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VORTRAG/093: Psychiatrische Versorgung - Einbeziehung von Psychiatrie-Erfahrenen als Genesungsbegleiter (Soz. Psych.)


Soziale Psychiatrie Nr. 148 - Heft 2/15, April 2015
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

»Zuversicht als Grundhaltung lohnt sich«
Die Mitarbeit von Genesungsbegleiterinnen und -begleitern in der sozialpsychiatrischen Praxis fördert und fordert eine Weiterentwicklung der Grundhaltungen psychiatrischer Fachkräfte.

Von Christel Achberger und Jörg Utschakowski


Die Experienced-Involvement-(EX-IN-)Bewegung hat zum Ziel, Psychiatrie-Erfahrene an psychiatrischer Versorgung zu beteiligen. Ein Weg ist die Einbeziehung Psychiatrie-Erfahrener in die psychiatrische Arbeit. In Deutschland wird diese Tätigkeit als Genesungsbegleitung, die Tätigen als Genesungsbegleiterinnen und -begleiter bezeichnet.

Die Kurse, in denen Genesungsbegleiter auf ihre Arbeit vorbereitet werden, sind an Recovery und Empowerment ausgerichtet. Eine ihrer wesentlichen Aufgaben ist es, die Philosophie von Recovery in die psychiatrische Praxis hineinzutragen, den vier Dimensionen von Recovery Bedeutung zu geben:

  • Hoffnungsräume eröffnen,
  • Entwicklung einer positiven Identität, eines positiven Selbstbildes fördern,
  • Entwicklung von Sinn und Bedeutung im Leben fördern,
  • persönliche Verantwortung für das eigene Leben übernehmen.

In einer ihrer Veröffentlichungen (2005) umschreibt Michaela Amering diese Philosophie mit »Hoffnung-Macht-Sinn« und setzt damit eine Leitidee für eine psychiatrische Arbeit, die sich an Recovery orientiert.

Empowerment und Recovery: handlungsleitend für die Psychiatrie

Die S3-Leitlinie »Psychosoziale Therapie bei schweren psychischen Erkrankungen« (2013, S. 26 ff.) bezeichnet in dem Eingangskapitel »Grundlagen psychosozialer Interventionen« Empowerment als grundsätzlichen Aspekt für die therapeutische Beziehung und Recovery als grundsätzliches Ziel psychosozialer Interventionen. Empowerment und Recovery werden damit handlungsleitend für die Psychiatrie.

Im Weiteren bewertet die angeführte S3-Leitlinie (2013, S. 156 f.) die Evidenz unterschiedlicher Formen von Selbsthilfe und geht auch auf Peer-Beratung ein. Es werden Untersuchungen zur Verbesserung der Versorgungsqualität durch die Beteiligung Psychiatrie-Erfahrener angeführt. Die Untersuchungen belegen eine Reduktion stationärer Behandlung und bessere Kontakte zu schwer erreichbaren Patienten; diese fühlen sich umfassender verstanden und akzeptiert.

Diese besseren Ergebnisse der Behandlung ergeben sich dadurch, dass Genesungsbegleitung die Möglichkeit bietet, sich mit anderen Betroffenen über gemeinsame Erfahrungen, Sichtweisen und Erklärungen austauschen zu können und sich im Rahmen einer von Akzeptanz, Verständnis und Empathie getragenen Beziehung zu begegnen. Betroffene berichten, dass die Genesungsbegleiter Hoffnung auf Genesung authentisch vermitteln und die »gleiche Sprache« sprechen. Die Interessen der Klientinnen und Klienten werden sensibler wahrgenommen; Genesungsbegleiter laden dabei immer wieder ein, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Alles Faktoren, die ein eigenes, sinngebendes Krankheitsverständnis fördern und Grundlage für Empowerment und Recovery sind. Peer-Beratung wird in den Leitlinien im Sinne eines klinischen Konsensus empfohlen. Für eine stärkere Empfehlung reicht die derzeitige Forschungslage nicht aus.

Zusatzqualifikation Erfahrung

Aus den Erfahrungen der EX-IN-Kurse und dem Tätigwerden der Genesungsbegleiter lassen sich Ideen für die Weiterentwicklung der sozialpsychiatrischen Grundhaltungen ableiten.

Im EX-IN-Kurs 2011 in Schleswig-Holstein beschrieben die zukünftigen Genesungsbegleiter die Zusatzqualifikation, die ihre Erfahrungen mit seelischen Erschütterungen und dem psychiatrischen Hilfesystem ausmachen: Genesungsbegleiter sprechen dieselbe Sprache wie die Betroffenen, benutzen dieselben Umschreibungen und haben einen vergleichbaren soziokulturellen Hintergrund. Das fördert unter anderem das gegenseitige Verständnis, den Austausch und die Erreichbarkeit.

