Soziale Psychiatrie Nr. 134 - Heft 4, Oktober 2011
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
"Es wird kein Stein auf dem anderen bleiben"
Auf dem Weg zur Post-Psychiatrie
Von Matthias Heißler
Nach Einführung eines regionalen Budgets im Oktober 2008 konnten wir
an der psychiatrischen Abteilung in Geesthacht das psychiatrische
Versorgungssystem neu ausrichten: Dieses wird jetzt hauptsächlich von
mobilen Kriseninterventionsteams mit angeschlossenen teilstationären
Bereichen gebildet.
Die Ausgangssituation
Für die stationäre psychiatrische Versorgung der 186.000 Bürger
brauchen wir heute lediglich noch eine Station mit im Durchschnitt 22
belegten Betten. Daneben gibt es eine
psychosomatisch-psychotherapeutisch ausgerichtete Tagesklinik mit
Ambulanz, eine psychiatrische Ambulanz, die hauptsächlich aufsuchend
tätig ist, und eine 'Methadon-Ambulanz' für die Versorgung bzw.
Substitution von Drogenabhängigen. Mittlerweile gibt es fünf
Tageskliniken, die sich zu Hometreatment-Abteilungen umstrukturieren.
Flankierend wird dieser klinische Bereich unterstützt durch ein
dezentral organisiertes Zuverdienstsystem (im Abstand von zirka 15
Kilometern gibt es Zuverdienstfirmen mit barrierefreiem Zugang) und
einem dezentral organisierten ambulanten Wohngruppensystem
(Haushaltsgemeinschaften), das im Stadtteil bzw. im Kontext eines
Dorfes zuständig ist für die Begleitung von Menschen mit hohem
Pflegebedarf bzw. demenzieller Entwicklung. Außerdem gibt es ein Netz
von "crisis families", die akut psychisch Kranke bei sich zu Hause
aufnehmen.
Das Ende der Ver-Anstalt-ung?
Spätestens zu diesem Zeitpunkt kann man sich fragen, ob das das Ende der institutionszentrierten Psychiatrie ist: Ende der Ver-Anstalt-ung. Dazu muss mindestens dreierlei gesagt werden:
1. Die Ermöglichung von mobilen Kriseninterventionsteams ist eine erste Antwort auf sich verändernde gesellschaftliche Strukturen. Mobile Teams sind in allen Gesellschaften (England, Skandinavien, Frankreich, Italien, Australien, Schweiz ...) im Werden - als Versuch, passende Antworten auf veränderte gesellschaftliche und soziale Bedingungen zu finden, die gerade die Psychiatrie zentral betreffen.
2. Wenn wir lediglich klinische Vorgehensweisen eins zu eins auf den kommunalen Kontext übertragen, sind das Antworten auf alte, noch bestehende Strukturen, nicht aber auf neue, sich vollziehende Entwicklungen. Seit den 1980er-Jahren räumt die Gesellschaft ihren Bürgern mehr Autonomie ein, um nicht zu sagen, sie fordert von ihnen, Akteure ihres Lebens zu sein. Dabei gibt es Gewinner und Verlierer. Viele reagieren auf diesen Prozess mit Unbehagen, einige brechen unter dieser Last zusammen. Die Psychiatrie ist Teil dieses Umbruchs und sucht für diese allgemeinen Entwicklungen adäquate Antworten. Die alten Vorgehensweisen sind nicht mehr tauglich, die neuen noch unerprobt, unsicher bzw. noch nicht erfunden.
3. Dadurch, dass wir die Psychiatrie im Kontext einer Klinik verlassen
und uns dem Patienten in seinem Lebensfeld aussetzen, können wir
potenziell auch neue Erfahrungen sammeln und damit Psychiatrie neu
entdecken. Neue Praxis braucht neue Theorie. Die Psychiatrie nähert
sich dem Leben (wieder) an. Längst Gedachtes kann jetzt konkret
erfahren werden und wird dadurch einer grundlegenderen Reflexion
zugänglich. Die Psychiatrie ist im Umbruch befindlich.
Das Wichtigste: die Einbeziehung des Lebensfeldes
In der Regel verhalten sich psychiatrisch Tätige "split-brained": Im Grunde wissen wir alle, dass der Mensch sich nicht im luftleeren Raum entwickelt, sondern in Abhängigkeit von seiner Umwelt. Trotzdem verhalten wir uns so - zumindest die meiste Zeit -, als ob die Patienten in unseren Kliniken und Einrichtungen allein auf der Welt wären. Gelegentlich sprechen wir zwar mit Angehörigen und betonen deren Bedeutung. In letzter Konsequenz müssten wir jedoch anders handeln, als wir es tun. Wir in unseren Institutionen machen einen Unterschied zwischen dem, was unsere Rechte denkt und unsere Linke tut (Gigerenzer 2007).
Mitarbeiter in einem Hometreatment-Team müssen diese Spaltung nicht länger aufrechterhalten. Sie wissen es schon längst und können es jetzt auch live ("live is life") erleben, dass der Mensch unhintergehbar abhängig ist von einem vielfältigen Beziehungsgeflecht zwischen ihm und seinem Lebensfeld. Und dieses vielschichtige horizontal verlaufende Beziehungsgeflecht ist wiederum über vertikale Bahnen untereinander und miteinander im Sinn einer integrierten Kausalität verbunden und verwoben. Dieses Beziehungsgefüge bestimmt sein Sein und sein Erleben. Gelingendes Leben hängt von guten und förderlichen Beziehungen in diesem Beziehungsgefüge ab. Umgekehrt können ab einem bestimmten Ausmaß und einer bestimmten Dauer disharmonische bzw. inkonsistente oder unstimmige Beziehungen das Fenster für psychische Störungen öffnen.
Wenn man einen Menschen kennen lernen und begreifen will, geht das
also nicht ohne seinen Kontext, sein Lebensfeld. Als psychiatrisch
Tätiger muss ich einen Patienten in seinem Lebensfeld aufsuchen, um
ihn besser verstehen und begreifen zu können, und das geht
organisatorisch nur über ein mobiles Kriseninterventionsteam.
Ansonsten besteht die Gefahr der Entwicklung von Parallel-Universen:
hier der Patient, der nur in seinem Lebensfeld - aus seinem Kontext
heraus - begriffen werden kann, und dort die Klinik mit ihrem Bemühen,
einen Menschen ohne seinen Kontext objektiv einordnen zu wollen, um
ihn einer objektiven Therapie unterziehen zu können.
Die neue Subjektivität
Der Versuch, einen Menschen im Kontext der Klinik zu "vermessen", um ihn therapieren zu können, ist dem Projekt der Moderne geschuldet. Mit der "Geburt der Klinik" (Foucault 1988) an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert sollte die Beliebigkeit einer am Subjekt orientierten Medizin in die Hand eines Klinikers übergehen, der unter vergleichbaren Umständen (einheitlicher und damit vergleichbarer Raum einer Klinik) und durch den Kontakt mit einer großen Zahl von Menschen (Fallzahlen der Klinik: "Welche Quelle der Belehrung sind doch zwei Krankenhäuser mit je 100 oder 150 Betten ..." [Foucault 1988]), so viel Informationen gewinnen sollte, dass Diagnosen "objektiv" gestellt und ein Behandlungsplan basierend auf "objektiven" Fakten - entzogen der willkürlich-subjektiven Sicht der Ärzte - leidenschaftslos aufgestellt werden konnte. Es ist bemerkenswert, mit welcher Klarheit ein Dr. Volz schon 1870 schilderte, wie aus Ärzten Mediziner wurden: "Der alte Arzt kam seinem Kranken näher; um die Ursachen zu erforschen, mußte er Psychologe sein, und Menschen und Verhältnisse beurtheilen, um mit Rücksicht darauf den Heilplan zu entwerfen; er mußte und durfte in Haus und Familie sich eindrängen, [...] Hausfreund sein. Seine Aufgabe war vielleicht schwieriger als jetzt, - er hatte es nicht mit dem Objekte einer Krankheit, sondern mehr mit der Person des Kranken zu thun. Was ihm an möglicher Erkennung der Krankheit abging, was seine Mittel nicht leisten konnten, mußte er durch eine auf die Person berechnete vertrauenerweckende Sicherheit und Menschenkenntniß ausführen. [...] Jetzt ist es anders. Es ist gleichgiltig, wer am Bett steht, aber er muß verstehen, zu untersuchen, zu erkennen. Er tritt vor ein Objekt, welches er ausforscht, ausklopft, aushorcht, ausspäht [...]: der Kranke wird zum Gegenstand" (zitiert aus Meyer-Abich 2010).
Foucault sah das medizinisch-psychiatrische Vorgehen und den Umgang
mit psychisch kranken Menschen immer auch im Zusammenhang mit den
herrschenden Machtfaktoren einer Gesellschaft (Foucault 1969). Bis
Mitte des letzten Jahrhunderts beherrschte die Medizin und damit auch
die Psychiatrie diesen Bereich nahezu absolutistisch ("Halbgott in
Weiß"). Seit den 80er-Jahren hat sich jedoch die Vertikale in den
westlichen Gesellschaften erheblich abgeschwächt. Einhergehend mit dem
Verfall der Vertikalität, die mit Macht, Autorität, einflussreichen
Institutionen, Hierarchien etc. assoziiert gewesen war, wird im selben
Zuge die Horizontale in unseren Gesellschaften betont. Diese Bewegung
lässt sich nach Ehrenberg auch und gerade am Schicksal des
zeitgenössischen Subjekts und an den Veränderungen der individuellen
Psychopathologie ablesen, die auf ein tiefes kollektives Unbehagen
hinweisen. "Die Triebfeder der neuen Subjektivität ist das Ende der
Vertikalität, das Absterben der hierarchischen Gesellschaft, das
vom Verfall der patriarchalischen Funktion bezeugt wird.
Selbstverständlich ist nicht der wirkliche Vater das Problem, denn wir
haben es nicht mit einer biologischen Perspektive zu tun, sondern
seine symbolische Stellung, die die Autorität begründet. [...] Diese
Veränderungen kennzeichnen die geschwächte soziale Bindung der
liberalen, neoliberalen, post-, hyper- oder ultramodernen
Gesellschaft." In früheren Zeiten standen die Krankheiten des Vaters
im Vordergrund, wie Zwangsneurose, Hysterie, Paranoia, heute sind das
Borderline, Schizophrenie, Depressionen, die Krankheiten der Mutter.
