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SCHMERZ/579: Schmerzen gehören nicht zum Alter (idw)


Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie e.V. - 24.03.2011

Schmerzen gehören nicht zum Alter


(Frankfurt/Main) "Wir dürfen als Ärzte nicht der Stereotypie verfallen, Schmerz gehöre zum Alter", warnt Dr. Not-Rupprecht Siegel vom Geriatriezentrum Neuburg auf dem Deutschen Schmerz- und Palliativtag in Frankfurt. Schmerzen sind auch im Alter behandelbar. Doch bei der Wahl von Medikamenten müssen Ärzte die körperlichen, geistigen und seelischen Besonderheiten älterer Menschen berücksichtigen.

Häufig hört man den Satz von den Ältesten der Alten, sie seien mit wenig zufrieden und an Entbehrungen gewöhnt. "Schmerzen gehören eben zum Alter", meinen sie schulterzuckend und nehmen mit wachsendem Stoizismus klaglos die Pein hin. "Schmerzen müssen eben nicht zum Alter gehören", widerspricht entschieden Dr. Not-Rupprecht Siegel vom Geriatriezentrum Neuburg auf dem Deutschen Schmerz- und Palliativtag in Frankfurt. Diese Meinung bestätigen aktuelle Untersuchungen aus dem englischsprachigen Raum, darunter eine vor zwei Jahren an der Universität von Nottingham durchgeführte Studie zum Thema "Schmerz bei älteren Menschen". Im Resümée heißt es: Niemand, unabhängig vom Alter, sollte Schmerzen ertragen.

Das in der Wissenschaft unter dem Stichwort "underreporting of pain" bekannte "stille Heldentum" wirkt sich negativ auf die Lebensqualität aus. Zumindest sollten Patienten akut auftretende Schmerzen nicht nur dem Nachbarn, sondern auch dem Arzt mitteilen. Werden diese rechtzeitig behandelt, lässt sich eine Chronifizierung vermeiden. Doch die Realität ist anders: Chronische Schmerzen nehmen im Alter zu.

Schmerz bessert sich bei therapie langsamer. Im Alter verändert sich die menschliche Physiologie: die Muskelmasse nimmt ab, das Gewebe büßt an Elastizität ein, die Funktion des Nervensystems und auch die Schmerzverarbeitung verändern sich. Der behandelnde Arzt muss berücksichtigen, dass die Schmerzintensität im Alter langsamer abnimmt und die Behandlungsdauer dementsprechend verlängert werden muss. Während jüngere Menschen schon innerhalb von sechs Tagen eine Schmerzreduktion auf ein passables Niveau erreichen, brauchen 60- bis 80-Jährige dafür 18 Tage, Menschen über 80 Jahre sogar vier Wochen.

Problem Mehrfacherkrankungen.

Erschwert wird die medikamentöse Therapie im Alter durch Mehrfacherkrankungen. Zwar leiden Menschen mit zunehmendem Alter weniger häufig unter Migräne und Kopfschmerzen. Doch dafür treten andere chronische Erkrankungen mit ihren oft schmerzhaften Folgen in den Vordergrund: Diabetes, Herzschwäche, entzündliche Gelenkserkrankungen, Bluthochdruck, Gefäßerkrankungen, Osteoporose, Schlafstörungen, Depressionen. "Fast die Hälfte der 60- bis 75-Jährigen und über die Hälfte der über 75-Jährigen leiden gleichzeitig unter mehreren Schmerzformen", so Siegel.

Keine "Kochbuchmedizin" für Alte.

Altere Menschen können nicht nach der "Kochbuchmedizin" von ansonsten gesunden Menschen behandelt werden. Bei Mehrfacherkrankungen müssen Ärzte von der internationalen Leitlinie, dem WHO-Stufenschema für die Schmerzbehandlung abweichen. Weil bei älteren Menschen die Funktion von Leber und Niere mitunter stark eingeschränkt ist, sind niedrig dosierte Opioide die Mittel der ersten Wahl. Sie sind besser verträglich als Paracetamol und bergen kein Risiko für Magen-Darmblutungen wie die sogenannten nicht-steroidalen Antirheumatika (NSAR), die in der regulären Schmerztherapie an erster Stelle stehen", so Siegel. Nur wenn Entzündungen die Schmerzen verursachen, seien Entzündungshemmer Analgetika der ersten Wahl. Hat das Nervensystem den Schmerz bereits "gelernt", ist indes der sofortige Einsatz von Opiaten gerechtfertigt. Allerdings ist dabei zu beachten, dass auch Opioide Nebenwirkungen haben. Sie führen häufig zu Verstopfung und können die Wahrnehmung beeinträchtigen, so dass damit auch die Sturzgefahr ansteigt.

Aktivitäten aufrecht erhalten.

Allein durch die wachsende Lebenserwartung wird die Gruppe der "älteren Menschen" immer heterogener. In vierzig Jahren wird sich in den Industriestaaten der Anteil der über 80-Jährigen mehr als verdreifacht haben. "Wir können die alternde Bevölkerung nicht über einen Kamm scheren, sondern müssen sie sehr differenziert betrachten", betont Siegel. Menschen über hundert, die im Vergleich zu den anderen Altersgruppen am stärksten wachsende Gruppierung, sind durch ihre Biografie ganz anders geprägt als heute 65-Jährige. Mit zunehmendem Alter verändert sich auch das soziale Umfeld, die Wahrnehmung und die Fähigkeit, mit der Umwelt zu kommunizieren. Im Umgang mit älteren Patienten ist daher von zentraler Bedeutung, im Gespräch zu erfragen, welche Aktivitäten für sie wichtig sind, um diese möglichst lang aufrecht zu erhalten.

Problem Demenz.

Je älter die Menschen werden, desto größer ist das Risiko für eine Demenzerkrankung. "Ein ganz großer Teil dieser Menschen lebt nicht in Heimen oder Geriatriezentren. Wir dürfen nicht übersehen, welche Leistung die Familien, aber auch die Nachbarn für diese Menschen vollbringen. Wir müssen die Gesellschaft jetzt für die Aufgaben der Altenversorgung sensibilisieren, die in den kommenden Jahrzehnten auf uns zu kommen", resümiert Siegel.

Bei dementen Menschen werden Schmerzen häufig übersehen. Wenn das Denkvermögen nachlässt, nimmt auch die Fähigkeit ab, Schmerzen auszudrücken. Zwar gibt es so genannte Beobachtungsskalen, die den Pflegenden helfen, Schmerzsignale durch Beobachtung von Verhalten, Mimik und Gestik zu erkennen, doch sind diese nicht so aussagekräftig wie die Selbstauskunft. "Kein Außenstehender kann den Schmerz eines anderen beurteilen. Schmerz ist immer subjektiv", räumt Siegel ein. "Doch helfen diese Skalen, den Ausdruck von Schmerzen überhaupt zu erkennen." Es genügt, einen Menschen wenige Minuten zu beobachten und anschließend die Kästchen auf dem Beobachtungsbogen anzukreuzen. Hinweise auf Schmerzen sind etwa Grimassieren, Reglosigkeit oder starke Unruhe entgegen der sonstigen Gewohnheit, plötzlicher sozialer Rückzug, aggressives Verhalten, Stöhnen, leises Weinen oder heftiges Schreien und Klagen. Werden diese Schmerzsignale beobachtet, kann der Arzt ein Schmerzmittel verabreichen und prüfen, ob sich das Verhalten wieder verändert.


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft - idw - Pressemitteilung
Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie e.V., Barbara Ritzert, 24.03.2011
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. März 2011