Genesungsbegleiter können »übersetzen«, vermitteln und Missverständnisse klären. Sie greifen andere Themen auf als Profis. Sie stellen andere Fragen, entdecken »blinde Flecken« und eröffnen neue Perspektiven. Sie sind sensibel für Verletzungen der persönlichen Sphäre und der Identität, für Stigmatisierung, für Vernachlässigung der Erfahrungen und Sichtweisen des Klienten. Genesungsbegleiter können mit ihrer eigenen Recovery-Geschichte Modell sein und Hoffnung machen.

Empowerment-Kultur

In einem weiteren EX-IN-Kurs in Bielefeld, 2014, umschrieben die zukünftigen Genesungsbegleiter ihre Rollen und Profile in der psychiatrischen Arbeit und fanden Bezeichnungen wie Übersetzer, Dolmetscher, Kulturbeauftragter, Mediator, Fürsprecher, Wächter der Klientenperspektive, Hoffnungsträger, Netzwerker, Reisebegleiter, Vertrauensbildner, Botschafter, Psychonaut, Wegweiser.

Diese Beschreibungen sind eine Herausforderung für die psychiatrische Arbeit. Sie fordern neue Rollen, Beziehungen und Wege der Zusammenarbeit mit Nutzern und deren Umfeld ein.

Norbert Herriger (2010, S. 232 ff.) fordert in einer seiner Veröffentlichungen zum Thema Empowerment »Respekt vor der Autonomie des Betroffenen und Kooperation auf Augenhöhe« und »neue berufliche Rollen der professionellen Helfer« wie Unterstützer und Mut machender Orientierungshelfer, Lebensweltanalytiker und kritischer Lebensweltinterpret, Netzwerker, Ressourcendiagnostiker, Ressourcenmobilisierer, intermediärer Brückenbauer, Dialogmanager und Konfliktmediator, Vertrauensperson und anwaltschaftlicher Vertreter.

Vergleicht man die Rollen, die Genesungsbegleiter für sich beschreiben, mit den von Herriger geforderten neuen Rollen für professionelle Helfer, ergibt sich ein gegenseitiges Lernfeld, das zu einer Ergänzung im psychiatrischen Alltag führen könnte. Der Weg von einer »Fürsorge-Kultur« hin zu einer »Empowerment-Kultur«, wie ihn Ingeborg Schürmann (1997) beschrieben hat, wäre denkbar.

Für die Entwicklung hin zu einer Empowerment-Kultur können die Genesungsbegleiter einen großen Beitrag leisten, denn ihr Einsatz in der psychiatrischen Praxis fördert und fordert die Weiterentwicklung von Grundhaltungen der psychiatrischen Fachkräfte.

Herausforderung: Nähe und Distanz

Die vielleicht größte Herausforderung ist die Auseinandersetzung mit Nähe und Distanz. Schon in der Ausbildung, aber auch in der Praxis gilt die Entwicklung und Einhaltung professioneller Distanz als Voraussetzung für professionelles Handeln und auch als ein Indikator für einen angemessenen Kontakt zur Klientel. Die professionelle Grundhaltung leitet sich hier aus dem Paradigma der Distanz ab.

Zu Beginn sind Kolleginnen und Kollegen oft irritiert, dass die Genesungsbegleiter den Klienten nicht mit der sonst üblichen, gewohnten professionellen Distanz begegnen. Dies wird manchmal als mangelnde Abgrenzung interpretiert. Wie aber die Peers aus eigener Erfahrung wissen und wie auch die Recovery-Forschung zeigt, sind Nähe, persönliche Zugewandtheit, freundschaftliche Kontakte und Fachkräfte, die nicht nur aus ihrer Rolle heraus agieren, sondern als Person erfahrbar sind, wichtige Aspekte für eine Recovery-orientierte Beziehung (Tooth et al. 1997). Genesungsbegleiter sprechen daher oft von einer bewusst eingegangenen »professionellen Nähe«.

Die Frage lautet bei ihnen nicht: Welche Distanz zu den Klienten brauche ich, damit es mir gut geht und ich professionell handeln kann? Sondern: Welches Maß an Nähe kann ich zulassen, um für die Klienten als Mensch mit Gefühlen, Stärken und Schwächen erfahrbar zu sein, ohne den Überblick zu verlieren?

Oft ist die Frage, wie es Genesungsbegleitern gelingt, einen Zugang und das Vertrauen von Klienten zu gewinnen, der anderen Fachkräften oft verwehrt bleibt. Die Antwort liegt darin, dass Peers, wegen der Offenheit, mit der sie über ihren eigenen Erfahrungshintergrund sprechen, eher eine symmetrische Beziehung anbieten. Dagegen bleibt die Beziehung zu den anderen Profis, die sich weniger als Person und weniger mit ihren individuellen Erfahrungen zeigen, tendenziell eher asymmetrisch.

»Symmetrische Beziehung« und veränderte Gesprächskultur

Bedeutet symmetrische Beziehung, über alles mit den Klienten zu sprechen, meine Telefonnummer weiterzugeben, mich über persönliche Erfahrungen auszutauschen ...? Nein - aber dies auch nicht auszuschließen!

