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VORTRAG/081: Fürsorglicher Zwang - eine ethische Herausforderung in der psychiatrischen Praxis (Soz. Psych.)


Soziale Psychiatrie Nr. 137 - Heft 3, Juli 2012
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Fürsorglicher Zwang - eine ethische Herausforderung in der psychiatrischen Praxis
Freiheitsentziehung und Zwangsbehandlung vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention

Von Michael Wunder



Die Unvollkommenen
Gedicht von Erich Fried
http://deu.1september.ru/article.php?ID=200701016


Erich Fried sagt uns, dass es keine endgültigen, sondern nur unvollkommene Aussagen gibt, was auf jeden Fall für das Thema des Zwangs und der Fürsorge gilt, und dass es die Mühe lohnt, genau zu sein und zu versuchen, der Wahrheit und den Notwendigkeiten so nah wie möglich zu kommen. Auch das trifft auf das Thema Zwang und Fürsorge zu, zumindest sollte es das.

Was ist der Ausgangspunkt für die heutige Debatte um Zwang in Gestalt von Freiheitsentzug in der Psychiatrie nach zwanzig Jahren Sozialpsychiatrie?

Ich meine, dass hierfür die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen einschlägig ist und herangezogen werden kann. Freiheitsentziehung bedeutet Vorenthaltung von Selbstbestimmung und Ausschluss, also die Vorenthaltung von Inklusion - beides Rechte, zu denen die Konvention wichtige Aussagen macht.

In Artikel 3 der Konvention werden die wesentlichen ethischen und rechtlichen Prinzipien für den Umgang der Gesellschaft mit Menschen mit Behinderung benannt, die Selbstbestimmung und Inklusion in einen Gesamtzusammenhang stellen:

  • der Respekt vor der Würde und individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen;
  • die Nichtdiskriminierung;
  • die volle und effektive Teilhabe und Inklusion und in die Gesellschaft;
  • die Achtung vor der Differenz und die Akzeptanz von Menschen mit Behinderung als Teil der menschlichen Verschiedenheit;
  • die Chancengleichheit;
  • die Barrierefreiheit;
  • die Gleichheit zwischen Männern und Frauen;
  • der Respekt vor den sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit Behinderung.

Die wesentlichen Stichworte für die Debatte sind somit: Menschenwürde, Selbstbestimmung, Respekt, Achtung, Inklusion und Akzeptanz der menschlichen Verschiedenheit.

Die daran anschließenden Fragen der Ethik könnte man folgendermaßen fassen: Wie gehen wir mit dem Anderen um? Wollen wir ihn verändern? Dürfen wir das überhaupt? Oder können und sollten wir seine Entwicklung begleiten? (Das ist die alte Frage von emendierender Therapie versus akzeptierender Unterstützung des eigenen Weges.) Geht es um Rehabilitation und Integration, also um ein Zurückholen oder Hereinholen in unsere »normale« Welt, oder um Habilitation und Sicherung von Inklusion, also um Stärkung des Anderen und Zusicherung seiner Zugehörigkeit? Wie gehen wir mit Gleichheit um, wie mit Differenz? Wo endet die Freiheit des Anderen, wo beginnt unser Zwang? Wie kann Freiheitsentzug gerechtfertigt werden?

Zur Vorenthaltung der Selbstbestimmung

Am Anfang dieser wie fast aller anderen sozialkritischen und politischen Diskussionen steht das Menschenwürdepostulat. Die Menschenwürde gilt universell für alle Menschen und ist unabhängig von deren Leistung, dem Gesundheitszustand, der Kommunikationsfähigkeit, dem Grad der Hilfebedürftigkeit oder dem Alter. Die Menschenwürde sichert dem Einzelnen das Grundrecht auf Selbstbestimmung zu, das aber nicht uneingeschränkt ist, sondern da seine Grenze hat, wo die Grundrechte anderer verletzt werden.

Die Hochrangigkeit des Selbstbestimmungsrechts wird dadurch deutlich, dass es in unserem Grundgesetz nach der Menschenwürde gleich als erstes Grundrecht in Artikel 2 genannt wird und seine mögliche Einschränkung deshalb jeweils sehr genau und überprüfbar begründet werden muss.

