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PSYCHOLOGIE/101: Selbstverletzungen durch ritzen, verbrennen... "Bitte hört, was ich nicht sage!" (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 4/2014

Selbstverletzungen
Schnippeln, ritzen, verbrennen: "Bitte hört, was ich nicht sage!"

Von Dirk Schnack



Eine Fachtagung in Kiel zeigte hohen Informationsbedarf über den Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die sich selbst verletzen. Ärzte fehlten.


Selbstverletzendes Verhalten bei Kindern und Jugendlichen kann sich unterschiedlich äußern: Manche ritzen sich mit Rasierklingen, andere drücken brennende Zigaretten auf ihrer Haut aus oder schlucken so lange Medikamente, bis ihr Körper sich verweigert.

So unterschiedlich die Ausprägungen sind, so vielfältig können auch die Gründe für diese destruktiven und lebensgefährlichen Verhaltensweisen sein. Viele, aber längst nicht alle Betroffenen sind Opfer sexueller Gewalt. Die Auslöser für selbstverletzendes Verhalten sind nicht immer ersichtlich und müssen von der Umgebung gar nicht als außergewöhnlich eingeschätzt werden. Dies reicht von Liebeskummer über ein Gefühl der Leere bis zu kleinsten Abweichungen beim Erreichen von Zielen.

Unter der Überschrift "Bitte hört, was ich nicht sage" veranstalteten im vergangenen Monat die Aktion Kinder- und Jugendschutz (AKJS) und die Landesvereinigung für Gesundheitsförderung in Schleswig-Holstein eine Tagung in Kiel zum Thema selbstverletzendes Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Genau genommen war es eine Nachfolgetagung, nachdem zum Jahresende 2013 die Kapazitäten für die hohe Nachfrage unter Sozialpädagogen, Pädagogen und Psychologen nicht ausgereicht hatten. Zusammen kamen rund 500 Interessierte zu den beiden Veranstaltungen. Ärzte waren - außer als Vortragende - nicht darunter. Nach Angaben der Veranstalter hatte man diese Zielgruppe bei den Einladungen nicht bedacht.

Im Gespräch mit dem Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatt berichteten die Initiatoren der Tagung von ihren gemischten Gefühlen, wenn immer mehr Prominente wie Johnny Depp oder Angelina Jolie ihr selbstverletzendes Verhalten über Medien publik machen. "Das hilft dabei, das Thema zu enttabuisieren und Betroffenen fällt es leichter, darüber zu sprechen. Aber wir laufen damit auch Gefahr, dass sich Jugendliche die Prominenten zum Vorbild nehmen", sagte Christa Limmer, Leiterin der Landesarbeitsstelle der AKJS in Schleswig-Holstein.

Bei der Frage nach Zahlen sind auch Experten wie Limmer auf Schätzungen angewiesen. Bundesweit wird von 1,2 Millionen Betroffenen ausgegangen. Oft sind es Mädchen zwischen zwölf und 18 Jahren, das Verhältnis Mädchen zu Jungen beträgt noch fünf zu eins, allerdings mit steigender Tendenz bei den Jungen. Viele Erwachsene reagieren hilflos, wenn sie selbstverletzendes Verhalten beobachten. Selbstverletzendes Verhalten wird von den Betroffenen als eine Art Sucht erlebt. Am stärksten verbreitet ist es unter Menschen zwischen 18 und 24 Jahren. Die Verletzungen werden von einigen ritualisiert mehrmals am Tag durchgeführt, von anderen nur sporadisch. Es kann über einen Zeitraum von bis zu 15 Jahren anhalten. Im Alter zwischen 30 und 40 Jahren nimmt die Häufigkeit der Verletzungen meist ab. Die Betroffenen leiden unter extremen Stimmungsschwankungen und einem katastrophalen Selbstbild, ihnen fehlt oftmals ein stabiles soziales Netz und sie glauben oft, minderwertig zu sein.

Nicht zu unterschätzen ist laut Limmer die Gefahr einer Ansteckung oder falsch verstandener Solidarität, wenn Freunde sich selbst verletzen. Stattdessen rät Sozialpädagogin Dorothee Michalscheck von der Landesvereinigung für Gesundheitsförderung, dass Jugendliche, die ein solches Verhalten bei Freunden beobachten, sich an Lehrer, Beratungsstellen oder Eltern wenden sollten: "Das ist kein Verpetzen, sondern Hilfe." Auch Ärzte wollen die Experten künftig stärker in ihren Austausch einbeziehen. Wer in seiner Praxis eine Broschüre zum Thema vorhalten möchte, kann diese bei der Aktion Kinder- und Jugendschutz bestellen (E-Mail: info@akjs-sh.de).

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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 4/2014 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2014/201404/h14044a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt April 2014
67. Jahrgang, Seite 30
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz-Joseph Bartmann (V.i.S.d.P.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Mai 2014