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VORTRAG/097: Warum Angehörige psychisch erkrankter Menschen nicht tatenlos zusehen dürfen (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 157 - Heft 3/17, 2017
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Warum wir Angehörige nicht tatenlos zusehen dürfen
Vortrag auf der Fachtagung "Zwischen Recht auf Autonomie und unterlassener Hilfeleistung"

Von Hans Jochim Meyer


An den Anfang meiner Einführung in die heutige Veranstaltung möchte ich die kurze Beschreibung eines Falls aus einem unserer Beratungsgespräche stellen. Eine Angehörige berichtete: "Wir haben bei einer Klinik in der Notfallambulanz angerufen und die Krankheitssymptome geschildert, woraufhin der Arzt uns sagte, es handele sich um eine Psychose und wir sollten uns im Internet informieren. Unserem Sohn ging es von Tag zu Tag schlechter. Wir haben dann im Internet nach einer Klinik gesucht, die sich besonders um junge ersterkrankte Patienten bemüht, und dort angerufen. Der Chefarzt war sehr nett und hat sich viel Zeit genommen, sagte uns, dass es sich hier schon um eine lebensbedrohliche Erkrankung handele und wir unbedingt versuchen sollten, ihn in die Klinik zu bringen, notfalls über eine Zwangseinweisung, da es keine Möglichkeit gäbe, zu Hause Hilfe zu bekommen."

Die Erfahrungen von Angehörigen klingen immer wieder ähnlich: Ein psychisch schwerkranker Mensch bricht sämtliche sozialen Kontakte ab, bezahlt keine Miete mehr, zieht sich in seine Wohnung zurück, öffnet keine Post, ernährt sich nicht mehr richtig, vermüllt, unter Umständen sind schon Strom und Heizung abgestellt, er verwahrlost, körperliche Beschwerden stellen sich zusätzlich ein, krankheitsbedingt fehlt die Einsicht in seine Hilfsbedürftigkeit oder er ist krankheitsbedingt nicht in der Lage, sich um Hilfe zu bemühen. Wenn Angehörige, Freunde oder Nachbarn versuchen, Hilfe für ihn zu erhalten, bekommen sie in der Regel zu hören, man könne leider nichts machen, solange keine akute Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt. Der einzige Rat, der Angehörigen oft gegeben wird: "Wenn es gar nicht mehr geht, müssen Sie die Polizei rufen."

Der Politik sind diese Probleme seit Jahren gut bekannt, wie der Beschluss der Gesundheitsministerkonferenz (GMK) vom 28. Juni 2012 belegt: Es bestehe "... die Gefahr einer Unterversorgung derjenigen, die zumeist schwer chronisch krank sind, jedoch von sich aus nicht selbst um Hilfe nachsuchen, sowie derjenigen Patienten und Patientinnen, die krankheitsuneinsichtig und nicht compliant sind. Diese Menschen werden von den bestehenden Hilfesystemen häufig nicht erreicht; die Folgen sind erheblich. Gerade für diese Personengruppe erhöht sich das Risiko, in Obdachlosigkeit, im Strafvollzug oder im Maßregelvollzug zu landen. Hier gilt es, verstärkt systemübergreifende, nachgehende und aufsuchende Hilfen zu entwickeln bzw. auszubauen ... Aufgabe von Psychiatriepolitik ist es, zukunftsfähige Strukturen zu schaffen, welche die Übernahme von Verantwortung für alle psychisch erkrankten Menschen gewährleisten und dabei öffentlich kontrolliert sind."

Bisher ist wenig geschehen, allenfalls örtlich begrenzte Modellversuche. Wir, die Angehörigen, wollen endlich Fortschritte sehen. Wir versuchen, das Problem in die Öffentlichkeit zu tragen, und suchen die Unterstützung der Fachwelt.

Im Januar 2016 haben wir unseren Aufruf "Menschenwürde wahren, Zwangseinweisungen vermeiden, aufsuchende Behandlung stärken" veröffentlicht.(1)

Im Juni 2016 haben sämtliche Verbände der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen in Deutschland in einer Resolution alle Verantwortlichen in Politik und Verwaltung aufgefordert, ihrer Verpflichtung zur Daseinsvorsorge für alle psychisch erkrankten Bürger nachzukommen, wie es von der Gesundheitsministerkonferenz schon 2012 formuliert wurde.

