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ARTIKEL/439: Interview - Neuroleptika reduzieren und absetzen ... aber wie? (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 147 - Heft 1/15, Januar 2015
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Neuroleptika reduzieren und absetzen - aber wie?

Interview von Michaela Hoffmann und Dörte Staudt


Im Oktober 2014 hat die DGSP die Broschüre "Neuroleptika reduzieren und absetzen" herausgegeben. Erarbeitet wurde sie von Mitgliedern des trialogisch besetzten Fachausschusses (FA) Psychopharmaka der DGSP. Die Nachfrage war und ist riesig. Die SP-Redaktion befragte die Sprecherin des Fachausschusses Frau Seroka und FA-Mitglied Wassili Hinüber zu Hintergründen und Erfahrungen.


SP: Die Broschüre ist seit kurzem fertig und wird stark nachgefragt. Wie fühlt sich das an?

Seroka: Sehr gut, wir freuen uns über diese Resonanz, zeigt sie doch auch, wie aktuell das Thema ist und dass der Bedarf nach einem Ratgeber doch sehr hoch ist.

Hinüber: Bisher gab es nur positive Rückmeldungen. Überrascht hat mich auch die positive Resonanz aus Fachkreisen.

SP: Was war für den Fachausschuss Psychopharmaka der Auslöser, diese Arbeit anzugehen?

Seroka: Nach Fertigstellung des "Memorandums zur Anwendung von Antipsychotika"der DGSP (2010) und den zum Teil heftigen, sowohl positiven, aber auch kritischen Reaktionen darauf, war dem Fachausschuss sehr schnell klar, dass die Diskussion nicht bei einer eher theoretischen Abhandlung stehen bleiben konnte. Es fehlte eine Umsetzung in die Praxis, eine Hilfestellung für die vielen Betroffenen, aber auch für Profis, Angehörige und andere Interessierte.

Hinüber: Für mich persönlich war wichtig, das Thema Neuroleptika-Reduktion zu "enttabuisieren". Noch immer erlebe ich Patienten, die seit vielen Jahren die gleiche, teilweise vom Interaktionspotenzial her gefährliche Neuroleptika-Dosis verschrieben bekommen, weil viele Ängste mit der Reduktion verbunden sind, vor allem bei Angehörigen und Fachpersonal. Hier Hilfestellung zu leisten, war mein persönlicher Auslöser.

SP: Sie haben diesen Ratgeber zum Reduzieren und Absetzen von Neuroleptika sehr bewusst trialogisch erarbeitet. Das war sicher kein ganz einfacher Entstehungsprozess in der Diskussion zwischen Menschen, die einen so unterschiedlichen Blickwinkel haben?

Seroka: Es war eher bereichernd, denn unterschiedliche Blickwinkel bedeuten auch neue Aspekte. Kontroverse Diskussionen gab es nicht entlang der Linie trialogische Besetzung, sondern mehr zu inhaltlichen Fragen, wie z.B.: Können wir unsere Hinweise und Ratschläge auch bei schweren Krankheitsverläufen verantworten? Überhaupt war das Thema der Verantwortung immanent bei allen Diskussionsprozessen.

Hinüber: Es gab Meinungen und Meinungsverschiedenheiten, Missverständnisse und Ideen, die unberücksichtigt bleiben mussten, um die Broschüre lesbar zu gestalten. Nach den Wochenend(!)-Terminen waren wir tatsächlich oft "geschafft", aber es ist trialogisch etwas Wichtiges entstanden.

SP: Ganz pragmatisch: Wie war der Arbeitsprozess?

Seroka: Begonnen hat die Arbeit mit zwölf, dreizehn Personen, von denen letztendlich dann zehn kontinuierlich mitgearbeitet haben.

Hinüber: Außer während der Zusammenkünfte gab es für jeden auch Hausaufgaben und einen regen Mail-Verkehr untereinander.

SP: Mussten die Beteiligten Kompromisse schließen, oder ist es so, dass die Perspektive von allen - Betroffenen, Angehörigen und Professionellen - widergespiegelt wird? Hat sich für die Mitglieder im Fachausschuss durch die Diskussion auch ein neuer Blick im Umgang mit Neuroleptika ergeben?

Seroka: Die Frage müsste jedes einzelne Mitglied des Fachausschusses beantworten. Sicherlich hat sich die Sensibilität bezüglich der gesamten Problematik erhöht.

Hinüber: Kompromisse mussten geschlossen werden in teilweise zähen Verhandlungen, diese wurden dann aber auch von allen mitgetragen. Für mich war die Perspektive aus Sicht der Angehörigen und Erfahrenen wichtig, was unseren Psychoseseminaren zugute kommen wird.

SP: Gibt es für Sie eine zentrale Botschaft der Broschüre? Wie lautet sie?