"Diese Pathologien betreffen das Ideal in dem Sinne, daß sie durch
einen wirklichen Verfall der väterlichen Imago in der
Gesellschaft verursacht werden und somit durch den Verfall von
Institutionen, Symbol, Transzendenz, Hierarchie, Grenze, die eine
Begriffsfamilie bilden. Die Depression ist zugleich Prototyp und
Hauptsyndrom dieser Pathologien, aber Essstörungen, Suchtverhalten und
'Impulshandlungen' jene heftigen und selbstmörderischen Impulse, bei
denen der Übergang zur Handlung an die Stelle des Symptoms tritt, die
Psychopathien, die psychosomatischen Krankheiten gehören auch zu
dieser Gattung. Alle diese Syndrome entsprechen nicht mehr dem
neurotischen Bild, das traditionell die Klientel der Psychoanalyse
charakterisierte [...]. Die Auflösung sozialer Bindungen lässt sich
ganz besonders in der Sorge um die 'Grenzen' erkennen" (Ehrenberg
2011).
Neue Ungleichheiten
Mit dem Einsturz der Vertikalität verliert der Mensch das Rückgrat, das ihn in der Gesellschaft verankerte, und wird dadurch orientierungslos. Früher wusste man, gegen wen man zu kämpfen hatte und für was; heute ist das schwierig, und im Zweifel muss man gegen sich selber kämpfen. Einer Überfülle von Möglichkeiten gegenüberstehend und der damit verbundenen Orientierungslosigkeit, sind wir auf uns selber zurückgeworfen, zumal die behaupteten unendlichen Chancen nicht allen gleichmäßig zur Verfügung stehen. Stichwort: neue Ungleichheiten. Wir haben alle Möglichkeiten und damit keine, weil wir uns alles offenhalten wollen und uns keiner sagt, "wohin" - was wir uns aber auch nicht mehr vorschreiben lassen würden. "Das Individuum, das sich gestern noch durch seine Zugehörigkeiten bestimmte, definiert sich heute durch seine Wahlentscheidung" (Ehrenberg 2011).
Wir kämpfen nicht mehr wie in früheren Jahren gegen Macht, Autoritäten und Institutionen, sondern mit uns selber, und wenn nicht, sind wir mit einer Leere konfrontiert, die auch nicht leichter auszuhalten ist. Der Wegfall vertikaler Strukturen und der Niedergang der Autorität werfen den Einzelnen auf sich selber zurück, führen zu Richtungslosigkeit und im schlimmsten Fall zu Borderline und verwandten Erkrankungen. Sie gehören zu den "Wahlerkrankungen der Gesellschaft des Menschen als Individuum" (Ehrenberg 2011 mit Bezug auf A. Zempleni).
Mit dieser Bewegung hat sich auch der Alleinvertretungsanspruch der Medizin für psychiatrische Versorgung mittlerweile mehr als relativiert. Die Psychiatrie muss sich mit den Angehörigen an einen Tisch setzen, und diese fordern zudem politische Mitsprache. Ebenfalls die Betroffenen als Psychiatrie-Erfahrene. Rechtliche und ethische Prämissen wurden in zahlreichen UN-Konventionen niederlegt (siehe auch Madrider Erklärung der europäischen Ärzteschaft zur Achtung ärztlicher Beteiligung an Folter), zuletzt in der UN-Behindertenrechtskonvention von 2008.
"Wir kämpfen nicht mehr wie in früheren Jahren gegen Macht, Autoritäten und Institutionen, sondern mit uns selber"
Im Unterschied zur Zeit der Aufklärung hat der Staat keine "Vernunfthoheit" (mehr) (BVG-Urteil, April 2011). Allgemein musste sich auch die Wissenschaft und damit auch die Medizin "Relativitäten" (Einstein) und "Unbestimmtheiten" (Heisenberg) stellen. Es geht im Umgang gerade mit lebendigen Systemen und den Menschen nicht um "Maximales" gleich Perfektes, sondern um "Optimales" gleich angepasstes und angemessenes Vorgehen. Während noch bis vor kurzem die Verordnung von Medikamenten als das Nonplusultra guter Therapie galt, entpuppte sich die Wirkung von Psychopharmaka mittlerweile als "Erfolgsmythos" (Weinmann 2008; Aderhold 2007 ff.). Psycho- bzw. soziotherapeutische Interventionen gerade im Kontext von Hometreatment stellen sich als mindestens genauso wirksam heraus. Der früher so genannte "komplementäre Bereich" mausert sich durch Verträge zur Integrierten Versorgung (IV) zu einem ernst zu nehmenden Konkurrenten bisheriger stationärer psychiatrischer Versorgungsstrukturen. In Regionen mit "regionalen Budgets" verlagert sich das Rückgrat psychiatrischer Versorgung auf Hometreatment mit ambulanten und teilstationären Strukturen< während der Bedarf an Betten zum Teil drastisch zurückgeht (Geesthacht, Dithmarschen, Steinburg). Die alten Gewissheiten (stationäre Versorgung) werden zu Institutionen, die Patienten nach Seligmann "Hilflosigkeit beibringen" und dadurch sich therapeutisch selber infrage stellen (Seligmann 1979). Habermas stellte schon in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts fest, dass Profis nicht integrieren können. "Integrieren können nur die Bürger" (Dörner). Sie helfen "einfach so, weil es sich so gehört", weil es so angemessen ist (s. auch Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten 2010).