Seit März 2017 läuft eine Internetpetition mit dem Titel "Psychisch schwerkranke Menschen brauchen in lebensbedrohlichen Krisen aufsuchende Hilfen".(2) Fast 3000 Menschen haben den Aufruf und die Petition bisher unterzeichnet, neben Angehörigen auch viele Psychiatrie-Erfahrene und sehr viele psychiatrische Fachleute aller Berufsgruppen.

Wo liegen die Probleme?

Wir müssen über Strukturen sprechen, über ethische und rechtliche Fragen.

Selbstbestimmung, Autonomie und Menschenwürde sind hohe Güter. Fürsorge und Hilfe für Menschen, die sich selbst nicht helfen können, sind gleichfalls tief in unserer Kultur verwurzelte Güter. Bei psychisch schwerkranken Menschen kann hier ein Spannungsfeld bestehen. Rechtliche Fragen sind auch zu bedenken: Wie steht es mit dem Recht auf Hilfe durch aufsuchende Dienste? Wann liegt unterlassene Hilfeleistung vor? Angehörige sind schon wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt werden, weil sie das nicht schafften, was professionell Tätige hätten schaffen sollen.

Zunächst zu den Strukturen: Die Erreichbarkeit und Zugänglichkeit vorhandener Dienste muss verbessert werden. Jeder kranke Mensch und seine Angehörigen müssen das Recht haben, diese Dienste in Anspruch zu nehmen. Die Stadt Hamburg mit 1,8 Mio. Einwohnern z.B. verfügt bislang über keinen psychiatrischen Dienst, an den Menschen in Notsituationen sich 24 Stunden am Tag wenden können. Die sozialpsychiatrischen Dienste sind nur an Werktagen zu normalen Bürozeiten erreichbar, außerdem sind sie personell schlecht ausgestattet. Nach allem, was wir hören, können sie eine intensive aufsuchende Betreuung und Begleitung schwerkranker Menschen überhaupt nicht leisten. Es fehlen Dienste, die versuchen, diejenigen Menschen zu erreichen, die keinen Kontakt zum Versorgungssystem haben. Wir denken hier z.B. an Ersterkrankte, an Menschen, die den Kontakt zum Versorgungssystem verloren haben, aus welchen Gründen auch immer, und an Menschen in der Obdachlosigkeit.

Eine längerfristige häusliche Behandlung schwerkranker Menschen wird in Hamburg unseres Wissens lediglich als Modellvorhaben im Umkreis der Universitätsklinik durch Prof. Lambert und sein ACT-Team (therapeutisches Assertive Community Treatment) angeboten. Die Integrierte Versorgung ist bekanntlich für schwerkranke Menschen zu hochschwellig. Außerdem wird sie, zumindest bei der Techniker Krankenkasse, gerade wieder zurückgefahren.

Strukturen allein lösen die Probleme nicht. Entscheidend ist das Handeln der Mitarbeiter in den Diensten. Was halten sie für ethisch richtig, welche Wertmaßstäbe sollen gelten?

Viele psychiatrische Fachkräfte meinen, in erster Linie müsse die Autonomie eines psychisch erkrankten Menschen respektiert werden. Wenn der Kranke einmal "nein" gesagt hat, könne und dürfe man gar nichts unternehmen, solange er keine Gefahr für sich oder andere darstellt.

Es klingt einfühlsam und verständnisvoll, wenn vom Respekt vor dem psychisch erkrankten Menschen, von der Achtung seiner Autonomie, von der Achtung seiner Menschenwürde gesprochen wird. Aber führt diese Einstellung gegenüber den Schwerkranken, denjenigen, deren soziale und gesundheitliche Situation schon längst von massivem Autonomieverlust geprägt ist, nicht letztlich allzu oft zu sozialer Isolierung, finanzieller Not, Zwangseinweisung mit nachfolgender Zwangsbehandlung, Einweisung in die Forensik oder zu Obdachlosigkeit?

Es kann doch nicht sein, dass tatenlos zugesehen wird, wenn der Zustand eines sogenannten uneinsichtigen Patienten sich immer mehr verschlechtert, und dass die erste "Hilfe" die Zwangseinweisung mit nachfolgender Zwangsbehandlung ist.