»Wo endet die Freiheit des Anderen, wo beginnt unser Zwang?«

Was bedeutet Selbstbestimmung in unserem Kontext? Wir können von Selbstbestimmung oder von selbstbestimmten Aktivitäten eines Menschen sprechen, wenn mindestens diese drei Anforderungen erfüllt sind:

- anders können,
- Gründe haben,
- die eigene Urheberschaft anerkennen.

Man kann auch ein Stück weitergehen und zur Voraussetzung von Selbstbestimmung noch die Abschätzung der Folgen und damit die Verantwortung und die Verantwortlichkeit einer Entscheidung zählen. In gewisser Weise wird dem jeder zustimmen, weil die Folgen der eigenen Entscheidung abgeschätzt werden müssen, wenn wir von einer selbstbestimmten Aktivität sprechen. Nur ist es ein Unterschied, ob dies im Nahbereich geschieht, es also um Folgen geht, die in einem Vorteil für mich bestehen oder in meinem Wohlsein, oder in einem mittleren Bereich, wo es um die Folgen für mich und mein Umfeld geht, oder um den Fernbereich, d.h. die Folgen für die Gesellschaft. Bezogen auf psychisch erkrankte Menschen, denen wir möglicherweise die Freiheit entziehen, weil wir ihre Handlungen nicht mehr als frei und selbstbestimmt einschätzen, sind dies alles Fragen von großer Bedeutung.

Zur Vorenthaltung von Inklusion

Zunächst zum Begriffspaar Integration/Inklusion - hineingenommen werden oder dazugehören? Der Streit um die korrekte Übersetzung der in Englisch abgefassten UN-Konvention, in der stets von »inclusion« die Rede ist, was in der offiziellen deutschen Version aber immer mit Integration übersetzt wird, hat einen ernsthaften Hintergrund.

Integration ist die aktive Einbeziehung von Menschen mit Behinderung in gesellschaftliche Prozesse. »Komm zu uns herüber« ist die Grundhaltung, also nichts Schlechtes, aber eben auch nur der Ausdruck einer bestimmten gesellschaftlichen Situation und ein wichtiger Epochenschritt im Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung. Integration basiert auf Normalisierung: Für Menschen mit Behinderung, mit psychischen Erkrankungen oder mit anderen Abweichungen sollen normale - im Sinne des gesellschaftlichen Durchschnitts - Wohn-, Arbeits- und Bildungsbedingungen geschaffen werden.

Die Implikationen dieses Integrationsunternehmens liegen auf der Hand:

  • Anpassung an die Durchschnittsnorm - das Integrationskonzept geht von einer Art »Leitkultur« aus -,
  • Integrationsmöglichkeiten hängen vom Grad der Integrationsfähigkeit des Betroffenen ab (Readiness-Modell), und
  • Schaffung von zwei Gruppen: die Integrierer und die zu Integrierenden.

Das Integrationsmodell schafft letztlich zwei Gruppen und damit genau das, was es überwinden will. Es ist aber natürlich mit Maßnahmen wie Freiheitsentzug bei Desintegration oder Rehabilitation zur Wiedereingliederung leichter in Übereinstimmung zu bekommen als das sperrigere Inklusionskonzept.

Inklusion bedeutet die vorbehaltlose und nicht weiter an Bedingungen geknüpfte Einbezogenheit und Zugehörigkeit. Der Grundgedanke ist die Vorstellung einer Gemeinschaft aller in einer Region oder in einer Lokalität, die innerlich differenziert und vielgliedrig ist, sich durch ihre »diversity« auszeichnet.

Den Ursprung dieses Diversitätskonzepts kann man historisch in Adornos Reflexionen über Auschwitz verorten, wo er das »Miteinander des Verschiedenen« als Leitprinzip einer freien Gesellschaft formuliert hat und vor der Betonung der Gleichheit der Menschen, außer der vor dem Gesetz, gewarnt hat, weil dieser immer ein unterschwelliger Totalitätsgedanke innewohnt.

In der Diskussion um die Akzeptanz dieser Verschiedenheit geht es immer um die Achtung des Anderen in seinem Sosein, psychiatrisch ausgedrückt: um das Erkennen und die Achtung der Primärpersönlichkeit auch schwer gestörter psychisch kranker Personen, oder allgemeiner ausgedrückt: um das Willkommensein all dieser vielen Anderen. Freiheitsentziehende Maßnahmen können vor diesem Hintergrund die Grundrechte auf Teilhabe und Inklusion nur unter strengen Maßstäben, vorübergehend und mit dem Ziel der alsbaldigen Wiederteilhabe und Inklusion, einschränken.