Und das, was sich in der Klinik fein säuberlich auseinanderentwickelt
hat (Spezialisierung) und zum Teil getrennt wurde
(Augemeinpsychiatrie, Gerontopsychiatrie, Sucht, geschlossene Station,
offene Station, weiterführende Station, Reha-Bereich, Psychotherapie,
Soziotherapie, Ergotherapie, Pflege ...) erweist sich beim
Zusammentreffen mit dem Alltag eines Patienten und seiner Familie im
Kontext des sozialen Raumes als Kunstprodukt: Der Alltag eines
Patienten und einer Familie ist mitnichten spezialisiert.
Symptomkonstellationen geben sich einander die Hand (Sucht,
Depression, psychotische Symptomatik, Zwangssymptome ...) und selbst
Patienten, die im Fokus der Behandlung stehen, tauschen mit anderen
Familienmitgliedern die (Patienten-)Rolle. Die gut voneinander
abzugrenzenden, wohl sortierten Diagnosen von früher gibt es nach den
Untersuchungen von Ehrenberg auch auf klinischer Ebene nicht mehr
("Klinik der Heterogenität" [Ehrenberg 2011]). Psychotherapeutische
Interventionen wirken sich "sozial" aus, und soziale Interventionen
stellen sich als psychotherapeutisch wirksam heraus. Änderungen im
sozialen Raum wirken Halt gebend, selbstwertsteigernd und/oder
anregend, werden adaptiert, assimiliert bzw. akkommodiert (Piaget).
Prozesse "draußen" werden zu Prozessen im Innern und umgekehrt. Die
Lebenswelt wird verkörperlicht, und das Verkörperlichte "verflüssigt"
sich in den Beziehungen des sozialen Raumes. Materielles (auch
Medikamente) verändert über die Person des psychiatrisch Tätigen
(Arzt, Psychologe, Sozialarbeiter, Pflegekraft, Ergotherapeut ...) das
Beziehungsgefüge einer Familie, das als Wirkgefüge zu behandelnde
Symptome hervorbrachte. Entsprechend lässt sich die Wirkung von
Medikamenten durch entsprechendes Verhalten steigern (Placeboeffekt)
oder auch überflüssig machen.
Das berufliche Tun verändert sich
"Der Beruf, den wir gelernt haben", schreibt eine Psychiaterin, "ist nicht mehr der, dessen Ausübung man von uns fordert: Wir müssen mobil und sehr aktiv sein, in verschiedenen Pflegeeinrichtungen und auf verschiedene Weisen arbeiten, während man uns im Wesentlichen eine statische institutionelle Praxis mit Langzeitpatienten gelehrt hat" (Ehrenberg 2011).
Mit den veränderten Bedingungen verändert sich das berufliche Tun. "Der Kliniker muß sich dem Sozialen gegenüber öffnen und sein Büro verlassen, um auf die entsprechenden Bevölkerungsschichten zuzugehen, während der Sozialarbeiter sich gegenüber der Klinik öffnen muß" (Ehrenberg 2011). Der Psychologe muss sich Körperlichem öffnen, der somatisch orientierte Arzt Psychosozialem. Für den Alltag eines Menschen in einer Familie braucht man ohnehin "all in one"-Mitarbeiter oder "Breitbandpsychiater", die in der Lage sind, in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich zu intervenieren (von der Beseitigung einer Verstopfung im Badezimmer oder WC, über das Ordnen des Chaos in einer Wohnung bis hin zu "offenen Dialogen", motivierender Gesprächsführung, Community Reinforcement Approach [CRA] und eventuell medikamentöser Verordnung ...). Der Kontext (Lebensgeschichte, Familie, sozialer Raum) entscheidet darüber, ob Symptome sinnvoll sind, bekämpft oder als etwas zu Akzeptierendes hingenommen werden müssen. Symptome, die im Kontext der Klinik als pathologisch eingestuft werden, können sich im Kontext des Alltags als Ausdruck einer schwierigen, inkonsistenten Lebenslage zeigen, die nicht über einen individuellen Ansatz bekämpft werden können, sondern sich besser über entsprechende Interventionen im sozialen Raum auflösen lassen. Die Hartnäckigkeit bestimmter Symptome kann sich aus deren Notwendigkeit im Kontext ergeben. Und erst durch Aufsuchen des Patienten in seinem Lebensfeld mit einem mobilen Kriseninterventionsteam (Hometreatment) wird Psychiatrie wirksamer, aber auch nachdenklicher, reflektierter und vielleicht auch bescheidener.
Diese Chancen für die Psychiatrie und für psychiatrisch Tätige
eröffnen sich einem jedoch nur dann, wenn man nicht mit
althergebrachten Konzepten, die im Kontext von Kliniken erfunden
wurden, an neue Situationen herangeht, sondern sich verunsichern lässt
und sich offen macht, für neue Erfahrungen, neue Perspektiven und
veränderte Umgangs- und Vorgehensweisen.