Die Asymmetrie zwischen tendenziell »stabilen gesunden« Fachkräften und tendenziell »instabilen kranken« Patientinnen und Patienten fördert die Distanz zwischen den beiden Gruppen und eine defizitorientierte Selbstwahrnehmung der Klienten: »Denen geht's immer gut - mir nicht«, »Die haben keine Probleme - ich schon«, »Die sind immer ausgeglichen - ich nicht«. Die so mögliche »Idealisierung« der Profis verschärft die Asymmetrie. Insofern wird vorenthalten, was Klienten als hilfreich empfinden: nicht Begegnung mit einem Rollenträger, sondern Kontakt mit einem Menschen.

Die Frage nach der »angemessenen Nähe« bleibt auch insoweit interessant, weil auch Kollegen von der »professionellen Distanz« betroffen sind: Es ist immer noch mit einem hohen Maß an Scham behaftet, sich als Fachkraft damit zu outen, psychische Krisen erlebt zu haben und in psychiatrischer Behandlung gewesen zu sein. Ja, manchmal wird es schon als Problem betrachtet, wenn eine Kollege bekennt, Angehöriger eines psychisch erkrankten Menschen zu sein. Dies wird selten als Erfahrungsschatz genutzt, sondern führt eher zu Diskriminierung und Zweifeln an der Fachlichkeit der Person. Insofern gibt es immer noch eine eher exklusive statt inklusive Neigung in der Psychiatrie, die die Dichotomie von gesund und krank weiterhin manifestiert.

Die Begegnung zwischen psychiatrischen Fachkräften und Genesungsbegleitern und die Unterschiede in Wahrnehmungen und Beziehungsgestaltung bieten die Chance, tradierte professionelle Grundhaltungen zu überprüfen und eventuell neu zu bestimmen. Dafür bedarf es aber einer Gesprächskultur, in der die Ansichten und Herangehensweisen von Genesungsbegleitern nicht als unprofessionell abgetan oder als Kritik abgewehrt, sondern als Anregung und Bereicherung verstanden werden, eigene Überzeugungen und Grundhaltungen zu überprüfen.

Deshalb sollten Erfahrungsexperten schon bei der Ausbildung von Fachkräften beteiligt werden. Sie können dazu beitragen, dass die Betroffenensicht selbstverständlicher berücksichtigt wird, dass Menschen zu Beginn ihrer professionellen Tätigkeit »zur rechten Zeit verunsichert werden« (Bock), und sie können dazu beitragen, dass das Tabu gebrochen wird, auch über die eigene Nähe zu seelischen Erschütterungen zu sprechen.

Schließlich können Genesungsbegleiter nicht nur Klienten, sondern auch Kollegen Hoffnung machen, dass es Licht am Ende des Tunnels gibt, dass Genesung und Wiedererstarken möglich sind und dass sich Zuversicht als Grundhaltung lohnt.


Christel Achberger, Flintbek, ist Diplom-Psychologin und freiberuflich als Beraterin und Weiterbildnerin tätig.

Jörg Utschakowski ist Diplom-Pädagoge und Projektkoordinator bei F.O.K.U.S., Initiative zur sozialen Rehabilitation, Bremen. Bei dem Artikel handelt es sich um die bearbeitete Fassung des Vortrags der Autoren, gehalten auf der DGSP-Jahrestagung 2014 in Bremen.
E-Mail: chrisachberger@magdahaus.de
utschakowski@izsr.de


Weitere Infos im Internet unter:
www.ex-in.de
www.ex-in.info


Literatur:

Amering, M. (2006): Hoffnung - Macht - Sinn. Recovery-Konzepte in der Psychiatrie. In: Bock, T.: Eigensinn und Psychose. »Noncompliance« als Chance. Neumünster: Paranus-Verlag, S. 146 ff.

DGPPN (Hrsg.) (2013): S3-Leitlinie Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen. Heidelberg: Springer-Verlag.

Herriger, N. (2014): Empowerment in der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. 5., erw. u. akt. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer-Verlag, S. 232 ff.

Schürmann, I. (1997): Beziehungsformen zwischen Langzeitnutzern und Professionellen im Kontext der Moderne. In: Zaumseil, M.; Leferink, K. (Hrsg.): Schizophrenie in der Moderne - Modernisierung der Schizophrenie. Bonn: Psychiatrie-Verlag, S. 239 ff.

Tooth, B./Kalyanansundaram, V./Glover, H. (1997): Recovery from Schizophrenia: A Consumer Perspective. Final Report to Health and Human Services Research and Development Grants Program (RADGAC).

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 148 - Heft 2/15, April 2015, Seite 14-15
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Autoren und der Redaktion
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.
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Telefon: 0221/51 10 02, Fax: 0221/52 99 03
E-Mail: dgsp@netcologne.de
Internet: www.psychiatrie.de/dgsp
 
Erscheinungsweise: vierteljährlich, jeweils zum Quartalsanfang
Bezugspreis: Einzelheft 10,- Euro
Jahresabo: 34,- Euro inkl. Zustellung
Für DGSP-Mitglieder ist der Bezug im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Mai 2015

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