Legitimationsbedingungen für freiheitsentziehende Maßnahmen

Kommen wir zu den Kernaussagen der Konvention, zum Komplex Zwang und Freiheitsentziehung in Artikel 12. Dort gibt es die zentrale Aussage, dass jeder Mensch mit Behinderung (einschließlich psychischen Schwierigkeiten) eine »legal capacity« hat, also volle Rechts- und Handlungsfähigkeit. Dies bedeutet nach herrschender Meinung: Geschäftsfähigkeit, Deliktsfähigkeit und Verantwortlichkeit für das eigene Handeln.

Nach Artikel 14 unterliegen Menschen mit Behinderungen im Falle des Freiheitsentzuges den gleichen Verfahrensregeln und dem gleichberechtigten Anspruch auf Behandlung durch staatliche Organe wie alle anderen Mitglieder der Gesellschaft. Das Vorliegen einer Behinderung oder psychischen Erkrankung rechtfertigt in keinem Fall eine Freiheitsentziehung.

Diesem Gleichbehandlungsgrundsatz steht die gängige ethische und rechtsphilosophische Begründung von Zwangsmaßnahmen im deutschsprachigen Raum entgegen. Psychische Erkrankung führt, so die gängige Begründung, zum Verlust der Fähigkeit, freie, selbstbestimmte und verantwortliche Entscheidungen zu treffen. Mit anderen Worten: Psychische Erkrankung kann zum Verlust der Selbstbestimmungsfähigkeit führen. Die Freiheitsentziehung erfolgt dann aus Fürsorge aufgrund des so verstandenen Freiheitsverlustes. Die Freiheitsentziehung wird also kausal begründet aus der psychischen Erkrankung, aber es wird auch betont, dass nicht ein Freier seiner Freiheit und seiner Selbstbestimmung beraubt wird, sondern ein Unfreier vor Schaden bewahrt wird. Insofern findet sich in der gängigen rechtsethischen Begründung auch ein Finalbezug: Ziel der therapeutischen Maßnahmen ist die Wiedergewinnung der abhandengekommenen Freiheit.

»Das Vorliegen einer Behinderung oder psychischen Erkrankung rechtfertigt in keinem Fall eine Freiheitsentziehung«

Gegen dieses Konstrukt lässt sich einwenden, dass sich Repressions- und Schutzhandeln nicht klar voneinander trennen lassen. Der Ausgangspunkt der rechtsethischen Überlegung zur Legitimation der Freiheitsentziehung ist der mutmaßliche gesunde Wille, der anders will, der aber derzeit krankheitshalber verdeckt ist. Wer aber so argumentiert, muss sich sicher sein, was eine krankheitshalber bestehende Verdeckung eines an sich gesunden Willens ist und ob nicht vielleicht in dem als Krankheit beurteilten Zustand ein anderer, neuer, ebenfalls mit dem Anspruch auf Authentizität bestehender Wille entstanden ist.

Man kann es vereinfacht so zusammenfassen: Die UN-Konvention verlangt zur Legitimation von selbstbestimmungs- und inklusionsvorenthaltenden Zwangsmaßnahmen ein finales Denken, d.h., jegliche freiheitsentziehende Maßnahme der Institutionen des Staates oder des professionellen Personals muss sich auf tatsächliche und nachweisliche Verhaltensweisen und die daraus resultierenden Konsequenzen beziehen. Die Konvention lehnt ein kausales Denken ab, das Handlungen, die Zwang für den Betroffenen bedeuten, mit der Gefährdung begründet, die als Folge der Erkrankung und Behinderung eintreten könnte oder als solche gewertet wird.

Konsequenzen für die Zwangsunterbringung

Nimmt man diese Grundsätze als Basis für Aussagen zur Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung, so kommt man zu folgendem Ergebnis:

Unterbringungen nach Psychisch-Kranken-Gesetzen (PsychKG) der Länder oder gemäß Betreuungsrecht - § 1906 Abs. 1 Satz 1 BGB - sind im Einklang mit der UN-Konvention, sofern sie ausschließlich final mit der tatsächlichen Selbst- oder Fremdgefährdung begründet sind und nicht kausal mit der Behinderung oder Erkrankung. Unterbringungsbegründungen wie Selbstgefährdung, die anders nicht abgewendet werden kann, oder Verlust der Eigensorge sind mit der UN-Konvention vereinbar. Gründe wie ausgeprägter Rückzug, Verfolgungszustände oder Gefahr der Chronifizierung (bei Ersterkrankung) sind mit der Konvention unvereinbar.

Ich weiß, dass gerade Letzteres für Psychotherapeuten und Psychiater und andere Menschen, die sich mit der Psychiatrie beschäftigen, fast unannehmbar erscheint. Und dennoch, meine ich, ist dieser Gedanke zielführend, weil er das Heilen und den Heilungsgedanken auf ein bescheidenes Maß zurückschraubt und unsere Position dem anderen gegenüber deutlich infrage stellt: Wie weit können wir tatsächlich gehen? Wieweit wissen wir, ob unsere fürsorglichen Zwangsmaßnahmen tatsächlich erfolgreich sind und tatsächlich der Wiedererlangung einer Freiheit dienen? Oder ob sie nicht zu einer ständigen Abhängigkeit von Freiheitsentzug, zu Entmündigung und dauerhafter Abhängigkeit von Behandlung führen?

Konsequenzen für die Zwangsbehandlung

Zwangsbehandlungen der Anlasserkrankung nach den PychKGs der Länder oder § 1906 Abs. 1 Satz 2 BGB, die mit einem für nicht authentisch gehaltenen oder krankhaft beeinflussten und deshalb nicht ernsthaft zu beachtenden Willen begründet werden, stehen nicht im Einklang mit der UN-Konvention.

Die paternalistische Position, dass Menschen zu ihrem eigenen Vorteil auch gegen ihren Willen behandelt werden müssen, ist mit der UN-Konvention nicht vereinbar. Dagegen wird eine Autonomie-Position eingenommen, die folgendermaßen formuliert werden könnte: Menschen dürfen nur freiwillig behandelt werden, weil auch nur dann eine Behandlung tatsächlich wirksam ist. Verweigern sie eine Behandlung, auch wenn der Grund dafür in einer Beeinflussung aufgrund psychischer Beeinträchtigung liegt, dürfen sie dennoch nicht zwangsweise behandelt werden. Zu prüfen ist hier, ob diese Auseinandersetzung nicht zugunsten der Autonomie-Position aufgelöst werden kann, weil diese die jeweiligen Systeme zwingen würde, um die freiwillige Einwilligung der Betroffenen zu ringen.

»Unterbringungsbegründungen wie Selbstgefährdung, die anders nicht abgewendet werden kann, oder Verlust der Eigensorge sind mit der UN-Konvention vereinbar«

Die Forderung der UN-Konvention, dass der freie Wille eines Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung in jedem Falle vollzogen werden muss, es sei denn, die Handlung führt final zur Selbst- oder Fremdschädigung, ist in dieser Konsequenz aber nicht durchzuhalten. Dies zeigt sich am Beispiel des Umgangs mit Suizidenten. Es kann mittlerweile als Konsens gelten, dass Suizidhandlungen, die freiverantwortlich (d.h. ohne fremde Beeinflussung, ohne psychische Beeinträchtigung und für Dritte nachvollziehbar) durchgeführt worden sind, die nachträgliche Rettungspflicht der Personen in Garantenstellung und die Hilfeverpflichtung anderer Personen einschränken. Hier wird also eindeutig eine Bewertung des Willens vor dem Hintergrund krank - gesund vorgenommen.

Des Weiteren kann aber auch als Common Sense gelten, dass bei Personen, die unter dem krankhaften Einfluss einer Depression eine Suizidhandlung begangen haben, auf jeden Fall die Lebensrettungspflicht der Garanten und die Hilfeverpflichtung anderer Personen in Kraft tritt, mit der Begründung, dass der Wille krankhaft beeinflusst war, also nicht authentisch war und nicht den Kriterien der Selbstbestimmung entspricht.