Psychiatrie neu entdecken
Vor zirka dreißig Jahren wurde die "Auflösung der Anstalten" gefordert. Zunächst wurden die Langzeitbereiche "deinstitutionalisiert", wenn sich diese Entwicklung auch nur an einigen wenigen Orten im ursprünglich gemeinten Sinn vollzogen hat (z.B.: "Ende der Veranstaltung" in Gütersloh; Auflösung von Kloster Blankenburg in Bremen). Durch die jüngsten Entwicklungen (regionales Budget, IV-Verträge, selbst die "guten" Absichten hinter dem "neuen Entgeltsystem") werden die akuten Behandlungsbereiche der Psychiatrie erfasst. Was sich in anderen Ländern (Skandinavien, England, Australien, Frankreich, Italien [stellenweise] ...) schon vollzogen hat, wird auch in Deutschland Realität werden. Es geht aber nicht nur um die Auflösung der Anstalten, es geht nicht nur um Behandlung im Lebensfeld, es geht darum, beim Ausprobieren neuer Versorgungsformen als Begegnungsformen Psychiatrie neu zu entdecken.
1. Es geht um das "Post", das "Nach" einer konventionellen Psychiatrie. Die Vorgehensweisen und das Handwerkszeug für mobile Kriseninterventionsteams und das Arbeiten im sozialen Raum müssen erfasst und dargestellt werden: Was mache ich in der Wohnung bzw. im Haus eines Patienten, wenn ich "Guten Tag" gesagt habe. Wie nehme ich Kontakt auf zu den Nachbarn, zum Arbeitgeber, und wie entwickle ich Beziehungen im sozialen Raum, die lösen, entwickeln und entfalten können. All dies muss als Handwerkszeug neu gedacht und aufgeschrieben werden, weil der Patient sich mit seinen Symptomen im Kontext zeigt, er auf ihn einwirkt und umgekehrt. Dabei werde ich womöglich sogar eine neue Sprache entwickeln müssen und neue Klassifikationen. In den Vordergrund rücken Beziehungen bzw. ein Beziehungsgefüge, das als Wirkgefüge Verhalten und Symptome hervorbringt.
2. Außerdem verhält sich "Post-Psychiatrie" zu "Psychiatrie" wie "Postmoderne" zu "Moderne". Im Zuge der Deinstitutionalisierung vor allem der Langzeitpatienten aus den großen Anstalten wurden diese Aspekte schon vor Jahren durchdekliniert. Durch die Ausweitung und Ausbreitung von Hometreatment wird der Bedarf an stationären Betten zurückgehen, und die Akutpsychiatrie wird eine ähnliche Entwicklung durchmachen wie die einstigen Langzeitbereiche der großen Anstalten. Dadurch gerät auch vieles ins Wanken, was bisher für psychiatrisch Tätige unverrückbar feststand: Nosologie, Diagnostik, Klassifikation, Therapie. Das so genannte Objektive muss sich beim Hausbesuch in der Begegnung mit dem Patienten und seiner Familie "bewähren" oder "untergehen", weil es zu den Kunstprodukten zählt, deren Berechtigung der klinische Alltag schuf. Der Patient und seine Familie entscheiden quasi an der Haustür, ob sie dieses oder jenes Konzept "hereinlassen" oder auch nicht. Das Objektive, repräsentiert durch den Psychiater, wird durch die subjektive Sicht des Patienten und seiner Familie relativiert: Einiges wird bestätigt, anderem widersprochen oder auch nur teilweise zugestimmt. Ähnlich wie die Verlängerung der Lebenszeit sowohl dem Fortschritt der Medizin als auch den Verbesserungen der Lebensverhältnisse geschuldet ist, spricht durchaus einiges für die These, dass es sich bei den Fortschritten der psychiatrischen Versorgung ähnlich verhält. Die Wahrheit kann ohnehin nach Rorty nicht gefunden werden, sie wird eher "gemacht". Damit menschliche Not gelindert und Schmerzen und Demütigungen vermieden werden können, empfiehlt er stattdessen Solidarität. "Psychotherapie in diesem Sinne ist immer Eigentherapie, zu denken als das Entwickeln von Fähigkeiten, immer mehr zu sehen, daß traditionelle Unterschiede z.B. zwischen gesundem Menschenverstand und Psychopathologie vernachlässigbar sind im Vergleich zu den Ähnlichkeiten im Hinblick auf Schmerz und Demütigung. Daraus erwächst Solidarität als die Fähigkeit, auch Menschen, die himmelweit verschieden von mir sind, doch als vergleichbar mit mir zu sehen und so zu handeln, daß Leiden geringer wird und daß die Demütigungen von Menschen durch Menschen vielleicht aufhören" (Rorty 1995).
Es wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Bisher wenig Beteiligte werden in Prozesse mit einbezogen (Nachbarn, Arbeitgeber ...), die sie bisher nur zuschauend, am Rande stehend, erlebten. Bisher Unvorstellbares wird möglich (IV-Verträge mit Trägern der Gemeindepsychiatrie, neue Möglichkeiten im Kontext regionaler Budgets, Arbeitstherapie in Firmen, virtuelle Plätze in Firmen ...). Patienten, die bisher geschont wurden, werden im Sinne von "peer support" zu Mitarbeitern von Behandlungsprogrammen (z.B. über Persönliche Budgets, EX-IN-Projekte). Weil Hometreatment wirksamer ist als konventionelle psychiatrische Behandlung, können Patienten in ihrem Lebensfeld verbleiben, wodurch sich auch der Bedarf an stationärer Eingliederungshilfe erübrigt (Inklusion statt Exklusion). 24-Stunden-Versorgung wird zukünftig in Krisenwohnungen bzw. Wohngruppen durchgeführt werden, die im Stadtteil eingebettet. Alte Konzepte tauchen jetzt schon in einem neuen Gewand auf (z.B. Antabusgabe im Rahmen des Community Reinforcement Approach, "crisis families" als Spielart von Familienpflege), und die Erfahrungen im akuten Hometreatment wandeln die Therapie auf den Stationen. Die Klinik wird alltagsnäher (z.B. Küchentherapie auf Stationen nach dem Normalisierungsprinzip), und der Alltag wird therapeutischer. Wenn dieser Übergang und die Auseinandersetzungen zwischen Geeignetsein im klinischen Kontext und Tauglichkeit für den Alltag gut gelingen, können die therapeutischen Potenzen, die sich seit über zweihundert Jahren in Kliniken akkumuliert haben, wieder Teil des Alltags werden und Menschen in die Lage versetzen, sich selber wieder "psychotherapeutisch" helfen zu können. In Turku (Finnland) ist nach Einführung von Hometreatment und "offenen Dialogen" die Inzidenz für Schizophrenie im Laufe der Jahre "wesentlich zurückgegangen" (Alanen 2001; Seikkulla/Arnkil 2007). Um derartige an der Person und ihrem Umfeld ausgerichtete (individuelle) Entwicklungen in Gang setzen zu können, braucht es kleine, organisatorische Einheiten, die im Vergleich zu großen, trägen Institutionen über die notwendige Flexibilität, Wendigkeit und Anpassungsfähigkeit verfügen. Während etablierte Einrichtungen durch - ihre schiere Größe beeindrucken (Tanker, Dinosaurier), die unterschiedliche Hilfeformen durch räumliche Gegebenheiten (Räume für ...) ausdrücken, verfügen "life space worker" (Mitarbeiter im Hometreatment) über Wissen und Know-how (Handwerkszeug), das sie je nach Person, Lebensfeld und Situation flexibel anwenden und das sie in der konkreten Begegnung (Subjektivität des Lebens) verändern, anpassen, verwerfen oder ausweiten. Entscheidungen werden vor Ort spontan getroffen, um Gelegenheiten, wenn sie sich bieten, nicht verstreichen zu lassen, sondern nutzen zu können ("tipping points"). Mitarbeiter werden nicht in einem festen Korsett der Organisation gehalten, sondern durch Vertrauen, dass sie verantwortlich und fachlich richtig handeln können, wozu sie eigene Entscheidungs- und Spielräume brauchen. Dies führt nebenbei zu größerer Arbeitszufriedenheit.
Und jede dieser skizzierten Entwicklungen muss jeweils ethisch und rechtlich abgewogen und in ihren Konsequenzen zu Ende gedacht werden. Und nicht jede dieser Entwicklungen ist per se erstrebenswert. IV-Verträge können sich zum Beispiel für den einzelnen Patienten als heilsam erweisen, können jedoch, wenn sie nicht im Kontext der lokalen und regionalen Entwicklung gesehen werden, Territorialschäden mit Fernwirkung anrichten (Aufhebung von Versorgungskreisen mit Versorgungsverpflichtung, gemeindeferne Behandlung ...).
Neues taucht neben Altem auf, und im Übergang ist alles möglich: Vorhandene Strukturen können drastisch ausgeweitet werden (in Hamburg werden zusätzlich 400 psychiatrische Betten von den Kliniken gefordert!), und in Einzelfällen können übliche Bettenmessziffern erheblich unterschritten werden, wie z.B. in Geesthacht (22 Betten für 186.000 Einwohner). Unsicherheiten und Chancen weichen alten Gewissheiten und punkten mit "offenen Ausgängen" statt mit festgelegten Prognosen (an die sowieso niemand mehr glaubt).
Alle diese neuen Erfahrungen, resultierend aus Hometreatment und den
Prozessen der Deinstitutionalisierung, wurden in England von Peter
Campbell, Patrick Bracken und Philip Thomas als Postpsychiatrie
zusammengefasst (Bracken, in: Brimblecombe 2004).
Landschaft im Umbruch
Die Konsequenzen aus diesen neuen Erfahrungen werden auch politische Veränderungen nach sich ziehen. Und die politisch ausgelösten Veränderungen werden wiederum zum Kontext der Entwicklung von einzelnen Menschen mit ihren Familien im sozialen Raum. Woran können wir uns in einer Landschaft im Umbruch halten?
Auch und gerade wenn wir verpflichtet sind, global zu denken, heißt die oberste Prämisse lokal handeln. Genauso wie die Lebenswelt objektiv unsere Subjektivität bestimmt, können nur Konzepte, die lokal angepasst und verankert sind, Garant sein für gute Psychiatrie. Auch wenn "Symptome" über den ICD oder das DSM globalisiert werden, führen vor allem Arrangements vor Ort zu Lösungen, die, wie vieles, fördernd (oder auch verhindernd) in den sozialen Raum hineinstrahlen. Dabei muss der Mensch in seiner Autonomie, die aber nicht absolutistisch, sondern immer "bezogen" ist - auf sein Lebensfeld, auf den sozialen Raum -, im Mittelpunkt stehen. Schon deshalb sollten die unterschiedlichen Hilfen so sein, dass gewaltsames Vorgehen vermieden werden kann bzw. Hilfe sollte möglichst wenig restriktiv sein (UN-Konventionen, Madrider Erklärung). Inklusion ist oberstes, auch gesetzlich verankertes Gebot.
