Schattenblick → INFOPOOL → MEDIZIN → SOZIALES


PFLEGE/721: Pflege-Notstand - Am Ende der Kräfte (Securvital)


Securvital 1/2018 - Januar-März
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen

Pflege-Notstand
Am Ende der Kräfte

von Norbert Schnorbach


Drei Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig. Viele werden von Angehörigen aufopferungsvoll betreut. Fachkräfte im Pflegebereich werden händeringend gesucht. Und alle stehen vor einem Berg von Problemen.

Es ist gerade erst zwölf Monate her, dass die jüngste Pflegereform in Kraft trat. Sie sollte die Versorgung von Alten und Kranken grundlegend verbessern: Mehr Unterstützung bei Demenz und Pflegebedürftigkeit, Entlastung für die Angehörigen, bessere Berufsaussichten für Pflegefachkräfte. Die ersten Reformschritte sind gemacht, die gesetzliche Pflegeversicherung stellt mehr Geld zur Verfügung. Aber die Probleme sind damit noch längst nicht gelöst. Im Gegenteil: In allen Bereichen der Pflege wächst der Handlungsbedarf, die Belastung der Betroffenen wird nicht geringer.

"Als mein Vater einen Schlaganfall hatte und ständige Pflege brauchte, habe ich meine Arbeit aufgegeben, um mich um ihn zu kümmern", berichtet die ehemalige Krankenschwester Sabine W. aus Stuttgart. "Danach wurde es von Jahr zu Jahr schwieriger. Der ambulante Pflegedienst konnte nur zum Teil helfen. Oft war ich Tag und Nacht gefordert. Mittlerweile bin ich am Ende meiner Kräfte." So wie der 63-Jährigen geht es vielen, die sich um ihre pflegebedürftigen Eltern oder Ehepartner kümmern.

Gut drei Millionen Menschen in Deutschland sind pflegebedürftig. In der Mehrzahl werden sie von Angehörigen zu Hause versorgt. Meist sind es die Frauen oder Töchter, die diese soziale Aufgabe übernehmen. Aber die liebevolle Fürsorge kostet viel Kraft. Oft geht es bis an die Grenzen der Erschöpfung, nicht nur bei Demenzkranken, die rund um die Uhr Betreuung benötigen.

Überforderung

Zwei Drittel aller Betroffenen, die sich intensiv um demente Angehörige kümmern, fühlen sich laut einem kürzlich veröffentlichten Pflegereport mit der Kraft am Ende. Fast alle wünschen sich mehr Unterstützung, um ihre Aufgabe fortsetzen zu können. Untersuchungen aus Großbritannien haben gezeigt, dass bis zu 40 Prozent der pflegenden Angehörigen, die Demenzkranke betreuen, im Laufe der Zeit selbst an einer klinischen Depression oder anderen psychischen Symptomen erkranken. Den gesetzlichen und privaten Pflegeversicherungen sind diese Probleme bekannt. Sie bieten deshalb verschiedene Unterstützungsmaßnahmen für Angehörige bei ambulanter Pflege an. Neben den Geldleistungen für Angehörige erstatten die Pflegekassen auch Kosten von ambulanten Pflegediensten oder Aufwendungen durch anerkannte Nachbarschaftshilfe. Besonders wichtig für viele pflegende Angehörige ist auch die Entlastung durch sogenannte Verhinderungs- und Kurzzeitpflege, die beispielsweise Auszeiten und Urlaub ermöglichen.

Die Aufwendungen der Pflegekassen sind seit der Pflegereform Anfang 2017 deutlich gestiegen. Alles in allem zahlten die gesetzlichen Pflegekassen im ersten Halbjahr 2017 rund 21 Milliarden Euro aus, etwa ein Drittel mehr als im Vorjahreszeitraum. Durch die Pflegereform erhalten mehr Menschen insgesamt höhere Leistungen von den Pflegekassen. In der ersten Hälfte dieses Jahres sprach der Medizinische Dienst der Krankenkassen 432.000 Versicherten erstmals einen der neuen fünf Pflegegrade zu. Das sind 175.000 Zusagen mehr als im Vorjahr.

Unterbesetzung

Von der finanziellen Unterstützung durch die Versicherung abgesehen ist das soziale Engagement von Familienangehörigen in der Pflege unverzichtbar. Ohne sie wäre die Betreuung der steigenden Zahl von Pflegefällen gar nicht möglich. Von gegenwärtig etwa drei Millionen wird die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland in den kommenden zehn Jahren um weitere 500.000 zunehmen, erwarten die Demografie-Experten des staatlichen Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung. Wer soll die Pflege für so viele Menschen übernehmen? Die professionellen Pflegekräfte in Heimen und ambulanten Pflegediensten klagen jetzt schon über hohe Arbeitsbelastung, zu wenig Zeit für die Patienten und personelle Unterbesetzung. 40.000 Fachkräfte fehlen laut der Gewerkschaft Verdi in der Altenpflege, weil in der Vergangenheit viele Stellen abgebaut und weniger Pflegekräfte ausgebildet wurden.