Im Falle der Suizidprophylaxe bzw. der Lebensrettungsverpflichtung kommt es also nicht auf die finalen Folgen der Handlung an, sondern auf die jeweiligen kausalen Motive und Hintergründe des Willens und die Bewertung seiner Freiverantwortlichkeit bzw. krankhaften Beeinflussung. Eine Grundrechtskollision liegt in beiden Fällen vor; ihre Gewichtung hängt von der jeweili gen Bewertung des Willens ab. Das Dilemma ist offensichtlich, weil eine rein finale Begründung zu ethisch nicht vertretbaren Handlungen führen würde, wenn es sich um lebensrettende Maßnahmen handelt.

Fazit

Ich komme zur Schlussfolgerung für den gemeindepsychiatrischen Alltag und die Frage des Zwangs:

1. Verhinderung und Reduzierung von Zwangsmaßnahmen
Vor dem Hintergrund der Prinzipien der UN-Konvention heißt dies:

  • Reorganisation sozialpsychiatrischer Netzwerkarbeit in den Regionen, wo diese durch Sparmaßnahmen und Administration in den letzten Jahren abgebaut wurden;
  • Programme zur Gewaltprophylaxe in den Einrichtungen und Diensten, Programme zur Reduzierung von Fixierungen;
  • Schulung in Deeskalierungsstrategien in Heimen und Psychiatrie;
  • Dokumentationssysteme.

2. Ehrlichkeit und Transparenz
Wir müssen ehrlich sein mit uns selbst, aber vor allem in der Öffentlichkeit und den Klienten gegenüber. Der Widerspruch zwischen Repression und Schutz lässt sich nicht mit dem therapeutischen Postulat wegdiskutieren. Zwangsmaßnahmen enthalten beides, was offen angesprochen werden sollte.

3. Hohe rechtliche Hürden aufbauen
Bei der Begründung für eine freiheitsentziehende Maßnahme ist das Finalprinzip statt des Kausalprinzips einzuhalten. Zwangsunterbringung darf nicht mit der Behinderung oder psychischen Erkrankung begründet werden, sondern aufgrund des Gleichbehandlungspostulats nur mit der jeweils konkreten und nicht anders abwendbaren Gefährdung einer Grundrechtsverletzung. Die Unterbringung zur Heilbehandlung muss aber als strenge Ausnahme im kausalen Sinne möglich sein.

4. Menschenwürde und Autonomieanspruch sind auch im Rahmen einer Zwangsmaßnahme zu gewährleisten
Hierfür steht nicht zuletzt die Praxis im Wohnheim Freiberg der Evangelischen Gesellschaft Stuttgart(*). Ganz allgemein gehören hierzu die strenge zeitliche Limitierung des Freiheitsentzuges, früh einsetzende freiheitsübende Maßnahmen und die Handlungsfreiheit für die Verantwortlichen vor Ort bei regelmäßiger gerichtlicher Kontrolle.


Dr. phil. Michael Wunder, Diplom-Psychologe und Psychologischer Psychotherapeut, ist Leiter des Beratungszentrums der Evangelischen Stiftung Alsterdorf in Hamburg; Leiter eines Entwicklungshilfeprojektes der Behindertenhilfe und Psychiatrie in Rumänien; Autor zahlreicher Beiträge zur Medizin im Nationalsozialismus, Behindertenhilfe, Biomedizin und Bioethik; Mitglied der Enquetekommission »Ethik und Recht der modernen Medizin« in der 14. und 15. Legislaturperiode im Deutschen Bundestag; Mitglied des Deutschen Ethikrates.

Der Artikel ist die bearbeitete Fassung seines in der Ev. Akademie Stuttgart gehaltenen Vortrags am 9. September 2011 unter dem Titel »Fürsorglicher Zwang - eine ethische Herausforderung in der diakonischen Praxis«.

Korrespondenzadresse: Evangelische Stiftung Alsterdorf, Beratungszentrum Alsterdorf, Paul-Stritter-Weg 7, 22297 Hamburg; Tel.: (0 40) 50 77 35 66; Fax: (0 40) 50 77 37 77; E-Mail: m.wunder@alsterdorf.de

(*) Internet: www.eva-stuttgart.de/wohnheim-freiberg.html

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 137 - Heft 3, Juli 2012, Seite 4 - 7
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Juli 2012