"Auch und gerade wenn wir verpflichtet sind, global zu denken, heißt die oberste Prämisse lokal handeln"
Der Zugang und die Verfügbarkeit regionaler Versorgungsstrukturen sollten für alle Bürger aus der Region gleich gut und barrierefrei sein. Um Über- und Fehlversorgungen, die nicht "Hilflosigkeit" beseitigen, sondern fördern zu vermeiden, sollte das Versorgungssystem nach den "schwächsten, vulnerabelsten und störanfälligsten" Bürgern der Region ausgerichtet sein (nach Dörner und Thornicroft/Tansella [1999]: "well-targed"). Jeder andere Einstieg führt zu Überversorgungen und zur Vernachlässigung derer, die die Hilfen am dringendsten benötigen (Gesetz nach Hard; siehe auch Prahm 2011). Zu wenig Hilfe ist schädlich, aber auch zu viel, wobei das Gleichgewicht bei jedem abhängig von Situation und Zeitpunkt jeweils neu ausgelotet werden muss.
Und zusätzlich tauchen neue Unübersichtlichkeiten auf: Auf dem Weg zur Autonomie lernen die Bürger, Akteure der eigenen Veränderung zu werden. Ihre Leiden dabei, ihre Ängste bringen sie in Worten zum Ausdruck, die sie aus dem Garten der psychiatrischen Pathologie holen. Dies ist umso leichter, als die Psychiatrie im Zuge dieser Umwälzungen Teil einer allgemein anerkannten und anzustrebenden seelischen Gesundheit geworden ist. Dies trägt zur Entstigmatisierung von psychisch kranken Menschen bei, hat aber die Nebenwirkung, dass es schwerfällt, zwischen leichter und schwerer erkrankten Menschen zu entscheiden (die neuen Wahlerkrankungen). Drei Viertel der zur Verfügung stehenden finanziellen Ressourcen fließen mittlerweile in die Behandlung leichter gestörter psychisch kranker Menschen, während für die Behandlung schwer psychisch kranker Menschen lediglich ein Viertel zur Verfügung steht (Prahm 2011). "So wiederholen wir", nach Prahm, "in gewisser Weise die Ausgrenzung schwer psychiatrisch Kranker." Er fordert deshalb eine neue Psychiatrie-Enquete (Prahm 2011). Bis dahin haben wir die Aufgabe, Unterscheidungen zu treffen, wie diese eklatanten Fehlentwicklungen korrigiert werden können.
Wenn Unterstützung notwendig ist, sollte sie verlässlich und
kontinuierlich sein, angepasst an die unterschiedlichen Situationen im
Verlauf einer Entwicklung. Was Milieutherapie im Kontext der Klinik
war (das nach Finzen [2002] am meisten unterschätzte therapeutische
Wirkprinzip in der Klinik), ist der soziale Raum für eine Psychiatrie,
die auf Hometreatment setzt. Alle therapeutischen Strategien müssen
sich im Alltag des Patienten und seiner Familie bewähren bzw. müssen
an der Normalität des Alltags angepasst sein und/oder ihn ermöglichen.
Dies gilt für Therapie wie für Eingliederungshilfe, Pflege etc. Schon
deshalb sollte zum Beispiel zukünftig "die Teilhabe an Arbeit" dort
stattfinden, wo auch andere Bürger arbeiten, in Betrieben, Firmen und
Unternehmen (virtuelle Werkstattplätze und Zuverdienstplätze, in
Betriebe "ausgelagerte" Arbeitstherapie, Arbeitsassistenz ...). Damit
gibt man außerdem Bürgern en passant die Möglichkeit zu integrieren,
was Profis schlecht oder gar nicht können.
Aufgabe der Profis: Coach sein für die Schwächsten
Was aber ist mittlerweile normal?
Nicht mehr andere oder eine anonyme Autorität, sondern der Bürger selbst soll heute Akteur seiner eigenen Lebensgeschichte und seines Lebenslaufes sein. Er darf und soll seine Talente und Fähigkeiten entwickeln und gewinnt damit die Möglichkeit, sein Leben selber bestimmen zu können. Mit dieser Möglichkeit zur autonomen Lebensgestaltung "muß das 'Selbst' sich behaupten, die Persönlichkeit sich zeigen, das Individuum reflektierend werden, und es muß sich positiv wertschätzen, über hinreichend tragfähige narzißtische Ressourcen verfügen, um handeln zu können [...]. Die Autonomie nimmt das Sein des Menschen in Anspruch und nicht nur seinen Körper" (Ehrenberg 2011).
Wir können Praktiken entwickeln, die darauf abzielen, Fähigkeiten zu entwickeln, Akteure der eigenen Veränderung zu sein. "Wir leben nicht mehr in einer Zeit der disziplinarischen Dressur der Körper, die fügsam und nutzbar gemacht werden sollen, wie eine berühmte Formulierung Michael Foucaults besagt, sondern in einer Welt, in der es darum geht, die persönlichen Ressourcen zu mobilisieren und zu steigern, indem man politische Maßnahmen begünstigt, die den Individuen ermöglichen, die Agenten ihrer eigenen Veränderung zu sein" (Ehrenberg 2011).