Diese Lücke wird sich in Zukunft noch deutlich vergrößern. Bis zum Jahr 2030 werden laut Prognosen des Deutschen Pflegerats 200.000 Altenpflegekräfte fehlen. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sieht einen noch höheren Bedarf: "Wir werden bis zum Jahr 2040 rund eine weitere Million an Fachkräften in der Pflege brauchen", prognostiziert der DIW-Präsident Prof. Marcel Fratzscher.

"Wir werden bis zum Jahr 2040 rund eine weitere Million an Fachkräften in der Pflege brauchen".
Prof. Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW)

Die Gewerkschaft Verdi spricht von einer "Abwärtsspirale". Durch die Arbeitsbelastung und die niedrige Bezahlung habe der Beruf an Attraktivität eingebüßt. "Menschen, die einmal mit großem Idealismus diesen Beruf ergriffen haben, leiden sehr darunter, ihn nicht so ausüben zu können, wie sie es gelernt haben und den Schicksalen der Patienten nicht gerecht zu werden", sagt Jan Jurczyk vom Verdi-Bundesvorstand. Viele Pflegerinnen und Pfleger seien ausgebrannt, würden häufiger krank, wechselten den Beruf oder reduzierten ihre Arbeitszeit. Die Folge: Die Belastung der verbliebenen Pflegekräfte wird noch größer und der Beruf unattraktiver, auch für potentielle Auszubildende.

Bei den Arbeitsbedingungen und der Qualität der Pflegeeinrichtungen liegt einiges im Argen, nicht erst, seitdem Abrechnungsbetrügereien bei ambulanten Pflegediensten und schwerwiegende Missstände in Pflegeheimen bekannt wurden. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz hält einen aussagekräftigen "Pflege-TÜV" für notwendig, um die Qualität von Pflegeeinrichtungen objektiv zu bewerten und vergleichbar zu machen. Wenn Pflegebedürftige und ihre Angehörigen vor der Entscheidung stehen, eine Pflegeeinrichtung auszuwählen, dann brauchen sie gut verständliche und zuverlässige Informationen über die Qualität von Pflege und Betreuung.

Dass angesichts des Pflegenotstands politische Lösungen erforderlich sind, wurde in den jüngsten Monaten auch im Bundestagswahlkampf von den Parteien bestätigt. Bundeskanzlerin Angela Merkel versprach, die Pflegeberufe aufzuwerten. SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz forderte mehr Stellen und ein 30 Prozent höheres Gehaltsniveau in der Pflege. Die Grünen kündigten ein Sofortprogramm von 25.000 neuen Pflegekräften an und die Linkspartei forderte einen höheren Mindestlohn im Pflegebereich.

Zusätzliche Pfleger

Nun soll es zunächst einmal ein Pflegestellen-Förderprogramm geben. Die Bundesagentur für Arbeit will zusätzliche Pflegekräfte aus Serbien, Bosnien und den Philippinen für den deutschen Arbeitsmarkt anwerben. Außerdem gibt es Pläne, mehr Personal in Pflegeheimen gesetzlich vorzuschreiben und Quoten festzusetzen, wie viele Patienten ein Pfleger maximal betreuen darf.

Ob das ausreicht, ist fraglich. Für eine umfassende Lösung müssten sich die Rahmenbedingungen des Berufes deutlich verbessern, meint der Deutsche Pflegerat. Das könne nur gelingen, wenn die Bezahlung stimme, die Arbeitsbelastung reduziert werde und familienfreundliche Arbeitszeitmodelle möglich würden. Dann könnten auch viele ausgebildete Pflegekräfte wieder in den Beruf zurückkehren. "Wir haben Zehntausende von Menschen mit einer Pflegeausbildung, die nicht mehr in dem Beruf arbeiten, weil die Bedingungen zu schlecht sind", sagt Franz Wagner, Geschäftsführer des Deutschen Berufsverbandes für 4Pflegeberufe.


Weitere Informationen

- Umfassende Auskünfte zu den Leistungen der Pflegeversicherung, zu Fragen von Antragstellung, Begutachtung und anderen Themen der Pflegeberatung gibt das Bundesgesundheitsministerium: www.bmg.bund.de/themen/pflege

- Weitere Auskünfte zur Pflegebegutachtung sowie Checklisten für den Besuch des Pflegegutachters hält der Medizinische Dienst der Krankenversicherung bereit: www.pflegebegutachtung.de

- Wenn Sie weitere Fragen haben, rufen Sie uns gern an: SECURVITA Krankenkasse, Tel. 0800 / 1414 300 (bundesweit gebührenfrei).


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Grafik in der Originalpublikation:

Bis zum Jahr 2060 wird die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland auf 4,8 Millionen steigen, hat das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung berechnet. Vor allem der Anteil der über 80-Jährigen wird zunehmen.

*

Quelle:
Securvital 1/2018 - Januar-März, Seite 32 - 34
Das Magazin für Alternativen im Versicherungs- und Gesundheitswesen
Herausgeber: SECURVITA GmbH - Gesellschaft zur Entwicklung alternativer Versicherungskonzepte
Redaktion: Norbert Schnorbach (V.i.S.d.P.)
Lübeckertordamm 1-3, 20099 Hamburg
Telefon: 040/38 60 800, Fax: 040/38 60 80 90
E-Mail: presse@securvita.de
Internet: www.securvita.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Februar 2018

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang