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INTERVIEW/046: Am Lebensrand - der assistierte Suizid ...    Diplom-Politologe Michael Bauer im Gespräch (SB)


Sterben nur nach bestandener Prüfung oder: Der unfreie Freitod

Interview mit dem Diplom-Politologe Michael Bauer, Vorstand der Humanistischen Vereinigung

Das Gespräch führte Christa Schaffmann - März 2022



Porträt von Diplom-Politologe Michael Bauer - Foto: © by Humanistische Vereinigung

Der Diplom-Politologe Michael Bauer ist seit 2011 Vorstand der Humanistischen Vereinigung
Foto: © by Humanistische Vereinigung

Schattenblick: Am 26. Februar 2020 verkündete das Bundesverfassungsgericht sein bahnbrechendes Urteil zur Sterbehilfe, in dem es den umstrittenen § 217 StGB ("geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung") für verfassungswidrig erklärte. Steht der zuletzt vorgelegte Gesetzentwurf (Castellucci/Kappert Gonther), der im Unterschied zu Entwürfen von 2020 und 2021 aus dem neu gewählten Bundestag heraus entstanden ist, im Einklang mit dem Karlsruher Urteil?

Michael Bauer: Bei diesem Entwurf fühle ich mich an das Verbot von Werbung für den Schwangerschaftsabbruch erinnert. Schon wieder will der Gesetzgeber etwas ganz Ähnliches vorschreiben. Der Entwurf geht weit hinter das zurück, was ich mir unter wirklicher Autonomie der Betroffenen vorstelle. Da ist wieder ein paternalistischer Gestus drin. Es geht den Verfassern allem Anschein nach nicht darum, dem Einzelnen einen würdevollen Suizid zu ermöglichen, sondern diesen so schwer wie möglich zu machen, wenn nicht gar zu verhindern. Die Liste von Voraussetzungen - angefangen von vorgeschriebenen Gesprächen mit Ärzten, darunter einem Psychiater, über eine umständliche Beratung bis hin zur Festlegung von langen Fristen, um die Ernsthaftigkeit des Suizidwunsches zu prüfen - widerspricht dem, was eigentlich im Zentrum stehen sollte: der autonome und verantwortliche Wille der Betroffenen.

Schattenblick: Wenn es stimmt, das 60 bis 90 Prozent aller Suizidalen an psychischen Erkrankungen leiden, die sie unter Umständen nicht frei entscheiden lassen - rechtfertigt das nicht eine solche psychiatrische Untersuchung?

Michael Bauer: Dass Menschen, die ihr Leben und in vielen Fällen damit verbundenes großes Leid beenden und dabei Unterstützung wollen, eine psychische Erkrankung unterstellt wird, die sie nicht mehr autonom handeln lässt, ist eine Zumutung. Es mag sein, dass viele Selbsttötungen oder Selbsttötungsversuche mit einer psychischen Erkrankung zusammenhängen, aber das betrifft aus meiner Sicht gerade nicht die Menschen, die Suizidhilfe in Anspruch nehmen wollen. Man soll doch nicht glauben, dass man per Gesetz jeglichen in Krisensituationen vollzogenen Suizid in Zukunft wird verhindern können. Deshalb sind die von Ihnen zitierten Prozentzahlen die falsche Faktengrundlage für dieses Gesetz. Menschen, die Sterbehilfe nachfragen, haben z.B. eine schwere Erkrankung oder andere Gründe, aus dem Leben scheiden zu wollen, dies aber mit ärztlicher Unterstützung tun möchten. Das ist keine spontane Entscheidung. Allein die Vorstellung ist völlig lebensfremd. Es braucht an dieser Stelle nach der Betreuung durch den behandelnden oder den Hausarzt keine weitere ärztliche Diagnostik und schon gar nicht einen Arzt, der sich auf Diagnostik von Suizidenten spezialisiert hat.

Ich vermute deshalb, dass es den Verfassern des Gesetzentwurfes nicht um Hilfe für Suizidenten geht, nicht um eine ergebnisoffene Beratung, sondern um die Verhinderung der Selbsttötung generell. Wieder wird versucht, jegliche Hilfe unter den Verdacht einer kriminellen Handlung zu stellen. Wieder wird so getan, als ginge es dabei um ein profitorientiertes Vorgehen, vor dem der unmündige Bürger geschützt werden muss durch staatliche Prüfungen seiner Gründe und seines Gesundheitszustands. Diese Art des Umgangs ist der Ernsthaftigkeit des Themas nicht angemessen.

Schattenblick: Einige Gesetzentwürfe sehen vor, dass die Assistenz durch einen Arzt/eine Ärztin erfolgen sollte. Parallel dazu wird davor gewarnt, dass sich nicht genug Ärzte dazu bereit erklären würden. Soll das Menschen abschrecken?

