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INTERVIEW/025: Der Entnahmediskurs - und der Runde Tisch, Gespräch mit Karen Gervais, Ph.D. (SB)


Interview am 14. September 2013 im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld



Karen G. Gervais, Ph.D. ist Direktorin des Minnesota Center for Health Care Ethics. Auf der Tagung "The Importance of Being Dead - The Dead Donor Rule and the Ethics of Transplantation Medicine" referierte die Ethikerin zur Problematik, daß die gültige Todesdefinition dem technischen Fortschritt in der Intensivmedizin nicht mehr adäquat sei. Da die Synchronizität des Eintritts der verschiedenen Todesmerkmale aufgehoben wurde, reiche die konventionelle Todesdefinition nicht mehr aus. Gervais argumentierte 1986 in ihrem Buch "Redefining Death" gegen die Mehrheit der Ethiker und Mediziner, daß die Hirntodkonzeption daher auch eine neue Bestimmung dieses sozialen Konstrukts erforderlich mache.

Es bedürfe einer signifikanten Entscheidung, um darüber zu befinden, welche biologischen Veränderungen vorliegen müssen, um den Tod eines Menschen festzustellen. Ihrer persönlichen Ansicht nach reiche das unabänderliche Verlöschen des Bewußtseins aus, um den Tod festzustellen. Das Ende des integrierten Funktionierens des ganzen Körpers, ohne das aus Sicht einer organismischen Auffassung des menschlichen Lebens ein Mensch nicht tot ist, sei dafür nicht erforderlich, weil sich im Strom biologischer Prozesse kein Moment feststellen lasse, an dem der Tod mit unbezweifelbarer Evidenz eintrete. Auch wenn der unabänderliche Verlust des Bewußtseins nur einer der tragischen Ereignisse im Sterben eines Menschen sei, so könne an dieser Stelle mit einer normativen Entscheidung der besonderen Bedeutung des Personenkonzepts für die Existenz des Menschen Rechnung getragen werden.

Eine an die Erfordernisse der Transplantationsmedizin angepaßte Todesdefinition beende die "Krise der Inkohärenz" (Franklin Miller) und erlaube die Aufrechterhaltung der Tote-Spender-Regel. Während ein bewußtseins-basierter Standard der Todesdefinition die Fortsetzung der Organentnahme bei Hirntoten erlaube, sollte die "Spende nach Kreislauftod" (DCD) bis auf eng umgrenzte Ausnahmeregelungen wie eine Lebendspende nach Einstellung der lebensverlängernden Maßnahmen untersagt werden. Bei diesen "Special Living Donors" bliebe die Autonomie der Patientin oder des Patienten erhalten, und es würde ihnen nicht geschadet, wenn eine informierte Zustimmung vorläge und eine Anästhesie zur Schmerzvermeidung durchgeführt werde. Damit könne denjenigen seltenen Fällen Rechnung getragen werden, bei denen eine Patientin oder ein Patient Organe spenden will, dies aber aufgrund des nicht eingetretenen Hirntods nicht kann. Keinesfalls jedoch sollte dies zu Lasten eines Pluralismus der verschiedenen Ansätze gehen, in dem andere Auffassungen zum Tod eines Menschen ihren Platz behalten. Der Vorteil der Aufrechterhaltung der Dead Donor Rule liege auch darin, daß potentielle Organspenderinnen und -spender ihre Entscheidung, die sie unter dieser Voraussetzung getroffen haben, nicht revidieren müssen.

Am Ende der Tagung hatte der Schattenblick Gelegenheit, Karen Gervais einige Fragen zu stellen.

Auf dem Podium mit Slide zum Titel des Vortrags - Foto: © 2013 by Schattenblick

Karen Gervais im Vortrag
Foto: © 2013 by Schattenblick

Schattenblick: Frau Gervais, Hans Jonas nahm zur Definition des Todes auf eine Weise Stellung, die sich radikal gegen die medizinische Profession wendete. Teilten Sie damals seine Auffassung, und welche Folgen hatte die Auseinandersetzung mit seiner Position für Ihre eigene wissenschaftliche Laufbahn?

