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STANDPUNKT/003: Visionen verdecken Realitäten - auch in der Psychiatrie (si)


sozialpsychiatrische informationen 2/2011

Visionen verdecken Realitäten - auch in der Psychiatrie

Von Hermann Elgeti


Zusammenfassung

Dank unserer Seele können wir der Wirklichkeit unserer Lebensumstände die Möglichkeit eines anderen Lebens entgegenstellen - im Tag- oder Nachttraum, in der Utopie oder im Märchen. Setzen wir das eine und das andere zueinander in Beziehung, durchdenken und besprechen wir es im Kreise der Mitmenschen, kann das Kraft geben für die Veränderung ungeliebter Lebensumstände. Halten wir beides getrennt, verzichten wir auf diese Kraft und tragen dazu bei, dass andere für uns bestimmen, wo es langgeht. Ein Blick auf den Lauf der Welt im Großen und seine aktuellen Ausläufer in der deutschen Sozialpsychiatrie erweckt den Eindruck, dass oft ein gespaltenes Bewusstsein die vollständige Wahrnehmung verhindert. Man begeistert sich für anspruchsvolle Visionen und blendet die vor Augen liegende Realität aus.


Eine Weltgemeinschaft mit düsteren Aussichten und blendenden Visionen

Den 2. Weltkrieg haben das nationalsozialistische Deutschland und das kaiserliche Japan auf dem Gewissen, zwei Regime, die aus ihrer rassistisch und sozialdarwinistisch geformten Ideologie nie einen Hehl gemacht hatten. Als der Krieg 1945 zu Ende ging und die Katastrophe allen vor Augen stand, wurden die Vereinten Nationen (UN) gegründet, deren Vollversammlung 1948 eine Deklaration der Menschenrechte verabschiedete. Die Länder mit abendländischer Kulturtradition waren dabei führend und setzten Grundvorstellungen durch, die auf die europäische Aufklärung zurückgingen. Im Vordergrund stand dabei das Individuum als Rechtsperson mit seinen Freiheiten. Die Rechte des Einzelnen in der Gemeinschaft waren bedeutsamer als seine Pflichten. Immerhin wird in der Präambel dieser Deklaration die Zugehörigkeit aller Menschen zur menschlichen Familie (family of man) betont, ein Verwandtschaftsbegriff, der die Idee einer ursprünglichen Solidarität aller Menschen untereinander beinhaltet. Die Geschichte der seither vergangenen 60 Jahre enthüllt, wie weit wir von dieser Vision, die weltweite ökonomische Gerechtigkeit und solidarische Hilfsbereitschaft für Notleidende voraussetzt, entfernt sind.(1)

Nach der Implosion der Sowjetunion und der turbokapitalistischen Umformung des nur noch offiziell kommunistischen China gibt es keinen Wettbewerb mehr um das beste Gesellschaftssystem. Weder Terrornetzwerke noch Schurkenstaaten sind eine wirkliche Alternative. Die USA sind - eher militärisch als wirtschaftlich - als einzige Supermacht übrig geblieben. Sie forcierten nach der Wahl von Ronald Reagan zum Präsidenten 1981 die Vereinheitlichung der Welt nach ihrem - nennen wir es: neoliberalen - Strickmuster, eine kapitalistische Globalisierung mit unabsehbaren ökologischen, ökonomischen und kulturellen Folgen. Die in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg recht erfolgreiche Marke »Soziale Marktwirtschaft«, eine Kombination von global ausgerichteter Wachstumslogik und national geübter Sozialpartnerschaft, wird als Relikt des »alten Europa« verspottet.

Die Länder der »Dritten Welt« waren die hauptsächlichen Verlierer der neoliberalen Form der Globalisierung und erlitten in den 1990er-Jahren eine schreckliche Armutskrise. In der Folge zerfielen in Afrika und einigen Teilen Asiens zahlreiche wirtschaftliche und politische Systeme. Millionen von Migranten verlassen seitdem ihre Heimat auf der Flucht vor Armut und Hunger, Krieg und Verfolgung. Da beschlossen die UN 2002 im Rahmen ihrer »Millenniumsziele« ein ehrgeiziges »Aktionsprogramm 2015«. Bis zu diesem Jahr soll der Anteil der in Hunger und Armut lebenden Weltbevölkerung halbiert sein. Aber gegen die handfesten wirtschaftlichen Interessen der reichen Länder ist da nichts zu machen, und deren Hilfsbereitschaft für ihre armen Verwandten ist seit 1989 mit dem Ende des »Kalten Kriegs« noch einmal merklich gesunken.(2)

Die Völkerfamilie erscheint inzwischen als eine Horde privater Unternehmen, die ständig mit- und gegeneinander kämpfen, entweder um den größtmöglichen Profit oder ums nackte Überleben. Die Atmosphäre des Kampfes aller gegen alle setzt sich innerhalb der Gesellschaften der verschiedenen Länder fort und erobert Schritt für Schritt auch das Denken und Handeln der einzelnen Menschen. Wer will behaupten, er sei davon verschont geblieben? Einige Regionen stärken ihren Wohlstand auf Kosten anderer - und auf Kosten der natürlichen Ressourcen der gesamten Menschheit. Im Rahmen ihres Bedarfs nehmen sie auch leistungsfähige und mobile Migranten aus wirtschaftlich abgehängten Gebieten auf, deren Entwicklungsmöglichkeiten sie damit zusätzlich schwächen. In den trostlos erscheinenden Problemzonen der Welt entwickelt sich nur allzu leicht eine »sozial-toxische Umwelt« mit Gewaltbereitschaft und Fremdenfeindlichkeit, Vandalismus und Verwahrlosung.


Das öffentliche Gut Gesundheit: Sagenhaftes Wissen - trostlose Realitäten

Was unserer Gesundheit guttut, ist bestens bekannt. In Europa sank die Kindersterblichkeit und stieg die Lebenserwartung mit besserer Nahrung und sauberem Wasser, mit gesellschaftlichem Wohlstand und sozialer Unterstützung in Kindheit und Alter, bei Armut und Krankheit. In Westeuropa sterben höchstens 5 von 1000 Kindern vor dem fünften Lebensjahr, in Ländern wie Niger, Sambia oder Mali sind es 20 von 100. Parasiten und Infektionskrankheiten, vor allem Tuberkulose, Malaria und HIVInfektionen fordern in der Weltbevölkerung immer noch die meisten Opfer, vor allem in Subsahara-Afrika. Dort beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung weniger als 50 Jahre, in den »entwickelten« Ländern dagegen fast 80 Jahre. So sieht die Wirklichkeit der vereinheitlichten Welt im Bereich der Gesundheit aus.(3)

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist eine von vielen UN-Einrichtungen und hat 1986 die sogenannte Ottawa-Charta »Gesundheit für alle!« beschlossen; in ihrer Nachfolge wurde 1988 das WHO-Projekt »Gesunde Städte« und 1992 die »Lokale Agenda 21« entwickelt. Gemeinsame Grundlage dieser Visionen ist ein umfassender Begriff von Gesundheit, die nicht nur als Abwesenheit von Krankheit verstanden wird, sondern als vollständiges körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden. Um dieses Ziel für möglichst viele Menschen erreichbar zu machen, müssen wir an den sozialen Verhältnissen ansetzen und nicht am individuellen Verhalten. Der materielle und soziale Status in der Gesellschaft, die Entwicklungsbedingungen in der Kindheit und die Verlässlichkeit persönlicher Beziehungen haben einen entscheidenden Einfluss auf die Gesundheit der Menschen. Gerechtigkeit ist gesund: In Ländern mit weniger ausgeprägten Ungleichheiten in der Einkommensverteilung leben alle - selbst die Reichen! - gesünder und besser.(4) Das gilt unabhängig vom Wohlstand des einzelnen Landes. Doch statt nach diesen Erkenntnissen zu handeln, flankieren die politisch Verantwortlichen fast überall auf der Welt unverdrossen die Ausbeutung von Individuen, Gesellschaften und natürlichen Lebensgrundlagen zugunsten des Profits und der Rendite für diejenigen, die meist ohnehin schon mehr als genug haben.

