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WIRKSTOFF/532: Ein ASS im Kampf gegen Krebs? (einblick - DKFZ)


"einblick" - die Zeitschrift des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), Ausgabe 1/2011

Ein ASS im Kampf gegen Krebs?
Der Wirkstoff von Aspirin schützt offenbar vor Tumoren

Von Elke Matuschek


Aspirin beseitigt Kopfschmerzen, senkt Fieber, lindert Rheuma und beugt Herzinfarkten und Schlaganfällen vor. Aber nicht nur das. Die Hinweise mehren sich, dass das Medikament - genauer: sein Wirkstoff Acetylsalicylsäure (ASS) - sogar Krebs vorbeugen kann.


Weidenbäume haben etwas Magisches. Nicht nur, dass sie am Ufer "verwunschener" Weiher wachsen und im Dämmerlicht schauerlich aussehen, ein Motiv zahlreicher Gruselgeschichten. Auch als Heilpen sind sie seit alters her geschätzt, denn Extrakte aus ihrer Rinde dämpfen Schmerzen und Entzündungen. Bäume aus der Gattung der Weiden (lateinisch: Salix) enthalten eine Substanz, die im Körper zu Salicylsäure umgewandelt wird. Und die wirkt schmerzlindernd, fiebersenkend und entzündungshemmend.

Seit 1874 setzten Ärzte die Salicylsäure als medizinischen Wirkstoff ein. Da der Stoff allerdings bitter schmeckt und oft Magenreizungen verursacht, entwickelte das Chemie- und Pharmaunternehmen Bayer ein Verfahren, um einen ähnlichen, aber verträglicheren Wirkstoff zu produzieren - die Acetylsalicylsäure (ASS). 1897 gelang es im Wuppertaler Bayer-Stammwerk erstmals, chemisch reines ASS herzustellen. Das Produkt hielt unter dem Namen Aspirin bald Einzug in unzählige Hausapotheken auf der ganzen Welt.


Der Darmkrebs-Enthüller

Mittlerweile bewährt sich ASS nicht mehr nur, um Schmerzen und Entzündungen zu dämpfen. Auch als Hilfsmittel für die Krebsfrüherkennung scheint der Wirkstoff geeignet. Das haben Wissenschaftler um Professor Hermann Brenner herausgefunden, der am Deutschen Krebsforschungszentrum die Abteilung "Klinische Epidemiologie und Alternsforschung" leitet. Die Forscher untersuchten Daten von etwa 2000 Menschen, die an Darmkrebs-Früherkennungstests teilgenommen hatten. Alle Teilnehmer unterzogen sich einer Darmspiegelung sowie zwei immunologischen Tests auf verborgenes Blut im Stuhl. Etwa jeder Zehnte gab an, regelmäßig niedrig dosiertes Aspirin einzunehmen. Die Daten zeigten zwar, dass fortgeschrittene Darmkrebsvorstufen bei den Aspirin-Konsumenten ähnlich oft auftraten wie bei den Aspirin-Abstinenzlern (nämlich bei etwa jedem zehnten Teilnehmer). Aufschlussreich war aber, dass Aspirin offenbar hilft, Darmkrebsvorstufen zuverlässiger zu erkennen. Die immunologischen Tests schlugen bei jenen Teilnehmern, die das Medikament regelmäßig einnahmen, deutlich empfindlicher an und spürten vorhandene Darmkrebsvorstufen fast doppelt so häufig auf. Die Gefahr eines falschen Alarms - also eines positiven Testergebnisses, ohne dass eine Krebsvorstufe vorliegt - nahm dabei nur unwesentlich zu.

Die Ergebnisse von Hermann Brenner und seinem Team sind insofern überraschend, als viele Ärzte bisher befürchtet hatten, dass Aspirin die Vorsorgetests negativ beeinflussen könnte. Denn der Wirkstoff erhöht das Risiko von inneren Blutungen. "Wir planen gerade weitere Studien, um mehr darüber zu erfahren, wie man den Wirkstoff möglicherweise bei immunologischen Tests auf Blut im Stuhl einsetzen kann", sagt Brenner, "wir gehen davon aus, dass es reicht, Aspirin drei bis vier Tage vor der Untersuchung einzunehmen, um die gewünschte Wirkung zu erzielen." Sollten sich die Erwartungen bestätigen, erläutert der Wissenschaftler, könne die Gabe von Acetylsalicylsäure als einfache Methode dienen, um die Früherkennung von Darmkrebs und womöglich noch anderen Krebsarten erheblich zu verbessern.