Karen Gervais: Ich stimmte mit ihm in zwei Aspekten seiner Argumentation überein. Zum einen ging er davon aus, daß damals eine neue Definition des Todes vorgenommen wurde, die von Bedeutung für den Umgang mit sterbenden Menschen war. Zum anderen erkannte er, daß dies eine lange Periode einleitete, während der man Menschen als Organquellen und Lieferanten anderer Rohstoffe benutzen würde. Seine Vorhersage hat sich absolut erfüllt, wenn man in Betracht zieht, welche Richtung die Verfahrensweise der Organbeschaffung genommen hat. Ich wendete mich entschieden gegen kontrollierte wie unkontrollierte DCD und bot als Lösung an, daß wir in begrenztem Umfang einige Lebendspenden zulassen. Während Jonas jedoch die Neudefinition des Todes ablehnte, machte es für mich Sinn, den irreversiblen Verlust der Fähigkeit, ein Bewußtsein zu haben, als gutes Kriterium dafür anzuführen, daß ein Mensch tot ist. Ich nahm seine Auffassung jedoch sehr wohl wahr, wonach es die Würde des sterbenden Menschen verletze, wenn wir sie als tot reklassifizieren.

Was ich an Bob Veatchs Vortrag sehr interessant fand, ist seine Erklärung, daß das Harvard-Komitee genau wußte, was es tat: Können wir diese Gruppe von Patienten in eine Kategorie fassen, die die Organentnahme rechtfertigt? Hans Jonas drang tief in das damalige Denkmuster ein, und ich bin der Ansicht, daß sich die von ihm formulierten Befürchtungen als zutreffend erwiesen haben. Das lag zum einen daran, daß wir die Todesdefinition nie umfassend geklärt haben. Wir schufen dieses binäre Kriterium, und das Interesse, bessere Organe für die Transplantation bereitzustellen, führte dazu, daß wir Menschen mit Herzstillstand für tot erklärten. Die Transplantationsmedizin machte sich dies beim DCD zunutze, wozu sie ihre Tests anpassen mußte, da weder die Herz- noch die Hirnfunktion irreversibel geendet hat. Hans Jonas hat also recht behalten, und so brauchen wir ein völlig neues Paradigma. Ich habe keine Einwände gegen diese lebenden Spender, doch müssen sie in vollem Umfang wissen, wie dieser Prozeß abläuft, wie auch Menschen, die unter anderen Umständen Organe spenden, sehr viel stärker in den jeweiligen Prozeß eingebunden werden müssen.

SB: Zieht man die beteiligten Interessen der Transplantationsindustrie, Versicherungswirtschaft und Ärzteschaft in Betracht, die nicht als neutral gelten können, da Karriere- und Profitinteressen im Spiel sind, muß man davon ausgehen, daß diese auf potentielle Spender Einfluß nehmen. Wie könnte man verhindern, daß deren Interessenlage, anderen Menschen Gutes zu tun, durch fremdnützige Absichten korrumpiert wird?

KG: Das hat sich zu einer politischen Frage entwickelt, weil die Gesetzgebung die Transplantationsindustrie ermächtigt hat, Arrangements zu treffen, die die Arbeitsweise der Transplantationszentren in dem von Ihnen angesprochenen Sinn beeinflußt haben. Wir haben eine Gesetzgebung möglich gemacht, die diesen Zentren eine große Machtfülle zuspricht. Dagegen kann man sich nur verteidigen, indem man nein sagt. In den USA haben Krankenhäuser und Ärzte Verträge, die sie verpflichten, die OPOs (organ procurement organisations) zu informieren. Dieses enggefaßte Verfahren wurde von der Bundespolitik wie auch auf Ebene der Bundesstaaten so gestaltet, daß die Kliniken und Mediziner die OPOs benachrichtigen müssen, wann immer ein Patient den Eindruck eines bevorstehenden Zusammenbruchs des Organismus erweckt.

Diese Situation stürzt insbesondere Neurologen auf Intensivstationen in ein Dilemma. Mir ist mindestens ein Fall bekannt, in dem einem Mediziner gekündigt wurde, weil er diese Benachrichtigung unterlassen hatte, da er noch Chancen für den betreffenden Patienten sah. Es gibt einfach zu viele Patienten, die zwar momentan schwere Hirnschäden davongetragen haben, aber später eine erfolgreiche Rehabilitation durchlaufen können. Sie in die Hände der OPOs zu geben, die eine aggressive Vorgehensweise an den Tag legen, kann diese Patienten das Leben kosten. Wie könnte eine Lösung dieses Problems aussehen? Ich habe heute den Vorschlag eingebracht, daß wir die DCD-Verfahren einstellen müssen, weil die Patienten möglicherweise nicht hirntot sind und etwas spüren können, was schrecklich wäre. Wir müssen eine Rekategorisierung vornehmen und sehr viel engere Beschränkungen einführen, wie diese Verfahren durchgeführt werden. Das ist meines Erachtens die einzige Möglichkeit, einen Schritt zurückzugehen und sich dem Fluß der Entwicklung entgegenzustemmen.