Selbst in wohlhabenden Ländern bekommen die großen Städte ihre abgeschotteten privilegierten Stadtteile als Ausdruck der sozialen Spaltung ihrer Einwohnerschaft. Auch bei uns bluten die Kommunen finanziell aus und können die Daseinsvorsorge für ihre in Not lebenden Mitbürger nicht mehr gewährleisten. Die Folgen belasten alle Einwohner und führen zu einem Klima sozialer Kälte. Für Deutschland ließ sich jüngst nachweisen, dass sich besonders Personen mit einem hohen Einkommen zunehmend ungerecht behandelt fühlen. Sie zeigen eine geringere Bereitschaft zur Unterstützung schwacher Gruppen und rechtfertigen dies mit Sprüchen von »faulen Arbeitslosen« und »Ausländern«, die »den Sozialstaat belasten«.(5) In der veröffentlichten Meinung punkten prominente Sozialdemokraten wie Peer Steinbrück und Thilo Sarrazin mit sozialdarwinistischem Gedankengut nach dem Motto: Wer im globalen Wettkampf nicht genug leisten kann oder will, der hat keine Unterstützung verdient und soll das Spielfeld doch bitte schön verlassen.

In einer Art Bewusstseinsspaltung verabschieden Staatengemeinschaften immer wieder gern schöne Programme und Konventionen, nach denen sie ihre Politik ausrichten wollen, ohne dies wirklich zu tun. Den Widerspruch zwischen den Parolen der Politiker und ihrem Handeln verschweigt man am besten. Das gilt auch für zwei Schriftstücke, auf die sich derzeit nicht nur die Sozialpsychiatrie gerne hoffnungsvoll bezieht: das Grünbuch der Europäischen Union zur psychischen Gesundheit von 2005 und die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) von 2007.

Warum haben die Autoren des Grünbuchs und der UN-BRK nichts von der zerstörerischen Art zu wirtschaften, von den gesellschaftlichen Spaltungsprozessen, der zurückgehenden Solidarität und dem kälter werdenden sozialen Klima geschrieben? Diese Realitäten bedrohen doch an erster Stelle die seelische Gesundheit aller und verhindern eine gleichberechtigte Beteiligung behinderter Menschen am Leben der Gemeinschaft. Reicht es aus, den Kanon von Inklusion und Prävention, Partizipation und Empowerment, Resilienz und Recovery zu singen, den auch die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP) gerade wieder angestimmt hat?(6) Liegt die Lösung der Probleme darin, dass wir regionale, nationale und globale Netzwerke bilden, unsere Aktivitäten verstärkt auf Lebenswelten und Sozialräume hin ausrichten? Glaubt irgendjemand, dass wir damit erfolgreich sein können gegen die Folgewirkungen einer Politik, die dem ungezügelten Neoliberalismus gewollt oder genötigt auch noch das soziale Sicherungssystem zur Ausplünderung überlässt? Machen wir uns nicht vielmehr damit zu Handlangern einer Strategie, die im Schatten unserer tollen Bemühungen ganz ungestört die Exklusion der überflüssig gewordenen Menschen und die Selbstverwaltung ihrer Not vorantreibt?


Die neoliberale Eroberung der Psychiatrie - machen wir mit?

Für die neoliberalen Spezialisten der Profitmaximierung sind Dienstleistungen rund um die psychosoziale Gesundheit ein dynamisch wachsender Markt. Da kann man viel Geld verdienen, wenn man sich von den Fesseln wohlfahrtsstaatlicher Aufsicht befreit. Allerdings müssen die Unternehmen - ungeachtet der Sozialpflichtigkeit des Eigentums - vor zusätzlichen Kosten bei der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme geschützt werden. Gesetzlich ist jetzt dafür gesorgt, dass der Arbeitgeber in die Kranken- und Pflegeversicherung nicht mehr den gleichen Anteil wie seine Arbeitnehmer einzahlen muss und von Prämienerhöhungen künftig verschont bleibt. Aufgebessert werden die Einnahmen durch die Zuzahlungspflicht der Versicherten bei der Inanspruchnahme von Dienstleistungen. Für die unbedingt notwendige Basisversorgung verarmter Mitbürger darf der Staat aus öffentlichen Mitteln etwas zuschießen. Aber über die Steuergesetzgebung wird dafür gesorgt, dass dies möglichst nicht Firmen (das fordert der globale Wettbewerb!) und wohlhabende Privatpersonen (Leistung muss sich wieder lohnen!) trifft.