Michael Bauer: Mit den Gesetzentwürfen wird mehrheitlich ein Bild aufgebaut, als würden gewaltige Mengen von Menschen plötzlich um Suizidbeihilfe bitten. Aus dieser völlig übertriebenen Prognose leitet man dann das nächste Problem ab: Für diese Flut von Suizidenten stünden nicht genug Ärzte als Helfer zur Verfügung. Ich bin sicher, dass es für die tatsächliche Anzahl von Suizidenten genug Ärzte geben wird, wenn ihre Hilfe gefragt ist.

Schattenblick: Wir haben in der Pandemiezeit erlebt, wie vielen Menschen es nicht gelingt, sich wissenschaftlich fundierte Informationen zu beschaffen und sie auch noch zu verstehen. Was spricht gegen Beratung z.B. über neue Behandlungsmethoden oder zu Palliativmedizin als Alternative zum Suizid?

Michael Bauer: Ich bin nicht gegen Beratung, sie kann sogar sehr sinnvoll sein, vorausgesetzt sie ist ergebnisoffen und der Ratsuchende erfährt bei seiner Entscheidung eine respektvolle Begleitung. Wenn aber in Gesetzentwürfen hierbei Schulden- und Drogenberatung für geeignete Maßnahmen gehalten werden, dann sagt das - bei allem Respekt vor den Verfassern - etwas über das Bild aus, das sie von Suizidenten haben. Denkbar wäre eine Beratung ähnlich wie sie im Vorfeld eines Schwangerschaftsabbruchs Vorschrift ist. Diese Beratung sollte zu einer Bestätigung führen, mittels derer zum Suizid Entschlossene sich das Medikament und ggf. Begleitung oder Assistenz für ihren Freitod suchen können. Was die Frage nach der Palliativmedizin angeht: Suizidassistenz und Palliativmedizin stehen nicht im Gegensatz, und sie schließen sich aus der Sicht der Betroffenen nicht aus. Es wäre sehr wünschenswert, dass die palliativmedizinische Versorgung, auch mit Hospizen, in Deutschland gemäß dem tatsächlichen Bedarf ausgebaut wird. Es ist die Politik, die das bisher mit restriktiven Finanzierungsregeln verhindert.

Schattenblick: Viele Ärzte warnen vor der langen Dauer und den hohen Kosten für die Schaffung eines flächendeckenden Beratungsnetzes. Sehen Sie diese Gefahr auch?

Michael Bauer: Nein. Die Humanistische Vereinigung versteht sich als einer von zahlreichen Trägern, die für Beratung infrage kommen. Bei der Schaffung eines Netzes von Beratungsstellen speziell für Suizidberatung kann auf bereits bestehende Erfahrungen und Einrichtungen aufgebaut werden. Der Finanzaufwand dafür ist übersichtlich. Viele Sozialpädagogen, Sozialarbeiter, Psychologen und Psychotherapeuten sind dem Wert der Ergebnisoffenheit in ihrer Beratungspraxis bereits auf der Grundlage ihrer Berufsethik verpflichtet. Viele von ihnen sind qualifiziert, diese Beratung übernehmen zu können. Heikel wird es, wenn die weltanschauliche Orientierung des Trägers dagegensteht. Diese Problematik kennen wir z.B. bereits aus der katholischen Schwangerschaftskonfliktberatung. Man muss in jedem Fall ein pluralistisches Netz zusammenstellen, bei dem den zur Selbsttötung Entschlossenen die Entscheidung überlassen bleibt, bei welcher Beratungsstelle sie Rat suchen möchten.

Es wird ein Genehmigungswerk geben, in dem die Träger sicherstellen, dass ihre Beratung ergebnisoffen ist. Wer die geforderten professionellen und qualitativen Voraussetzungen nicht erfüllen kann, wird keine Zulassung erhalten und damit keine öffentlichen Mittel für diese spezielle Beratungsaufgabe. Auch wer kein multiprofessionelles Team hat, das unterschiedliche Blickwinkel erlaubt, scheint mir weniger geeignet. Die Frage ist doch, wie man den Menschen helfen und sie gut begleiten kann. Es ist nicht unsere Aufgabe als Berater, sie zu bevormunden, zu steuern oder gar darüber zu entscheiden, ob ihr Leben lebenswert ist. Denn diese Entscheidung liegt einzig und allein bei ihnen. Die Beraterin/der Berater gewinnt nach einem qualifizierten Gespräch einen Eindruck von der Person, ihren Überlegungen und der Ernsthaftigkeit ihres Willens. Ärzte sind dazu nicht oder nur in Ausnahmefällen nötig. Die Organisationen der Freien Wohlfahrtspflege können und werden das leisten können ohne elend lange Wartezeiten. Die Freien Träger sind sehr leistungsfähig, wenn man sie ih re Arbeit machen lässt. Eine Überprüfung der Qualität der Beratungsstellen ist z.B. durch Dokumentation und Stichproben möglich.