Seroka: Es muss zu einer Neubewertung der Psychopharmaka und insbesondere der Neuroleptika kommen. Ich möchte dies an einem Beispiel verdeutlichen: Die Verordnung von Neuroleptika wird ja oft auch mit einem Hinweis auf das fehlende Suchtpotenzial dieser Medikamentengruppe beworben. Dass sie aber gravierende Hirnveränderungen hervorrufen, die manchmal nur sehr schwierig wieder aufzuheben sind, und dass dieser Prozess ausgesprochen anstrengend und mühsam sein kann, wird weder von der Pharmaindustrie noch von vielen Verordnern so kommuniziert.

Hinüber: Wie schon gesagt, ist die zentrale Botschaft für mich: Keine Angst vor dem vorsichtigen Reduktionsversuch.

SP: Warum ist ein Reduzieren oder Absetzen von Neuroleptika denn überhaupt nötig? Können wir den Ärzten und Kliniken nicht vertrauen, dass sie die richtigen Medikamente und die passende Dosierung verordnen?

Seroka: Der Satz "Viel hilft viel" ist leider gerade bezüglich des Gebrauchs von Neuroleptika sehr verbreitet und gerade hier so falsch! Häufig werden zwei oder drei, aber auch durchaus noch mehr Neuroleptika bei Entlassung aus der Akutklinik verordnet. Es ist sicher auch ein Nichtwissen über die Gefahren zu hoher und zeitlich sehr langer Verordnungen von Neuroleptika. Wir nehmen dazu im Kapitel "Hirnveränderungen in akuten Psychosen und unter Gabe von Neuroleptika"ausführlich Stellung. Es gibt eindeutige Hinweise, dass langfristige Genesungen eher mit einer frühen Reduktion gekoppelt sind. Wir möchten mit unserer Broschüre auch die Profis ermuntern, sich mit neuen Erkenntnissen der langfristigen Nebenwirkungen von Neuroleptika auseinanderzusetzen.

Hinüber: Wenn wir den Verdacht haben, dass Neuroleptika auf Dauer neurotoxisch wirken können, ist es dringend notwendig, sich mit Reduktion zu beschäftigen. Man muss eben auch Forschungsergebnisse berücksichtigen, die Nebenwirkungen als gravierend beschreiben. Die Broschüre stützt sich ja auf eine große Anzahl von Untersuchungen, die Volkmar Aderhold unermüdlich zusammengetragen und vorgestellt hat. Die kann ein Arzt im Praxis- oder Klinikalltag gar nicht alle kennen.

SP: Die Handlungsempfehlungen in der Broschüre sind sehr differenziert dargestellt. Sie widmen - nach den Kapiteln zu den rechtlichen Aspekten und der Darstellung der neurobiologischen Grundlagen - ein ausführliches Kapitel dem Thema "Vor dem Reduzieren". Welche Punkte müssen da am meisten beachtet werden?

Seroka: Wir glauben, dass die innere Haltung bezüglich des Reduktionsprozesses ein den Erfolg bestimmender Faktor ist. Wesentlich ist die Einsicht, die Reduktion als einen offenen Prozess zu begreifen, der schwierig sein kann und der nicht immer gradlinig verläuft. Wenn ich vor dem Reduzieren viele Eventualitäten durchdacht und eingeplant habe, komme ich sehr wahrscheinlich besser durch schwierige Situationen. Hier gibt das Kapitel ausführlich Hilfestellungen. Wichtig ist aber auch, sich vorab zu überlegen, was an die Stelle der Medikamente treten könnte und welche Veränderungen sinnvoll sind.

Hinüber: Und ich brauche eine Vertrauensperson, die auch der behandelnde Psychiater sein darf, der die Schritte der Reduktion begleitet. Das kann durchaus ein langwieriger Prozess sein.

SP: In einem weiteren Kapitel gehen Sie konkret auf die Probleme ein, die es beim Reduzieren und Absetzen geben kann. Das liest sich manchmal wie eine Warnung. Welches sind Ihrer Erfahrung nach die größten Risiken?

Seroka: Das größte Risiko ist das zu schnelle Reduzieren. Dies kann zu einem Scheitern des gesamten Vorhabens führen. Jeder Mensch reagiert sehr individuell auf die Medikamente und somit auch auf das Reduzieren. Oft geben Menschen ihr Vorhaben auch auf, wenn sie Entzugssymptome bekommen und diese für ein erneutes Aufflammen der Erkrankung halten.

Hinüber: Oder auch das plötzliche Absetzen bei Auftreten von Nebenwirkungen. Das führt häufig zu schweren Absetzphänomenen, die dann wiederum eine Klinikeinweisung nach sich ziehen können.

SP: Andererseits macht die Broschüre auch Mut, sich auf den Weg zu machen. Ein Kapitel behandelt positive Erfahrungsberichte mit dem Reduzieren und Absetzen aus unterschiedlichen Perspektiven. Wie kann das am besten gelingen, welche Unterstützung ist notwendig?

Seroka: Geduld und kritische Selbstbeobachtung sind sicherlich wesentliche und notwendige Eigenschaften und Voraussetzungen. Hier sind nicht nur die Betroffenen gefordert, sondern auch die sie unterstützenden Menschen.