Unter diesen Bedingungen können Unternehmen mit steuerfinanzierten Sozialleistungen gerne satte Gewinne machen; besonders gut geht das im Bereich stationärer Hilfen, also bei Kliniken, Alten-, Pflege-, Wohn- und Obdachlosenheimen. Die Einrichtungsträger müssen nur ordentliche Pflegesätze herausholen und die Kosten drücken, indem sie möglichst wenig Personal mit einem hohen Anteil angelernter Billigkräfte beschäftigen. Öffentliche und freigemeinnützige Einrichtungsträger werden privatisiert oder verhalten sich so, als wenn sie privatisiert wären. Große Unternehmen schlucken die kleinen, ein umfassendes Leistungsspektrum ambulanter, teil- und vollstationärer Hilfen verstärkt den Anschein von Kompetenz und erleichtert die langfristige Kundenbindung.

Die Behandlung chronisch und schwer erkrankter Menschen ist in diesem System eigentlich uninteressant, für die Krankenkassen wegen ihres politisch erzwungenen Wettbewerbs und für die Leistungserbringer wegen pauschalierter Abrechnungen. Denn die Versorgung dieser Menschen kostet viel Geld und verspricht keinen schnellen Erfolg. Mit dem Risikostrukturausgleich zwischen den Krankenkassen ändert sich das allerdings unter Umständen. Eine Krankenkasse bekommt nämlich ab 2011 über den Risikostrukturausgleich aus dem Gesundheitsfonds z. B. mehr Geld, wenn ihre Versicherten zu einem höheren Anteil psychiatrisch diagnostiziert und therapiert werden. Sie kann zusätzlich verdienen, wenn ihr ein kapitalkräftiges Unternehmen die Versorgungsverantwortung für diese Menschen abnimmt. Das geht über einen sogenannten Selektivvertrag zur Integrierten Versorgung (IV) gemäß § 140 a - d SGB V. Man vereinbart dafür einfach ein bestimmtes Budget und teilt den Gewinn, wenn dieses nicht ausgeschöpft wird. Das heißt: Je weniger Geld für die betroffenen Kranken ausgegeben wird, desto höher ist der Gewinn für die Kasse, für das Unternehmen und ggf. auch die von ihm beauftragten Leistungserbringer. Der Bundestag hat im November 2010 dafür gesorgt, dass Krankenkassen solche Selektivverträge jetzt sogar mit Unternehmen aus der Pharmabranche abschließen dürfen.

So hat die Politik den Weg frei gemacht für den gnadenlosen marktwirtschaftlichen Wettbewerb auch in der Psychiatrie. Die Angriffspunkte sind so zahlreich, die Attacken folgen so schnell hintereinander, dass man gar nicht mehr dazu kommt, die Vorgänge im Zusammenhang kritisch zu analysieren und eine eigene Position zu erarbeiten. Zusätzliche Verwirrung stiften frühere Weggenossen mit untadeligem Engagement in langen Jahren anstrengender Reformarbeit, die nun als Protagonisten der neoliberalen Eroberung auftreten und die baldige Verwirklichung sozialpsychiatrischer Visionen versprechen. Einige von ihnen übersehen die eigentlichen Triebkräfte und Ziele des ganzen Vorhabens, sie unterliegen einer Selbsttäuschung in der Überzeugung, endlich den Weg der Erlösung von den »Mühen der Ebene« gefunden zu haben. Andere arrangieren sich mit der Wirklichkeit des Neoliberalismus, suchen hauptsächlich ihren eigenen Vorteil im Wettbewerb und verdecken das durch schöne Sprüche; sie betreiben Manipulation. Beide Gruppen eint ihr verdeckt strategisches Handeln, eine »systematisch verzerrte Kommunikation« nach Jürgen Habermas.(7) Das wird sich nicht ändern, wenn wir uns nicht gemeinsam Aufklärung darüber verschaffen, wer mit welchen Interessen hier am Werk ist. Schöne Sprüche und kühne Visionen dagegen fördern eher ein Doppeldenken (double thinking; auch mit »Zwiedenken« übersetzt), wie es George Orwell direkt nach den Verheerungen zweier Weltkriege in seiner Schwarzen Utopie Nineteen Eighty-four beschrieben hat. Für ihn war das Doppeldenken nicht ein Weg der toleranten Vernunft, sondern der Unterwerfung unter die totalitäre Macht:(8)