Dies sind die Rahmenbedingungen, die eine Gesellschaft heute zur Verfügung stellen muss, um die sozialen Fragen zeitgemäß zu lösen und den Einzelnen in seinem Lebens- und Entwicklungsprojekt nicht alleinzulassen. Chance und Schutz müssen dabei auf gesellschaftlicher Ebene neu ausgelotet werden. Es ist Aufgabe psychiatrisch Tätiger dafür zu sorgen, dass psychisch kranken Menschen dafür angemessene Rahmenbedingungen zur Verfügung stehen, die sie auch nutzen können.
"Alle therapeutischen Strategien müssen an der Normalität des Alltags angepasst sein und ihn ermöglichen"
Die Gesellschaft fordert von jedem ihrer Bürger, dass er Manager und Unternehmer seiner Person wird. Außerdem soll er auch das Marketing für die Vorzüge seiner Person übernehmen. Manchen gelingt das gut. Sie sind die Gewinner. Anderen fehlt dazu jede Kompetenz. Sie gehören zu den Verlierern. Dazu zählen insbesondere psychisch kranke Menschen. Wie kann man darauf zeitgemäß reagieren?
Zuallererst müssen diese "Paradoxien des Kapitalismus" nach Axel Honneth (2002) anerkannt werden. Wenn der Einzelne mit einer solchen Aufgabe überfordert ist, müssen psychiatrisch Tätige einspringen, nach Auswegen suchen und/oder diese Aufgabe stellvertretend übernehmen. Dabei können sie sich auf Konzepte stützen, die sich bei der Behandlung von Borderline-Störungen, bei der Tätigkeit im Sozialraum und auch bei der Enthospitalisierung bewährt haben. Es geht zunächst um die Entdeckung und Entwicklung verborgener Ressourcen, es geht um die Entwicklung von "skills". Sobald man die Fähigkeiten einer Person entdeckt und entwickelt hat, muss man sich auf den Weg machen, sie mit den Valenzen im sozialen Raum zusammenzubringen, damit sie realisiert werden können ("opportunities"). Folgt man sozialräumlich orientierten Handlungsstrategien, gilt es jedoch schon im Vorfeld, bevor ein konkreter "Fall" eintritt, Valenzen oder Gelegenheiten auf Vorrat im umgebenden sozialen Raum zu sammeln, damit man bei Eintritt eines solchen handlungsfähig ist. Wie bei der Deinstitutionalisierung gelernt, sind psychisch kranke Menschen mit der Rolle, ihr eigener Unternehmer oder Manager zu sein, überfordert. Diese Rolle müssen psychiatrisch Tätige stellvertretend übernehmen, so wie Personen des öffentlichen Lebens auch einen Manager oder Coach haben. Bei Bedarf müssen psychiatrisch Tätige also das Coaching und Marketing übernehmen und eventuell sogar Zuverdienst- oder Integrationsfirmen gründen, wenn es der Markt nicht anders zulässt oder hergibt. Ohne Berücksichtigung all dieser Gesichtspunkte gelingt die "Therapie im Mikrokosmos", also im Lebensfeld des Betroffenen, nur unzureichend.
Und zu guter Letzt gehört Post-Psychiatrie auch zu den
Aufgabenbereichen der DGSP, weil sie sich die Kultivierung des
sozialen Raumes wie keine andere Organisation zur Aufgabe und zum
Programm gemacht hat. Post-Psychiatrie steht auch am Anfang einer
Entwicklung, nach der das Verhältnis zwischen Psychiatrie und
Gesellschaft ein anderes sein wird. Schon allein die demografische
Entwicklung und die Konsequenzen, die Bürger daraus ziehen, werden
grundsätzlich das Verhältnis der Gesellschaft zu ihren Bürgern mit
abweichendem Verhalten (egal ob dement, psychotisch, abhängig,
depressiv ...) verändern. Es gilt, diese Prozesse im Sinne von
Inklusion zu nutzen, schon allein deshalb, weil wir 200B die
UN-Behindertenrechtskonvention verabschiedet haben. Und ich spreche in
diesem Zusammenhang bewusst von "Wir", weil niemand ein "Oben" und
"Unten" wollen kann, dann, weil "Inklusion" alle betrifft und weil
"Wir" nach Opaschowski für die Zukunft steht (und "Ichlinge" keine
Chance mehr haben) (Opaschowski 2010). Und letztendlich steht "Wir"
für das Soziale, das sich die DGSP zur Aufgabe gemacht hat.
Dr. Matthias Heißler ist Chefarzt der Psychiatrischen Abteilung
im Johanniter-Krankenhaus in Geesthacht.
Kontakt: Johanniter-Krankenhaus, Am Runden Berge 3, 21502 Geesthacht;
Tel.: (041 52) 179-901; Fax: (041 52) 179-939; E-Mail:
Heissler@johanniter-krankenhaus.de
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Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
- Hometreatment erwünscht?
- Das mobile Krisenteam
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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 134 - Heft 4, Oktober 2011, Seite 4 - 9
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Oktober 2011
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