritik. Selten gab es darin so viel Übereinstimmung. Was wurde beschlossen?


Die Gelackmeierten

Ab 1.1.2011 soll der Beitragssatz bei den gesetzlichen Krankenkassen von 14,9 auf 15,5 Prozent steigen. Für die lohn- und gehaltsabhängig Versicherten gibt es dann einen 0,9-prozentigen "Sonderbeitrag". Sie zahlen dann 8,2 Prozent ihres Einkommens. Die Unternehmer zahlen nur 7,3 Prozent. Dieser Satz wird dauerhaft - allerdings nur für die Unternehmer - auf diesem Stand eingefroren. Damit sollen jährlich rund 6 Milliarden Euro zusätzlich in die gesetzlichen Kassen fließen.

Alle weiteren Kostensteigerungen sollen künftig allein von den Versicherten getragen werden. Dies soll unter anderem über den Zusatzbeitrag, das ist nichts anderes als die "Kopfprämie", geschehen, den die Kassen künftig bis zur Höhe von zwei Prozent des Bruttoeinkommens von ihren Versicherten verlangen können. Bisher lag diese Grenze bei einem Prozent.


Was heißt das konkret für die Kassenpatienten?

Bei einem Bruttogehalt von 1 000 Euro werden künftig 82 statt 79 Euro gezahlt. Bei 1 500 Euro sind es 123 statt 118,50 Euro. Bei 2000 sind es 164 statt 158 Euro. Bei 3 750 Euro steigt der Beitrag auf 307,50 Euro, das sind 11,25 Euro mehr als bisher.

Die Höhe der Zusatzkosten in Form der jetzt doch eingeführten und lange bestrittenen Kopfprämie kann deutlich über diesen Beträgen liegen. Der "Sozialausgleich" ist bislang nichts anderes als ein vages Versprechen, von dem noch niemand weiß, wie es umgesetzt werden soll. Ein sozialer Ausgleich ist vorgesehen, wenn der durchschnittliche Zusatzbeitrag zwei Prozent des Bruttoeinkommens übersteigt. Der durchschnittliche Zusatzbeitrag wird vom Bundesversicherungsamt errechnet. Nach jetzigen Berechnungen wird er bis 2014 nicht höher als 16 Euro sein. Das heißt z. B. für ein Einkommen von 800 Euro im Monat, dass kein Sozialausgleich notwendig ist. Der tatsächlich von einer Kasse erhobene Zusatzbeitrag kann allerdings höher sein als der vom Bundesversicherungsamt errechnete Durchschnittswert. In dem Fall müsste der Versicherte die zusätzlichen Kosten aus eigener Tasche zahlen - oder er wechselt zu einer günstigeren Kasse. Der "Sozialausgleich" soll direkt bei den "Arbeitgebern" und den Rentenversicherungsträgern stattfinden. Sie müssen prüfen, ob der Zusatzbeitrag zwei Prozent vom Bruttoeinkommen übersteigt und ziehen die entsprechende Summe gegebenenfalls direkt von den Krankenkassen-Beiträgen ab. Die Unternehmerverbände sperren sich vehement gegen diesen "zusätzlichen Aufwand."


Weitere Entsolidarisierung

Die Besserverdiener werden auf doppelte Weise bevorteilt. Zum einen dreht sich die Beitragsspirale zu Gunsten der "Besserverdiener" nach unten. Ab 3750 Euro beginnt der Beitrag wieder zu sinken. Dann fällt der Steigerungsbetrag auf nur noch 8,18 Euro.

Die Gut- und Besserverdienenden profitieren außerdem davon, dass im nächsten Jahr die sogenannte "Beitragsbemessungsgrenze" sinkt. Darunter ist die Gehaltshöhe zu verstehen, bis zu der der Kassenbeitrag einkommensabhängig steigt. Darüber steigt er nicht mehr weiter an. Sie sinkt ab 2011 auf 3 712,50 Euro, weil das allgemeine Lohnniveau gefallen ist.

Ein Jahr nach Überschreiten der Versicherungspflichtgrenze von derzeit 49 950 Euro dürfen dann diese bislang gesetzlich Versicherten in eine Privatkasse wechseln. Bisher waren es drei Jahre. Die Abwanderung aus der GKV wird also weiter erleichtert und der Zustrom zu den Privatkassen begünstigt.


Kapitalistenverbände fordern mehr

Den Unternehmerverbänden geht die sozial- und gesundheitspolitische Abriss-Politik von Schwarz-Gelb noch immer nicht weit genug. Sie fordern eine noch "grundlegendere" Reform des Gesundheitswesens. Der Präsident des Bundesverbandes Mittelständische Wirtschaft, Mario Ohoven, forderte eine noch drastischere Ausgabensenkung: "Der Hebel muss auf der Ausgabenseite angesetzt werden", sagte er. Beim Sparen dürfe es "keine Tabus" geben. "Das beginnt beim Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen und endet bei der Gretchenfrage, ob alle Versicherten immer den maximalen Standard erwarten können und dürfen". Auch müsse man sich mit "heiligen Kühen" wie der beitragsfreien Mitversicherung von Familienangehörigen befassen.

Der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Dieter Hundt kritisierte, dass die Anhebung des Arbeitgeberbeitrages um 0,3 Punkte dem Koalitionsvertrag "widerspreche". Sie verteuere die Arbeitskosten um mehr als zwei Milliarden Euro und gefährde "die Fortsetzung der derzeitigen wirtschaftlichen Erholung".


Protest und Widerspruch

Nicht nur die Parlamentsopposition kritisiert die schwarz-gelben Abrisspläne, auch die gesetzlichen Krankenkassen und die Gewerkschaften. Der Vorstandschef der AOK Bayern, Helmut Platzer, erklärte in Zeitungsinterviews, die Pläne bedeuteten das "Ende der solidarischen Krankenversicherung".

Der ver.di-Vorsitzende, Frank Bsirske, kritisiert die Beschlüsse der schwarz-gelben Koalition als "sozial unausgewogen". Die FDP entlarve sich erneut als Partei der Besserverdiener und "Merkel macht sich zu deren Handlanger", erklärte er gegenüber der "Frankfurter Rundschau".

Nach Ansicht auch von bürgerlichen Gesundheitsexperten wirken all diese Maßnahmen nur kurzfristig - als Überbrückungshilfe für das 2011 erwartete Defizit der Kassen. Die neunte Runde ist schon programmiert.


*


Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 42. Jahrgang, Nr. 39,
1. Oktober 2010, Seite 7
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
Anschrift von Verlag und Redaktion:
Hoffnungstraße 18, 45127 Essen
Telefon 0201 / 22 54 47
E-Mail: redaktion@unsere-zeit.de
Internet: www.unsere-zeit.de

Die UZ erscheint wöchentlich.
Einzelausgabe: 2,80 Euro
Jahresbezugspreise:
Inland: 126,- Euro
Ausland: 130,- Euro
Ermäßigtes Abo: 72,- Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Oktober 2010