»Die Partei sagte, Ozeanien sei nie mit Eurasien verbündet gewesen. Er, Winston Smith, wusste seinerseits, dass Ozeanien noch vor nicht länger als vier Jahren mit Eurasien verbündet gewesen war. Aber wo war dieses Wissen verankert? Nur in seinem eigenen Bewusstsein, das unausweichlich bald in Staub zerfallen musste. Und wenn alle anderen die von der Partei verbreitete Lüge glaubten - wenn alle Aufzeichnungen gleich lauteten -, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit. 'Wer die Vergangenheit beherrscht', lautete die Parteiparole, 'beherrscht die Zukunft; wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit.' Und doch hatte sich die Vergangenheit, so wandelbar sie von Natur aus sein mochte, nie gewandelt. Das gegenwärtig Wahre blieb wahr bis in alle Ewigkeit. Es war ganz einfach. Es war nichts weiter nötig als eine nicht abreißende Kette von Siegen über das eigene Gedächtnis. Wirklichkeitskontrolle nannten sie es; in der Neusprache hieß es Zwiedenken.

'Rührt Euch!', kläffte die Vorturnerin, ein wenig freundlicher. Winston ließ die Arme sinken und füllte seine Lungen langsam mit Luft. Seine Gedanken schweiften in die labyrinthische Welt des Zwiedenkens ab. Zu wissen und nicht zu wissen, sich des vollständigen Vertrauens seiner Hörer bewusst zu sein, während man sorgfältig konstruierte Lügen erzählte, gleichzeitig zwei einander ausschließende Meinungen aufrechtzuerhalten, zu wissen, dass sie einander widersprachen, und an beide zu glauben; die Logik gegen die Logik ins Feld zu führen; die Moral zu verwerfen, während man sie für sich in Anspruch nimmt; zu glauben, Demokratie sei unmöglich, die Partei jedoch die Hüterin der Demokratie; zu vergessen, was zu vergessen von einem gefordert wurde, um es sich dann, wenn man es brauchte, wieder ins Gedächtnis zurückzurufen und es hierauf erneut prompt wieder zu vergessen; und vor allem, dem Verfahren selbst gegenüber wiederum das gleiche Verfahren anzuwenden. Das war die äußerste Spitzfindigkeit: bewusst die Unbewusstheit vorzuschieben und dann noch einmal sich des eben vollzogenen Hypnoseaktes nicht bewusst zu werden. Allein schon das Verständnis des Wortes Zwiedenken setzte eine doppelbödige Denkweise voraus.«



Anmerkungen

(1) Böhme G (1999): Kant und die Family of Man - Wie begründet sich die Universalität der Menschenrechte? Lettre International 44; 23 - 26

(2) Der große Ploetz Atlas zur Weltgeschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009; 232 - 233

(3) Le Monde diplomatique (Hg.) (2003): Atlas der Globalisierung. Berlin: taz Verlags- und Vertriebs GmbH; 62 - 63

(4) Wilkinson R, Pickett K (2009): Gleichheit ist Glück - Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind. Berlin: Tolkemitt-Verlag

(5) Heitmeyer W (2010): Disparate Entwicklungen in Krisenzeiten, Entsolidarisierung und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. In: Heitmeyer W (Hg.): Deutsche Zustände - Folge 9. Berlin: Suhrkamp; 13 - 33

(6) Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e. V. (2011): Visionen für die Sozialpsychiatrie - Frankfurter psychiatriepolitische Eckpunkte. Soziale Psychiatrie 35 (1); 24 - 25

(7) Habermas J (1981): Theorie des kommunikativen Handelns (2 Bände). Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bei kommunikativem Handeln verfolgen die Beteiligten ihre individuellen Ziele unter der Bedingung, dass sie ihre Handlungspläne auf der Grundlage gemeinsamer Situationsdefinitionen aufeinander abstimmen können. Bei systematisch verzerrter Kommunikation verhält sich mindestens einer der Beteiligten erfolgsorientiert, lässt aber andere in dem Glauben, dass alle die Voraussetzungen kommunikativen Handelns erfüllen. Diese Täuschung kann bewusst oder unbewusst sein. Die unbewusste Täuschung beinhaltet auch eine Selbsttäuschung. Bewusste Täuschung wird als Manipulation bezeichnet.