Hinüber: ... und eine Vertrauensperson, wie ich bereits erwähnte.

SP: Differenziert beschreibt die Broschüre auch alternative Möglichkeiten, mit Symptomen wie Angst oder Stimmenhören besser umzugehen und wiederkehrende neue Krisen zu vermeiden.

Seroka: Während des Absetzprozesses können Erscheinungen auftreten, die den Symptomen der Krankheit ähneln. Hier gilt es, Möglichkeiten zu erproben, in anderer Weise als bisher damit umzugehen. Die dargestellten Möglichkeiten können aber auch sehr wirksam als Vorbeugemaßnahmen eingesetzt werden. Letztendlich geht es ja darum, anstelle der Medikamente andere Verhaltensweisen zu setzen.

Hinüber: Diese Alternativen können natürlich auch schon vor Reduktion erprobt werden; dann hat man während der Reduktion schon ein Werkzeug, mit dem man bereits Erfahrung hat.

SP: Auch an die Angehörigen richtet sich ein Kapitel. Was ist da die wichtigste Botschaft?

Seroka: Angehörige haben oft schwierige Situationen erlebt, und aus großer Angst und Sorge neigen sie manchmal eher zur Medikamentengabe. Diese Ängste muss man verstehen, aber gleichzeitig auch Mut machen, den schwierigen Prozess des Absetzens doch stützend zu begleiten.

Hinüber: Die gleiche Botschaft wie an alle Vertrauenspersonen: Reduktion ist oft möglich!

SP: "Reduzieren und Absetzen in besonderen Situationen" heißt das letzte Kapitel. Es geht dort insbesondere um die Neuroleptika-Behandlung in der Gerontopsychiatrie, in Heimen und in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Welches sind dort die größten Probleme?

Seroka: Dass es dieses Kapitel überhaupt gibt und geben muss, zeigt, wo wir gesellschaftlich heute bereits stehen: Für die vielfältigsten menschlichen Probleme werden Neuroleptika als Lösung angeboten. Bereits Kindern werden sie verordnet, was äußerst gefährlich ist, in der Gerontopsychiatrie werden die alten Menschen damit ruhiggestellt, und in den Heimen wird seitens der Mitarbeiter viel zu selten der Versuch unternommen, die als chronisch krank geltenden Patienten bei Reduktions- und Absetzfragen zu unterstützen.

Hinüber: In den Heimen - Gerontopsychiatrie, Seniorenheime, Behinderteneinrichtungen - und in der Kinder- und Jugendhilfe werden noch immer häufig Neuroleptika zur Sedierung eingesetzt und sollen personelle Beziehungsarbeit ersetzen. Das wird sich womöglich erst dann ändern, wenn sich der Gesetzgeber mit diesem Thema beschäftigt. Solange es nicht überall staatliche Besuchskommissionen gibt, die diese Zustände kontrollieren und öffentlich machen, wird leider auch eine solche Broschüre wenig ändern.

SP: Und wie plant der Fachausschuss Psychopharmaka, das in der Broschüre vermittelte Wissen zu transportieren?

Seroka: Zunächst einmal wollen wir die weitere Resonanz abwarten. Es sieht so aus, dass nach der Lektüre auch der Wunsch nach Fortbildungen und/oder Veranstaltungen zum Thema wächst. Dem wollen wir gemeinsam mit der DGSP gerne Rechnung tragen.

Hinüber: Adressaten sind alle an diesem Thema Interessierten. Sie soll Mut machen, sich damit zu beschäftigen. Momentan geht es darum, diese Broschüre einem breiten Publikum bekannt zu machen. Die Jahrestagung 2014 mit dem Vorprogramm hat dem Thema ja schon Rechnung getragen; eventuell findet das Thema auch Resonanz in den Kurzfortbildungen der DGSP. Ich weiß nicht, ob die DGSP künftig auch mit einem Stand auf der DGPPN-Tagung anwesend sein wird, unsere Broschüre wäre eine wunderbare Ergänzung zu den Hochglanzprodukten der Pharmaindustrie.

SP: Frau Seroka, Herr Dr. Hinüber, wir danken Ihnen ganz herzlich für die Beantwortung unserer Fragen.


Die Fragen stellten Michaela Hoffmann und Dörte Staudt.


Die Broschüre "Neuroleptika reduzieren und absetzen" kann gegen eine Schutzgebühr von 2 Euro (zzgl. Versandkosten) per E-Mail bestellt werden unter:
dgsp@netcologne.de


Eine Download-Version finden Sie auf der DGSP-Homepage:
www.dgsp-ev.de

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 148 - Heft 2/15, April 2015, Seite 36 - 37
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autorinnen und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
Zeltinger Str. 9, 50969 Köln
Telefon: 0221/51 10 02, Fax: 0221/52 99 03
E-Mail: dgsp@netcologne.de
Internet: www.psychiatrie.de/dgsp
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Juni 2015

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