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INTERVIEW/036: E-Cardmedizin - Beweisumkehr Patientenwürde ...    Gabi Thiess im Gespräch (SB)


"Ich halte die e-Card für eine riesengroße Gefahr."

Gespräch am 31. Oktober 2014 in Hamburg


G. Thiess in Großaufnahme während des Interviews - Foto: © 2014 by Schattenblick

Gabi Thiess, Patientenvertreterin des Bündnisses "Stoppt die e-Card"
Foto: © 2014 by Schattenblick

Sollte es den Betreibern des e-Card-Projekts tatsächlich gelingen, die vielen gravierenden technischen wie organisatorischen Einführungsprobleme - um von den bundesweiten Protesten und zahllosen Klagen noch gar nicht zu reden - zu bewältigen und flächendeckend durchzusetzen, daß sämtliche Patientendaten zentral verwaltet werden, wird kein Mensch mehr, sobald er medizinische Hilfe in Anspruch nehmen möchte, seiner virtuellen Identität entkommen können. Das weltweit größte informationstechnologische Projekt gefährdet Menschen nicht nur in seiner mißbräuchlichen Form, womit vornehmlich Datenschützer argumentieren, die angesichts der NSA-Enthüllungen mit besten Gründen befürchten, unbefugte Dritte könnten sich dieser Informationen bemächtigen, was schwerste Nachteile für die Betroffenen nach sich ziehen könnte.

Wäre dieses Risiko dadurch zu rechtfertigen, daß ihm ein gesundheitlicher Nutzen gegenüberstünde, der sich im Interesse der Patienten daraus ergeben würde, daß ihre persönlichen bzw. medizinischen Daten zentral gespeichert und jedem Funktionsträger des Gesundheitswesens zur Verfügung gestellt werden? Kritikerinnen und Kritiker der e-Card würden eine solche Frage sicherlich mit einem klaren Nein beantworten. Über 50 Organisationen haben sich zu dem Aktionsbündnis "Stoppt die e-Card" zusammengeschlossen, um ihre Bemühungen, diesen Daten- und Überwachungskatastrophenfall abzuwenden, zu bündeln. Sie klären über die Gefahren und möglichen Folgewirkungen auf und machen deutlich, daß eine vollends ökonomisierte Gesundheitsmaschinerie, in der medizinische Leistungen als Waren gehandelt werden, dem sozialstaatlichen Versprechen, das Existenzminimum aller Bürger zu sichern und ihnen einen wirksamen Schutz auch im Krankheitsfall zu gewähren, zuwiderläuft.

Gabi Thiess ist Patientenvertreterin des Bündnisses "Stoppt die e-Card". Sie ist entsetzt über das Vorgehen der Krankenkassen, Patienten wie Ärzte durch die Androhung, ab dem 1. Januar kommenden Jahres werde nur noch auf e-Card behandelt, unter Druck zu setzen. Schon Ende August erklärte sie dazu: "Wir zahlen hohe Beiträge an die Krankenkassen für unsere medizinische Versorgung. Es ist eine Unverschämtheit, dass ich ohne e-Card die Arztbehandlung selbst bezahlen soll. Das kann ich mir gar nicht leisten. Im Übrigen hängt mein Versicherungsschutz nicht davon ab, ob ich mir so eine Schnüffelkarte ausstellen lasse." [1]

Am 31. Oktober fand im Hamburger Hotel Barceló ein Treffen des Aktionsbündnisses statt, das den programmatischen Titel trug: "Stoppt die e-Card" - "Medizin statt Überwachung". Am Rande dieser Veranstaltung erklärte sich Frau Thiess bereit, dem Schattenblick einige Fragen zu beantworten.

Schattenblick: Wir haben vorhin davon gehört, daß Millionen Bundesbürger immer noch keine e-Card haben, viele von ihnen aus Gründen des Protestes. Es gibt aber auch die Sorge, ohne die Karte unter Umständen den Versicherungsschutz zu verlieren. Sie ist, worüber an diesem Abend hier auch informiert wurde, zwar unbegründet, dennoch scheinen sehr viele Menschen solche Befürchtungen zu hegen. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?