(8) Orwell G (1984): 1984 (englische Erstveröffentlichung 1949: Nineteen Eighty-four). Frankfurt am Main: Büchergilde Gutenberg; 37 - 38. Dieses Zitat verdanke ich einer Rezension von Arno Widmann (Das ich eins und doppelt bin - »Religio duplex«: Jan Assmann über »Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung«. Frankfurter Rundschau vom 23.12.2010)



Der Autor

Dr. Hermann Elgeti
Medizinische Hochschule Hannover
Abteilung für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie
Sozialpsychiatrische Poliklinik, Podbielskistraße 158, 30177 Hannover
elgeti.hermann@mh-hannover.de


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INHALT - sozialspychiatrische informationen 2/2011

Themenschwerpunkt:
TABUS - Verschwiegene Realitäten jenseits
von Sonntagsreden und Hochglanzprospekten

Anmerkungen zur Titelabbildung,
Marikke Heinz-Hoek »First Cut Is the Deepest«,
computerbearbeitete Fotografie, 50/70 cm (Auflage 10), 2007, Seite 2

Visionen verdecken Realitäten - auch in der Psychiatrie
Hermann Elgeti, Seite 4

Soziale Arbeit und freie Wohlfahrtspflege - ein Beitrag zu einem funktionierenden Kapitalismus?
Sieben Thesen zur veränderten Rolle sozialer Dienstleister in einem wettbewerblich organisierten Sozialsektor
Heinz-Jürgen Dahme und Norbert Wohlfahrt, Seite 7

Rette das Ziel, triff daneben ...
Horst Börner, Seite 12

Tabus erkennen - kommunikatives Handeln stärken
Fritz Bremer, Seite 15

Nachhall eines Eisenbahngesprächs
Brief einer »lohnabhängigen Psychiatriemitarbeiterin«
Ulla Schmalz, Seite 19

Armut ist demütigend
Stellungnahmen psychiatrie-erfahrener Menschen zu den Auswirkungen eines bedingungslosen Grundeinkommens
Sibylle Prins, Renate Schernus und Peter Weber, Seite 22

Bittsteller oder Bürger?
Kommentar zur Befragung psychiatrie-erfahrener Menschen zum bedingungslosen Grundeinkommen
Sascha Liebermann, Seite 26

Die paranoische Diskussion um die Sicherungsverwahrung
Verschiebung von Ängsten und eine gesellschaftliche Symbolpolitik
Martin Schott, Seite 28

Gewalt: Ein altes Tabu in neuen Kleidern
Tilman Steinert, Seite 34

Systematische Kinder-Abrichtung in Deutschland
Sylvia Schramm, Seite 38

»Bitte nicht stören! Einzelgespräch!«
Dirk Klute, Seite 43

In Wirklichkeit ist die Realität ganz anders - psychiatrie-erfahrene Zwischenrufe
Sibylle Prins, Seite 7, 14, 18, 21, 28, 38, 42, 49

Alte Texte - neu gelesen
Vorbemerkung
Renate Schernus, Seite 45

Alte Texte - neu gelesen
Die Deutsche Gesellschaft für Sozialpsychiatrie (DGSP) als soziale Bewegung im Gesundheitswesen - zur Entstehungsgeschichte
Hans-Ulrich Deppe, Seite 45

»Mit Leib und Seele ankommen - psychische und psychosomatische Krankheiten in unserer Zuwanderungsgesellschaft«
Kongressbericht, Seite 49

Buchbesprechungen
Mannsdorff P (2010)
Von Drinnen nach Draußen
Arnhild Köpke, Seite 49

Heyden S, Jarosch K (2010)
Missbrauchstäter.
Phänomenologie - Psychodynamik - Therapie
Beatrix Brunelle, Seite 50

Wittig-Koppe H, Bremer F, Hansen H (2010)
Teilhabe in Zeiten verschärfter Ausgrenzung?
Kritische Beiträge zur Inklusionsdebatte
Michael Eink, Seite 51

Haker H (2010)
»Station 23«
Rainer Stankiewitz, Seite 52

Termin, Seite 52

Hinweise für Autorinnen und Autoren · Impressum, Seite 53


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Quelle:
sozialpsychiatrische informationen 2/2011
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Erscheinungsweise: Januar, April, Juli, Oktober
Abonnement: jährlich 36,- Euro einschl. Porto, Ausland 46,- Euro
Einzelpreis: 12,90 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juni 2011