Schattenblick: Wäre ein solches Vorgehen, wie Sie es gerade beschrieben haben, nah genug am Urteil des Bundesverfassungsgerichts, hat es doch jedem Menschen - unabhängig von einer schweren Erkrankung - das Recht auf einen selbstbestimmten Tod zugesprochen?

Michael Bauer: Das Gericht gibt ein juristisches Urteil ab. Danach muss man prüfen, was gesellschaftlich mitgetragen wird und die richtige Balance finden. Die ist m.E. mit dem zuletzt vorgelegten Gesetzentwurf (Castellucci/Kappert-Gonthar) noch nicht gegeben. Die große Mehrheit der Bevölkerung möchte sich in dieser Frage nicht bevormunden lassen. Dennoch: Im staatlichen System, in der Politik und im Bereich mancher gesellschaftlicher Akteure gibt es teilweise aus guten, teilweise aus weniger guten Gründen an einigen Stellen keine Bereitschaft, dem Karlsruher Urteil uneingeschränkt zu folgen. Das mag man bedauern, aber man muss es zur Kenntnis nehmen. In dieser Lage finde ich es richtig, das Mögliche auszuloten und damit zu vermeiden, dass es zu einer Spaltung in der Bevölkerung kommt, dass Suizidenten stigmatisiert werden und mit ihnen alle, die ihnen zur Seite stehen.

Schattenblick: Um diesen Konsens zu erreichen empfiehlt sich u.a. die Debatte mit verschiedenen Gruppierungen. Interessant ist, dass die Entscheidung des Bundestags zur Strafbarkeit der Suizidförderung seinerzeit unter starkem Einfluss der beiden christlichen Kirchen gefällt wurde. Und obwohl die Kirchen seit 2008 stark an Mitgliedern und Einfluss in der Bevölkerung verloren haben, nicht zuletzt durch eine Reihe von Skandalen, liest sich auch der jetzt vorliegende Entwurf so, als wollte der Staat mit dem Strafrecht moralische Vorstellungen durchsetzen, was unzulässig ist.

Michael Bauer: Trotz der geringer gewordenen Bedeutung der Kirchen sind ihnen sehr nahe stehende Vertreter wieder stark in den beratenden Gremien präsent. Und mehrere Entwürfe lassen erkennen, dass die kirchliche Expertise offenbar stark eingeflossen ist.

Schattenblick: Was kann die Humanistische Vereinigung unter diesen Umständen noch tun, um Einfluss zu nehmen, und was antworten Sie einem Bürger, wenn er Sie fragt, was er noch tun kann, damit dem Grundgedanken des Karlsruher Urteils doch noch Rechnung getragen wird?

Michael Bauer: Sie können das gleiche tun, was wir auch getan haben: Sich an ihre Abgeordneten wenden und ihnen ihre Sicht der Dinge und ihre Wünsche schildern. Viele Abgeordnete sind dankbar für ein Feedback aus der Bevölkerung, wenn es sachlich und konstruktiv gegeben wird.

Schattenblick: Würde das Bundesverfassungsgericht, wenn der Entwurf in der jetzigen Fassung durchkäme, dann nach zwei Jahren erneut eine Änderung des Gesetzes verlangen und wir hätten so eine "never ending story" - zu Lasten sehr vieler Menschen, die sich im Fall des Suizidwunsches wie schon in den zurückliegenden Jahren "völlig frei" für einen Tod auf den Gleisen, beim Sprung aus dem 10. Stock oder durch Erhängen entscheiden müssten?

Michael Bauer: Das wäre dann wohl zu befürchten. In diesem Zustand darf der Entwurf nicht durchkommen. Das Wichtigste für uns als Humanistische Vereinigung ist eine positive Grundhaltung und Respekt vor den Menschen, die die schwere Entscheidung gegen ein Weiterleben verantwortungsvoll getroffen haben und in Würde selbstbestimmt sterben wollen. Diese Menschen sollten wir nicht alleine lassen, das gebietet unsere Menschlichkeit.


Über die Autorin:

Christa Schaffmann ist Diplomjournalistin und arbeitet seit zehn Jahren als freie Autorin und PR-Beraterin, nachdem sie zehn Jahre Chefredakteurin von Report Psychologie, der Fach- und Verbandszeitschrift des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und Psychologen, war.


Ein einleitender Text zum Sachstand sowie weitere Beiträge der Autorin zum Thema "Assistierter Suizid" in Form von Gesprächen mit Expert*Innen verschiedener Berufs- und Interessengruppen sind im Schattenblick unter dem kategorischen Titel "Am Lebensrand - der assistierte Suizid ..." zu finden unter:

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Weitere Beiträge folgen ...


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 174 vom 21. Mai 2022


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