Es kann doch nicht sein, dass gerade schwerkranken Menschen, die nicht in der Lage sind, sich um Hilfe zu bemühen, oder die nicht erkennen können, dass sie hilfebedürftig sind, ein Hilfsangebot verweigert wird. Sollte nicht gerade der Respekt vor der Autonomie verlangen, alles zu versuchen, um eine Eskalation hin zu traumatisierenden Maßnahmen zu vermeiden?

So kann und darf es nicht weitergehen

Ich bin sicher, dass die große Mehrzahl der Angehörigen und, nebenbei bemerkt, auch viele Betroffene, mir zustimmen, wenn ich fordere:

- Wir brauchen eine breite Diskussion über das Verhältnis von Respektierung des aktuellen Willens eines psychisch erkrankten Menschen einerseits und Hilfsangeboten und Fürsorge andererseits.

- Es muss darüber gesprochen werden, ob es ethisch vertretbar ist, unter Berufung auf die Willensfreiheit, einen erkrankten Menschen sich selbst zu überlassen.

- Es muss darüber gesprochen werden, ob es ethisch zu rechtfertigen ist, tatenlos zuzusehen, wie ein erkrankter Mensch sich zunehmend weiter schädigt.

Um es ganz eindeutig auszudrücken: Wir fordern keinen früheren Zwangseinsatz, sondern frühzeitige Hilfsangebote, um Zwang möglichst zu vermeiden. Es muss ein pragmatischer Weg zwischen dem Respekt vor der Autonomie eines kranken, hilfsbedürftigen Menschen einerseits und der Zwangseinweisung und Zwangsbehandlung andererseits gefunden werden. Wir brauchen aufsuchende Hilfsangebote in der eigenen Wohnung mit dem Ziel, das Vertrauen des psychisch erkrankten Menschen zu gewinnen und ihm die erforderlichen Hilfen zu verschaffen.

Warum ist das psychiatrische Versorgungssystem nicht in der Lage, schwerkranken Menschen, die ihre Hilfsbedürftigkeit nicht erkennen, zu helfen? Die Antwort liegt auf der Hand: Wir haben in Deutschland ein differenziertes Angebot für leicht oder mittelschwer erkrankte Menschen, die in der Lage sind, die bestehenden Hilfsangebote anzunehmen, die zum Teil sogar in der Lage sein müssen, Verträge abzuschließen. Wer aber so krank ist, dass er dies nicht kann, bekommt eben keine Hilfe und kann sehen, wo er bleibt. Zynisch ausgedrückt: Wer seine Hilfsbedürftigkeit erkennt, kommt in den Genuss staatlicher oder psychiatrischer Fürsorge, wer das nicht erkennt, ist auf Selbstsorge angewiesen, obwohl er diese nicht leisten kann.

Auf rechtliche Aspekte möchte ich als juristischer Laie nur kurz eingehen mit dem Hinweis, dass mir kein Gesetz oder kein Gerichtsbeschluss bekannt ist, der es verbieten würde, einem psychisch erkrankten Menschen geduldig und wiederholt Hilfsangebote zu machen.

Zusammenfassend: Gerade der Respekt vor Autonomie und menschlicher Würde eines psychisch erkrankten Menschen gebieten es, ihm alle Hilfe anzubieten; und dies auch wiederholt, auch wenn er die Hilfe nicht selbst einfordert.

Psychisch schwerkranke Menschen brauchen Fürsorge. Gefragt sind geduldig wiederholte Hilfsangebote und der Versuch, eine Beziehung herzustellen. Der Versuch wird nicht immer gelingen. Wird er aber nicht gemacht, liegt unterlassene Hilfeleistung vor.


Dr. Hans Jochim Meyer,
Vorsitzender des Landesverbandes der Angehörigen psychisch Kranker, Hamburg
E-Mail: hans.jochim.meyer@lapk-hamburg.de

Christian Zechert, Vorstandsmitglied des Bundesverbandes der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen, Bonn
E-Mail: zechert.bapk@psychiatrie.de


Anmerkungen

(1) www.lapka-hamburg.de/index.php/aufruf-aufsuchende-behandlung-staerken

(2) Aufruf und Petition können unter folgender Internetadresse abgerufen werden: www.lapk-hamburg.de

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 157 - Heft 3/17, Juli 2017, Seite 35 - 36
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. September 2017

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