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OFFENER BRIEF/003: Offener Brief von Psychotherapeuten zum Thema "Burnout" (Andreas Retzmann)


Offener Brief von Psychotherapeuten zum Thema "Burnout"

Von Andreas Retzmann - 10.05.2011


Mit großer Besorgnis beobachten die unterzeichnenden niedergelassenen Psychotherapeuten eine ständige Zunahme bestimmter "berufsbedingter" Diagnosen. Immer häufiger kommen Menschen zu uns, die an Burnout-Syndrom, depressiven Reaktionen, akuten Belastungsstörungen und existenzbedingten Angsterkrankungen leiden. Oft stehen Arbeitsbedingungen im Hintergrund, die von einer Zunahme an (z.T. unbezahlten) Überstunden, Mobbing, drohender Entlassung geprägt sind. Kollegialer Zusammenhalt fällt einem Verteilungskampf zum Opfer, der letzte Sicherheiten raubt.

Ein Beispiel von vielen: Herr B. (37), seit 14 Jahren Auslieferungsfahrer einer mittelständischen Firma. In den ersten Jahren habe die Arbeit Spaß gemacht, doch als die Aufträge immer mehr wurden sei zwar viel investiert, bei neuen Fahrern aber gespart worden. Vorbei sei es mit geregelten Arbeitszeiten: seit Jahren müsse er meist 10 - 12 Stunden arbeiten, fürs Privatleben bleibe kaum noch Zeit und Kraft. Sein Lohn bleibe dabei fast gleich, da die Zeitvorgaben pro Leistung einfach verkürzt wurden. Sein Vorgesetzter habe auf seine Beschwerden abfällig bemerkt, er könne sich ja eine andere Arbeit suchen. Der Betriebsrat habe ihn nur vertröstet. Man werde nur noch als "Nummer in der Kalkulation" statt als Mensch geführt. Er habe immer schlechter geschlafen, zunächst sei es der Rücken, dann morgendliches Augenflimmern und Schweißausbrüche, Angst vor der Arbeit gewesen. Eines Morgens ging nichts mehr: als er vor 3 Monaten beim Arzt in Tränen ausgebrochen sei, habe der ihn (bis heute) krankgeschrieben. Ein Antidepressivum helfe ein wenig. Er fürchte, von der Firma als Simulant angesehen zu werden, wolle da aber eigentlich nie wieder hin gehen. Um peinliche Begegnungen zu vermeiden bleibe er meist zu Hause. Er kenne sich nicht mehr wieder.

Ist dieser Patient zu labil, oder einfach "Symptomträger"? Wir denken: immer weniger Menschen profitieren von diesem System des Wettbewerbs um Besitz, immer mehr Menschen fallen ihm zum Opfer, müssen um ihren Job, ihre Existenz, ihren Sinn bangen. Menschen, die nicht mehr standhalten, kommen mit eingebrochenem Selbstwertgefühl in unsere Praxen, fühlen sich oft seltsam kraft- und sinnlos, hegen Lebenszweifel bis hin zu Suicidgedanken. Ähnliche Entwicklungen zeichnen sich z. B. an Hochschulen ab. Und manchmal möchten wir diesen Menschen sagen: nicht du hast versagt, sondern das Wirtschaftssystem, dessen Teil du bist, ist auf die schiefe Bahn geraten.

Unser Appell geht an alle Betroffenen:

Unsere Patienten und alle ihre zahllosen (uns unbekannten) Leidensgenossen möchten wir ermutigen: tut euch als Patienten oder Kollegen zusammen. Redet mit Betriebsrat und Gewerkschaft, holt euch Rechtsschutz, berichtet der Arbeitsagentur, der Kammer, dem Rathaus, euren Abgeordneten u.a. Institutionen von den Missständen. Schreibt Leserbriefe oder Netzbeiträge, macht euer Leid öffentlich. Lasst euch nicht kleinkriegen von der Furcht, gefeuert zu werden: ein Ende mit Schrecken ist oft heilsamer als ein Schrecken ohne Ende. Es kann der Anfang eurer wiedergewonnenen Freiheit sein.

Die Unternehmer möchten wir daran erinnern, dass freundliche, transparente, fair entlohnte Arbeitsbedingungen zu einem produktiven, gesunden Klima im Betrieb beitragen. Arbeit die diese Kriterien nicht erfüllt macht krank. Wir gehen davon aus, dass soziale Unternehmen sich mit der Zeit als immer erfolgreicher entwickeln werden - arbeiten sie doch mit und nicht gegen den Menschen, motivieren, geben Wertschätzung, fördern Eigenverantwortung. Wo Mitarbeiter sich wohl fühlen, geht es auch Kunden gut. Es gibt zahlreiche Beispiele dafür.

Den Regierenden möchten wir sagen: sucht eure Berater nicht nur in der Wirtschaftslobby, sondern auch dort, wo zukunftsfähige Alternativen erarbeitet werden (siehe z.B. Uexkülls World Future Council); kümmert euch öffentlich um eine Klimawende für die Erde und die Gesellschaft, geht runter vom Gas und werdet nachhaltig. Besinnt euch auf den sozialen Staat, für den ihr angetreten seid.

Und den Kollegen im Land dies: lasst uns öffentlich werden. Lasst uns die Erfahrungen unserer Profession nutzen, um positive Entwicklungen anzustoßen, nicht nur im Patienten, sondern auch im Umfeld. Z.B. mit der Weiterverbreitung dieser Zeilen, oder in eurer ganz eigenen kreativen Weise. So muss keiner für sich allein bleiben: das Netz wird tragfähiger.


Dipl. Psych. Andreas Retzmann / Intervisionszirkel Kattendorf
Qualitätszirkel Kaltenkirchen
Qualitätszirkel Norderstedt
Qualitätszirkel Quickborn
Intervisionsgruppe Hamburg 04/132


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Quelle:
Dipl. Psych. Andreas Retzmann, Kattendorf


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2011