Vom Allerweltsmedikament zur Wunderpille?

Seit einiger Zeit vermuten Wissenschaftler zudem, dass der Wirkstoff manchen Krebsarten direkt vorbeugt. Die Fachzeitschrift "The Lancet" veröffentlichte dazu im vergangenen Oktober eine Untersuchung des Mediziners Peter Rothwell von der University of Oxford. Rothwell und sein Team hatten verschiedene klinische Studien unter die Lupe genommen und Patientendaten aus den zurückliegenden 20 Jahren statistisch aufbereitet. Dabei kam heraus, dass die langfristige Einnahme von Aspirin das Darmkrebs-Risiko um 24 Prozent senkt.

Zwei Monate später veröffentlichte Rothwell in derselben Zeitschrift eine weitere Untersuchung, der zufolge sich die vorbeugende Wirkung von Aspirin nicht auf Darmkrebs beschränkt. Rothwell und sein Team hatten sich acht frühere Studien mit insgesamt 26.000 Teilnehmern angeschaut, die ursprünglich alle das Ziel gehabt hatten, den Effekt von Aspirin auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu testen. Bei der neuerlichen Auswertung der Daten zeigte sich: Von den Patienten, die regelmäßig Aspirin eingenommen hatten, waren wesentlich weniger an Krebs gestorben. Das Medikament senkte die Zahl der Todesfälle bei einigen Krebskrankheiten dramatisch, darunter Darmkrebs (um 40 Prozent gesenkt), Magenkrebs (31 Prozent), Speiseröhrenkrebs (58 Prozent) und Lungenkrebs (29 Prozent). Auch bei Prostatakrebs und bestimmten Hirntumor-Erkrankungen waren sinkende Sterbezahlen zu verzeichnen.

Professor Nikolaus Becker, Epidemiologe am Deutschen Krebsforschungszentrum und Leiter des Epidemiologischen Krebsregisters Baden-Württemberg, mahnt indes zur Vorsicht: "Diese Ergebnisse sind gewiss nicht uninteressant, man sollte allerdings im Kopf behalten, dass sie einen Nebenbefund darstellen. Denn die ursprünglichen klinischen Studien, auf die sie sich stützen, waren auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen zugeschnitten und nicht auf Krebs." Rothwells jüngste Veröffentlichung beleuchte zudem nur die Zahl der an Krebs Verstorbenen, aber nicht die Zahl der Erkrankten. "Um zu klären, ob die regelmäßige Einnahme von Aspirin auch die Krebs-Neuerkrankungsrate senkt, bedarf es weiterer Untersuchungen", sagt Becker. "Außerdem ist es wichtig, ganz gezielt zu untersuchen, wie viel Acetylsalicylsäure über welchen Zeitraum eingenommen werden muss, damit es zu einem Schutzeffekt kommt - und ob dabei etwa Nebenwirkungen auftreten. Hier bewegen wir uns momentan in einer Grauzone des Wissens."

Hinweise darauf, dass Aspirin schützt, hat auch Professor Cornelia Ulrich gefunden, die die Abteilung "Präventive Onkologie" am Deutschen Krebsforschungszentrum und am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen Heidelberg leitet. Ulrich und ihre Kollegen fragten 1700 Darmkrebs-Patienten zum Zeitpunkt der Diagnose, wie oft und wie lange sie entzündungshemmende Medikamente eingenommen hatten. Danach beobachtete das Team die Patienten acht Jahre lang weiter. Die Patienten, die in den zwei Jahren vor der Diagnose regelmäßig Aspirin eingenommen hatten, erlagen dem Darmkrebs deutlich seltener: Ihr Sterberisiko war um zwanzig Prozent vermindert. Auch der verwandte Wirkstoff Ibuprofen minderte das Risiko, an Darmkrebs zu sterben, erheblich. Allerdings variiert der Schutz von Mensch zu Mensch sehr stark, denn Arzneistoffe werden im Körper verschieden schnell umgewandelt, ausgeschieden und im Stoffwechsel wirksam - je nach persönlichen genetischen Voraussetzungen. Dadurch können der Behandlungserfolg und die Nebenwirkungen sehr unterschiedlich ausfallen, wie Ulrich und ihre Mitarbeiter belegt haben. Um Medikamente wie Aspirin optimal für die Krebsvorsorge einzusetzen, sei es wichtig, jene Patienten zu identifizieren, die aufgrund ihrer genetischen Voraussetzungen auch wirklich von der Behandlung profitieren, schreiben Ulrich und ihre Kollegen in der Fachzeitschrift "Nature Reviews Cancer".