SB: Würden Sie angesichts der Erkenntnisse Alan Shewmons hinsichtlich des Hirntodkonzepts davon ausgehen, daß es lediglich eine Glaubensfrage ist, ob als hirntot klassifizierte Patienten tatsächlich tot sind?

KG: Ich teile mit Bob Veatch die Ansicht, daß die diesbezüglichen Auffassungen sehr weit auseinandergehen. Wenn er Kriterien anmahnt, denen zufolge ein Patient für hirntot erklärt wird, damit dessen Organe auf bestmögliche Weise gespendet werden können, sollte man jedenfalls einen Spielraum unterschiedlicher Positionen zugestehen. Hier kommt unser Pluralismus ins Spiel: Ich rücke von meiner Sichtweise nicht ab, daß Bewußtsein der Kern der Existenz ist. Ich habe jedoch mit Familien gearbeitet, deren Angehöriger sich in einem vegetativen Zustand befindet und in einem Fall 17 Jahre weitergelebt hat. Diese Familien widmen dem Patienten ihre uneingeschränkte Liebe und Zuwendung, wie sie dies getan haben, als er noch bei Bewußtsein war. Ich würde ihre Situation nie nach Maßgabe des Konzepts, was ich in meinem Fall als tot auffassen würde, vorab beurteilen.

SB: Sprechen Sie sich dafür aus, solche Patienten zur Organspende freizugeben?

KG: Nur, wenn sie mit dem Konzept der Todeserklärung übereinstimmen.

SB: Diese Entscheidung sollte also dem Patienten oder seiner Familie überlassen werden?

KG: Ich schlage vor, daß die Familie ersatzweise eine Beurteilung vornehmen kann. Nach geltendem US-Recht kann ich nur dann eine solche Entscheidung für eine andere Person treffen, wenn ich in der Lage bin einzuschätzen, was diese gewollt und getan hätte. In diesem Fall ist es mir gestattet, anstelle dieser Person ersatzweise eine Entscheidung zu treffen. Dafür spreche ich mich aus, wenn es um solche weitreichenden Entscheidungen geht.

SB: Sie waren auch auf dem Gebiet einer Ethik der Pandemie tätig und befaßten sich mit Fragen, wem im Falle von Katastrophen oder Epidemien auf welche Weise Hilfe zu leisten ist und welche Rangfolge dabei zugrundegelegt wird.

KG: Das ist richtig. Dieses Projekt endete vor etwa eineinhalb Jahren. Zuvor hatten wir drei Jahre lang mit dem Gesundheitsministerium von Minnesota zusammengearbeitet. Sowohl auf Bundesebene als auch in diesem Bundesstaat wurden damals Vorkehrungen getroffen, wie man einer Pandemie begegnen könnte. Wir wurden in diesem Zusammenhang damit beauftragt, einen Rahmenplan zur Rationierung nicht in ausreichendem Maße vorhandener Medikamente zu erstellen. Wir machten das und gingen mit unserem Vorschlag auch an die Öffentlichkeit, um die Akzeptanz der von uns empfohlenen Prioritäten zu untersuchen. Das führte dazu, daß wir im Lichte der öffentlichen Reaktion letztendlich einige Teile des ethischen Rahmenplans änderten. Zu den interessantesten Fragen gehörte dabei, ob wir das Lebensalter auf die eine oder andere Weise als Kriterium einbeziehen sollten. Wir bekamen, ehrlich gesagt, nie eine eindeutige Antwort auf diese Frage, so daß damals beides möglich gewesen wäre.

Wir bezogen zahlreiche medizinische Ressourcen in unsere Überlegungen ein, angefangen von Impfstoffen über Schutzmasken bis hin zu Beatmungsgeräten für Intensivstationen. Dabei fanden wir beispielsweise heraus, daß es in Minnesota insgesamt 1200 solcher Beatmungsgeräte bei einer Bevölkerung von 5,2 Millionen Menschen gab. Wenngleich natürlich nur ein geringer Bruchteil der Einwohnerschaft darauf angewiesen wäre, war doch andererseits klar, daß die Beatmungsgeräte im Ernstfall nicht ausreichen würden. Eine Schlüsselfrage war also, wie man mit einer derartigen Situation umgeht. Wir wählten den Ansatz, einen ethischen Rahmenplan zur Rationierung im Falle einer gravierenden Pandemie zu entwickeln, wobei zuerst der Maßstab für "gravierend" zu klären war. Wir nahmen die Grippewelle des Jahres 1918 als Modell, erarbeiteten einen ethischen Rahmen für die zu erreichenden Zielsetzungen und prüften dann verschiedene Modelle hinsichtlich der Impfstoffe, Beatmungsgeräte, antiviralen Medikamente, etc.. Daraus leiteten wir wiederum Rangfolgen der Versorgung ab.

SB: Wie gingen Sie mit der Frage der Priorisierung um, die meines Erachtens den Kern aller Ethik berührt, weil der Wert eines menschlichen Wesens für die Gesellschaft zur Disposition steht? Worauf gründeten Ihre Entscheidungen in dieser Hinsicht?

KG: Unsere Arbeitsgruppe setzte sich nicht allein aus Ethikern, sondern aus einem Spektrum von Interessenvertretern zusammen. Wir entwarfen einen Rahmen von Prinzipien, von denen einige mit der Frage von Fairneß zu tun hatten. Diese Bedingungen wurden sehr sorgfältig in Kontrast zu den Prinzipien festgelegt, die für gewöhnlich in unserer Gesellschaft jene begünstigen, die über Geld und Beziehungen verfügen. Der Titel unserer Arbeit lautete "Zum Nutzen aller", und unsere Vorgehensweise orientierte sich an drei wesentlichen Prinzipien, nämlich dem Wohle aller, dem Schutz der wichtigsten Infrastruktur und der Fairneß. Die Frage der Fairneß behandelten wir sehr detailliert, da wir sicherstellen wollten, daß der Schwerpunkt auf Bevölkerungsteile gelegt wurde, die nicht den üblichen Zugang zum Gesundheitssystem haben. Als wir dann Prioritäten setzten, geschah dies stets unter Berücksichtigung der Fairneß. Wir entwarfen also den Rahmen und klärten insbesondere, welche Gruppen zuerst Zugang zu den Ressourcen bekommen sollten.

SB: Auch bei der Transplantationmedizin hat man es einerseits mit ethischen Vorgaben zu tun, während die Menschen andererseits in einer Gesellschaft leben, in der alles von Ökonomie und sozialem Status abzuhängen scheint. In den USA haben viele Menschen keine Krankenversicherung, so daß ein Defizit hinsichtlich der Grundbedürfnisse vorherrscht. In welchem Verhältnis steht das zu einer Form der Medizin, die darüber entscheidet, wer ein Organ bekommt und wer nicht?

KG: Menschen ohne Krankenversicherung haben für gewöhnlich überhaupt keinen Zugang zur Transplantation. Als ich in Teilzeit Bioethik an einem College gelehrt habe, zeigte ich stets ein Video über eine Frau, in deren Bundesstaat eine Lebertransplantation durch das staatliche Hilfsprogramm Medicaid nicht finanziert wird. Alle sahen zu, wie diese Frau starb, weil ihr niemand eine Transplantation bezahlen wollte. Im Zuge der Reform, für die sich inzwischen die Bezeichnung Obamacare eingebürgert hat, sollen viel mehr Menschen eine gute Versicherung bekommen. Bei einer Gruppe, mit der ich als Ethikerin arbeite, handelt es sich um katholische Nonnen, deren wichtigstes Projekt die Einrichtung von Krankenhäusern für Menschen ohne Versicherungsschutz ist. Das sind zum überwiegenden Teil Einwanderer ohne gültige Papiere, die im Unterschied zu legalen Immigranten keine Krankenversicherung abschließen können. Zu den Kernfragen, die ich einbringe, gehören Krankenhäuser mit eng bemessenen Budgets, Menschen ohne Versicherung und ein rationierter Zugang zu Medikamenten. Rationierung trifft man also in verschiedenen Zusammenhängen an.

SB: Wie verhält es sich mit dem Widerspruch zwischen einer kostenintensiven Transplantationsmedizin auf der einen und der fehlenden Gesundheitsversorgung für viele Menschen auf der anderen Seite?

KG: Ich habe zu dieser Konferenz unter anderem einen Artikel mitgebracht, dessen Autor sich für die Ausweitung der unkontrollierten Organspende nach Kreislauftod (uDCD) einsetzt. Sein Hauptargument lautet, daß der Mangel an Spenderorganen eine Krise des öffentlichen Gesundheitssystems sei. Ich halte das für eine beschämende Stellungnahme. Die Transplantationsindustrie hat in den 1960er Jahren die Kontrolle übernommen und die Definition des Todes wie auch Menschen im Kontext des OPO-Verfahrens manipuliert. Sie hat dieses riesige Geschäft geschaffen. Warum sollte nicht jeder Zugang gemäß der medizinisch relevanten Kriterien haben?

SB: Wen meinen Sie mit Transplantationsindustrie? Schließt das auch die Versicherungen ein?

KG: Ich denke mehr an die gesamte Infrastruktur für Transplantationen: Die Zentren, die Teams, die Universitäten, kurz alle, die ein direktes Interesse daran haben, diesen Sektor der Medizin voranzutreiben.

SB: Sehen Sie mit Blick auf die Zukunft die Gefahr, daß die Liberalisierung der Todesdefinition letzten Endes sozial ausgegrenzte Minderheiten ohne politischen Einfluß bedroht, indem die Zustimmung zur Organspende obsolet wird?

KG: Sorgen machen müssen wir uns über Menschen, die nicht selbst für sich sprechen und ihre eigenen Interessen nicht vertreten können wie auch niemanden haben, der diese für sie vertritt. Das ist heutzutage im Gesundheitswesen sehr oft der Fall. Viele Leute sind allein und erfahren keine Unterstützung durch andere. Welche Kriterien legen wir für sie an? Vielleicht ist es zu extrem, ein Konzept des Großhirntods mit dem Hirntod auf gleiche Stufe zu stellen. Wir sollten aber sicherstellen, daß zumindest das traditionelle Hirntodkriterium zugrundegelegt wird und wir nur dann, wenn jemand den Verlust des Bewußtseins als Tod auffaßt, dieses Kriterium verwenden. Die größte Sorge gilt der Frage, ob die Öffentlichkeit verunsichert ist oder nicht. Teil meiner Theorie war, daß meine Definition, wonach der Tod mit dem permanenten Verlust des Bewußtseins gleichzusetzen ist, zwar radikal genannt werden kann, wobei aber doch ein Konsens besteht, daß der Tod diesen Verlust des Bewußtseins auf jeden Fall einschließt. Wenn wir eine Wahl haben, wie der Tod bestimmt wird, schaffen wir Raum, daß Menschen über ihre eigenen Präferenzen und Werte sprechen können. Sie haben das Problem angesprochen, daß Menschen möglicherweise nicht dazu in der Lage sind oder jemand nach anderen Maßgaben interveniert. Ich sehe diese Gefahr nicht am Horizont heraufziehen, wohl aber die inakzeptable Entwicklung, die die Transplantationsindustrie genommen hat. Wenn wir nicht schnell beginnen, diese Entwicklung zurückzunehmen, verlieren wir jeden Tag weiteren Boden.

SB: Sehen Sie einen grundsätzlichen Konflikt zwischen ökonomischen und moralischen Interessen?

KG: Der moralisch begründete Schutz des einzelnen steht in Widerspruch zu den Interessen der Transplantationsindustrie. Ich bin nicht gegen die Transplantation, aber der Auffassung, daß uns diese Branche vor sich her treibt und jede Agenda dominiert, während der Widerstand dagegen unterentwickelt ist. In einem kürzlich erschienenen Beitrag spricht sich Ari R. Joffe für ein Moratorium beim DCD aus. Der Artikel ist zwar kompliziert, aber einer der besten zu diesem Thema. Ich teile Joffes Auffassung, daß wir ein Moratorium beschließen und eine grundsätzliche Klärung herbeiführen sollten, bevor wir weiter voranschreiten.

SB: Frau Gervais, vielen Dank für das Gespräch.

Ensemble aus Fahrstuhl, Büste und Fensterausblick - Foto: © 2013 by Schattenblick

Innenansicht ZiF
Foto: © 2013 by Schattenblick


Fußnoten:

Bisherige Beiträge zum Kongreß "The Importance of Being Dead - The Dead Donor Rule and the Ethics of Transplantation Medicine" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIZIN→ REPORT:

BERICHT/014: Der Entnahmediskurs - Fluß der Fragen, Meer der Zweifel (SB)
BERICHT/015: Der Entnahmediskurs - Ein Schritt vor, zwei zurück (SB)
BERICHT/016: Der Entnahmediskurs - Die Patienten, das sind die anderen ... (SB)
INTERVIEW/022: Der Entnahmediskurs - Außen vor und mitten drin, Gespräch mit Prof. Dr. Ralf Stoecker (SB)
INTERVIEW/023: Der Entnahmediskurs - Interessensausgleich? Gespräch mit Dr. Theda Rehbock (SB)


15. Dezember 2013