Gabi Thiess: Ich bin in der Selbsthilfe chronisch Kranker tätig. Da kenne ich eine Frau, die eigentlich eine e-Card-Verweigerin ist. Sie leidet an COPD, einer Lungenerkrankung. Diese Frau muß wirklich ständig zum Arzt gehen, alle zwei, drei Monate muß sie sogar ins Krankenhaus. Sie ist sehr eingeschüchtert, weil das alles ihre Gesundheit natürlich sehr stark betrifft. Sie hat jetzt eine elektronische Gesundheitskarte angefordert, auch weil sie massiv von der Krankenkasse bedroht wurde.

SB: Gibt es mehr Menschen, denen es so ergeht?

GT: Ja, gerade bei den chronisch Kranken, weil sie Angst haben, daß sie nicht mehr zum Arzt gehen können. Das ist eine ganz, ganz große Sorge. Das betrifft, glaube ich, so gut wie alle chronisch Kranken. Ich glaube, ich bin da eine große Ausnahme.

SB: Wie sind Sie dazu gekommen, sich gegen die e-Card zu stellen?

GT: Das fing eigentlich so 2006 an, als ich mich zum ersten Mal mit dem Gesundheitssystem befaßt habe. In einem Fernsehbericht habe ich davon gehört, daß die Ärzte protestieren. Das waren etliche tausend, und ich habe mich gefragt, wieso tun sie das? Das war der Anfang. Und dann habe ich mit meiner Gruppe darüber gesprochen. Wir haben 2006 in Berlin sogar bei den Ärzte-Protesten mitgemacht, da habe ich die Freie Ärzteschaft [2] und Frau Dr. Lüder [3] kennengelernt. Dann kam die elektronische Gesundheitskarte auf, das wurde mein Thema.

Mit meinen Daten bin ich immer schon vorsichtig umgegangen, aber bis dahin hatte ich mir nicht ganz so viele Gedanken darum gemacht. Aber dann, als ich eine Odyssee von Arztbesuchen hinter mir hatte, auch mit vielen falschen Diagnosen, und es im Grunde genommen 14 Jahre gedauert hat, bis überhaupt herausgefunden wurde, was ich habe, hat sich das geändert. Wenn ich daran denke, was mir da alles passiert ist auf diesem Weg! Es hieß, daß ich eine Persönlichkeitsstörung und schwerste Depressionen hätte - ich wußte gar nicht, was Depressionen sind.

Letztendlich macht mir das natürlich ganz große Sorgen, denn wenn solche Dinge auf dieser Karte gespeichert werden und ich dann zu einem fremden Arzt komme, dann steht das da alles drin. Wie stuft der mich denn ein? Der denkt doch, ich hätte vielleicht wirklich "einen kleinen weg" oder so etwas! Also, ich halte das für sehr gefährlich. Meine richtige Diagnose wurde erst gestellt, als ich zu einem Arzt gegangen bin, der von mir noch überhaupt nichts wußte. Da wurde dann 'mal ganz anders geguckt. Deshalb halte ich die e-Card für eine riesengroße Gefahr.

SB: Haben Sie aufgrund Ihrer persönlichen Erfahrungen eine kritische Haltung gegenüber der Medizin insgesamt?

GT: Ja, natürlich.

SB: Unter manchen e-Card-Kritikern scheint es so etwas wie einen vorsichtigen Optimismus zu geben, was die Verhinderung dieses Projekts betrifft. Weil es im vergangenen Jahr nicht gelungen ist, die alten Krankenversichertenkarten für ungültig zu erklären, wird vielfach angenommen, daß das in diesem Jahr nicht anders sein wird. Teilen Sie diesen Optimismus?

GT: Nein. Ich glaube, diesmal machen sie Ernst damit, daß die alten Karten tatsächlich ungültig werden und es ab Januar Schwierigkeiten geben wird.

SB: Sie haben bereits im Juni vergangenen Jahres prophezeit, daß dem Bundesministerium für Gesundheit "nur noch der Weg offener Zwangsmaßnahmen" bleiben werde, und das "unter dem Eindruck von weltweiten, sich immer mehr verselbständigenden totalen Überwachungsstrukturen" [4]. Das hat mich an "1984" erinnert, den Roman von George Orwell, der als Warnung vor einem totalitären Überwachungsstaat weltweit bekannt geworden ist. Für die Fragen aber, die sich angesichts der aktuellen Entwicklung im Gesundheitswesen ergeben, scheint es keine gesellschaftliche Sensibilität zu geben. Haben Sie dafür eine Erklärung?