Ein ASS im Ärmel der Krebsmediziner?

ASS, der Wirkstoff von Aspirin, hemmt die Bildung von bestimmten Gewebshormonen, den Prostaglandinen. Einige Stoffe aus dieser Gruppe verstärken die Schmerzwahrnehmung, fördern Entzündungen und kurbeln die Blutgerinnung an. Damit der Körper diese Gewebshormone herstellen kann, braucht er bestimmte Eiweiße, die Cyclooxygenasen (COX). ASS stört diese Eiweiße beim Aufbau der Prostaglandine - das erklärt, warum der Wirkstoff gegen Schmerzen und Entzündungen hilft. Zugleich hemmt er die Blutgerinnung, "verdünnt" das Blut sozusagen und kann deshalb Herzinfarkten, Blutgerinnseln (Thrombosen) und Schlaganfällen vorbeugen. Die Kehrseite ist allerdings, dass die Gefahr von Blutungen steigt; in schweren Fällen kann der Wirkstoff gefährliche Hirn- oder Magenblutungen verursachen.

Ein Eiweiß, das bei diesen Vorgängen eine wichtige Rolle spielt, ist in den zurückliegenden Jahren immer wieder zusammen mit Krebs in Erscheinung getreten: die Cyclooxygenase-2 (COX-2). Zum Beispiel ist bekannt, dass COX-2 bereits in Vorstufen der meisten bösartigen Tumorarten verstärkt gebildet wird. Der Mediziner Peter Rothwell vermutet, dass Aspirin manchen Krebsarten vorbeugt, indem es auf COX-2 einwirkt. Am Deutschen Krebsforschungszentrum beschäftigt sich Dr. Karin Müller-Decker intensiv mit den COX-Molekülen und deren Rolle bei Hautkrebs. Die Biologin glaubt, dass COX-2 nicht die einzige "Anti-Krebs-Schaltstelle" ist: "ASS wirkt, wenigstens im Kurzzeittest, viel stärker auf ein anderes Enzym, nämlich auf COX-1", sagt sie. Es gibt Hinweise darauf, dass auch COX-1 die Entstehung von Krebs fördert - für Darmkrebs zumindest ist das wissenschaftlich belegt.


Nebenwirkungen nicht vergessen

Es gibt also mit den verschiedenen COX-Enzymen einen Ansatz, um die krebshemmende Wirkung von ASS zu erklären. Momentan ist man aber noch weit davon entfernt, den molekularen Mechanismus in allen Einzelheiten zu kennen. Von einer Selbstbehandlung mit Aspirin raten die Experten jedenfalls strikt ab. "Dass der Wirkstoff ASS gravierende Nebenwirkungen hervorrufen kann, ist längst bekannt", mahnt Müller-Decker, "deshalb brauchen wir unbedingt eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung für jeden einzelnen Patienten - aber eine solche individualisierte Medizin ist momentan noch Zukunftsmusik." Ähnlich sieht das Nikolaus Becker: "Bei allen bisherigen statistischen Analysen zu diesem Thema kann man Verzerrungen und Scheinzusammenhänge nicht ausschließen. Konkrete Belege für die krebshemmende Wirkung von ASS stehen noch aus, weshalb Aspirin nicht als Pille gegen Krebs angesehen werden darf."


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Modell eines ASS-Moleküls (oben). Kohlenstoffatome sind schwarz, Sauerstoffatome rot, Wasserstoffatome rosa. ASS ist der Wirkstoff des Medikaments Aspirin. Ein ähnlicher Wirkstoff lässt sich aus Weidenrinde (links unten) gewinnen.

- Aspirin scheint das Risiko, an Krebs zu sterben, bei einigen Krebsarten deutlich zu vermindern - besonders bei Speiseröhren-, Magen-, Darm- und Lungenkrebs. Allerdings sind weitere Studien nötig, um diese Wirkung eindeutig zu belegen.


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Quelle:
"einblick" - die Zeitschrift des Deutschen Krebsforschungszentrums
(DKFZ)
Ausgabe 1/2011, Seite 30 - 33
Herausgeber: Deutsches Krebsforschungszentrum in der
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juli 2011