GT: Ich glaube, daß die Jüngeren das alles gar nicht mehr so empfinden, die sind schon ganz anders aufgewachsen. Wie Herr Brunngraber schon sagte [5], sind diese Gesundheits-Apps für die völlig normal. Ich würde so etwas nie benutzen, auch wenn ich ein solches Programm geschenkt bekommen würde. Die Jugend sieht das anders, die hat dieses Bewußtsein nicht. Ich glaube, man entwickelt erst ein Gespür dafür, was es mit den Krankheitsdaten auf sich hat, wenn man selbst chronisch krank ist und wirklich schlechte Erfahrungen gemacht hat.

SB: Ein fataler Zusammenhang, denn wer selbst unmittelbar betroffen ist, sieht für sich meist nur noch wenig Möglichkeiten, sich politisch zu engagieren.

GT: Das ist ganz unterschiedlich. Es gibt auch viele junge Menschen, die sehr aufgeschlossen sind. Das habe ich schon öfter feststellen können, wenn ich mit meiner Gruppe eine Mahnwache mache, um auf die e-Card aufmerksam zu machen. Häufig kommt dann allerdings auch das Argument: "Na und? Es kann doch ruhig jeder wissen, wenn ich irgendeine Erkrankung habe!" Die denken nicht darüber nach, was das für sie später für Folgen haben kann.

SB: Wenn das Empfinden für diese Gefahren fehlt, ist es nicht einfach, kritische Argumente zu vermitteln. Wie gehen Sie mit diesem Problem um?

GT: Ich versuche das den jüngeren Menschen damit zu erklären, daß ihre eigenen Kinder das ja letztlich später auch tragen müssen. Wenn eine chronische Erkrankung wie Diabetes in einer Familie auftritt, wird das in der Krankengeschichte beispielsweise des Sohnes auch gespeichert. Da können sich die Krankenkassen dann einen Vermerk machen. Diabetes gilt als vererbbar, das macht das dann noch einleuchtender. Aber letzten Endes sollen wir dazu gebracht werden zu glauben, daß wir selbst dafür verantwortlich wären, wenn wir krank sind.

SB: Vielen Dank, Frau Thiess, für das Gespräch.


Fußnoten:

[1] http://www.presseportal.de/pm/72083/2814456/unzulaessiger-druck-bei-elektronischer-gesundheitskarte-ab-januar-chaos-in-den-arztpraxen

[2] Die Freie Ärzteschaft e. V. ist ein Berufsverband niedergelassener Haus- und Fachärzte, der sich für eine patientenorientierte und sichere Medizin einsetzt. Sie gehört zu den 54 Bürgerrechts- und Datenschutzorganisationen, Patienten- und Ärzteverbänden, die sich zum Aktionsbündnis "Stoppt die e-card" zusammengeschlossen haben.

[3] Siehe den Bericht zum Vortrag von Silke Lüder im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIZIN → REPORT:
BERICHT/019: E-Cardmedizin - Brücke der Umlastdienste ... (SB)

[4] http://www.stoppt-die-e-card./index.php

[5] Siehe das Interview mit Axel Brunngraber im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIZIN → REPORT:
INTERVIEW/035: E-Cardmedizin - Ökonomisierter Rückschritt ...    Axel Brunngraber im Gespräch (SB)


Bisherige Beiträge zum Aktionstreffen "Medizin statt Überwachung" in Hamburg im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → MEDIZIN → REPORT:

BERICHT/018: E-Cardmedizin - Vorwand, Plan und Wirklichkeit ... (SB)
BERICHT/019: E-Cardmedizin - Brücke der Umlastdienste ... (SB)
BERICHT/020: E-Cardmedizin - Kontrolle, Ökonomie, Gesundheitseffizienz? ... (SB)
BERICHT/021: E-Cardmedizin - In einer Hand ... (SB)
INTERVIEW/033: E-Cardmedizin - Umlast und Bezichtigung ...    Manfred Lotze im Gespräch (SB)
INTERVIEW/034: E-Cardmedizin - Transparenz und Selbstbestimmung ...    Rolf Lenkewitz im Gespräch (SB)
INTERVIEW/035: E-Cardmedizin - Ökonomisierter Rückschritt ...    Axel Brunngraber im Gespräch (SB)

27. November 2014