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ARTIKEL/441: Was heißt Wehen auf Türkisch? (welt der frau)


welt der frau 6/2009 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Was heißt Wehen auf Türkisch?

Von Eva Reithofer-Haidacher


Wenn Frauen in ihrer zweiten Heimat ein Kind zur Welt bringen, hat Sprachlosigkeit viele Facetten. Über das Dolmetschen im Kreißsaal, das Eintauchen in fremde Kulturen und die Macht der Rituale.

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Unter dem weiten Kleid der jungen Türkin wölbt sich der Bauch, an der Hand hält sie ihren eineinhalbjährigen Sohn. Ein alltägliches Bild am Empfang der Grazer Gebärambulanz, rund 40 Prozent aller Patientinnen haben einen Migrationshintergrund. Die 33-Jährige möchte ihren Namen nicht nennen, aber sie erzählt von ihren Erfahrungen. Als sie im Oktober 2007 ihr erstes Kind hier zur Welt brachte, habe sie die Sprache noch nicht so gut gekonnt. Ihr Mann war zwar dabei, doch nach 14 Stunden Wehen musste ein Kaiserschnitt gemacht werden. Sie habe sich fremd gefühlt. Stolz macht sie, dass sie in ihrem Zimmer den meisten Besuch bekam. Und dass die Mutter ihr täglich die gewohnten Mahlzeiten ans Bett brachte.

"Türkinnen und Araberinnen führen ein symbiotisches Familienleben", erklärt Gürkan Arikan. "Viele Frauen lernen nicht Deutsch, weil der Mann alles draußen erledigt und sie ausschließlich für Haushalt und Kinder zuständig sind. Wenn der Mann aber bei der Arbeit ist und die Wehen setzen ein, funktioniert das nicht mehr gut."


Zwischen den Welten

Der Grazer Frauenarzt, der einzige in der Stadt mit Türkisch als Muttersprache, ist ein Wanderer zwischen den Welten. Der 45-Jährige stammt aus Bolu am Schwarzen Meer und lebt seit 20 Jahren in Österreich, wo er Fachausbildung und Habilitation abgeschlossen hat. In seine Ordination im bürgerlichen Grazer Viertel Mariagrün kommen häufig Migrantinnen zur Schwangerschaftsbetreuung oder wegen Kinderwunsch.

"Die frisch Angekommenen ernähren Österreich mit Babys", sagt Arikan. In einem Land, in dem in Zukunft ein/e ArbeitnehmerIn zwei PensionistInnen erhalte, sei es "eine Verpflichtung, mit ihnen gut umzugehen." Doch er versteht auch die Schwierigkeiten des Arztes, der "24 Stunden im Dienst ist, und nach 22 Stunden kommt eine Frau, die kein Wort Deutsch kann".

Gürkan Arikan hält einen Perspektivenwechsel für notwendig: Ein Arzt, der eine gefragte Fremdsprache als Muttersprache hat, sollte bei seinen Bewerbungen Pluspunkte bekommen, das Gastarztwesen wieder belebt werden. "Ein ausländischer Arzt sollte nicht gleich negativ bewertet werden. Ausländer, die in der Gesellschaft aufsteigen, müssen bessere Leistungen vollbracht haben als manche Inländer."

Manchmal haben türkisch sprechende Frauen Glück und Gürkan Arikan hat gerade Dienst, wenn sie im LKH Leoben entbunden werden. Dort arbeitet auch Petra Hödl seit vier Jahren als Hebamme. Sie sieht ebenfalls die "Sprache als größte Barriere". Es gäbe zwar eine Liste von KollegInnen mit Fremdsprachenkenntnissen, doch seien sie im Fall des Falles nicht immer erreichbar. Meistens dolmetschen die werdenden Väter. "Wir geben dem Mann die Anweisungen und der übersetzt. Aber wenn er und sie im Stress sind oder wenn Fachbegriffe vorkommen, wird es schwierig", erklärt Hödl. Sie wünscht sich einen rund um die Uhr erreichbaren Dolmetscherpool.


In die Kultur eintauchen

Unterstützung bekommt sie von Marion Habersack. Die Grazer Public-Health-Expertin hat gemeinsam mit 38 Studierenden eine Studie zur "Optimierten Versorgung von Patientinnen mit Migrationshintergrund" erstellt. Sie meint: "Bei Gesundheit und Krankheit ist vieles subjektiv. Wenn der Mann für die Frau spricht, geht immer etwas verloren. Das müssen DolmetscherInnen mit dem nötigen fachlichen Hintergrund machen." Doch die Sprache allein ist nicht die Lösung der Probleme. Habersack fordert ein "Eintauchen in die Kultur der anderen" und niederschwellige Angebote. Viele Migrantinnen kommen über ihren Stadtteil nicht hinaus, weshalb die Vorbereitung auf die Entbindung auch dort stattfinden müsse: zum Beispiel in Form von mehrsprachigen DVDs, die beim Friseur oder in Geschäften aufliegen. Videoabende könnten organisiert, die Gemüsehändlerin als Multiplikatorin geschult werden.

Eine weitere Erkenntnis aus der Studie: Die transkulturelle Kompetenz des Klinikpersonals müsste gestärkt werden. Das bestätigt Salah Algader, gebürtiger Iraker und Leiter des ISOP-Projektes "Interkulturelle Gesundheitsassistenz für Migranten" am LKH Graz: "Die transkulturelle Pflege muss ins Curriculum für medizinische Berufe, damit die Begegnung zwischen Arzt und Migranten nicht zur Sprachlosigkeit führt." Die Lösung liege nicht im vielfach geäußerten "Die sollen Deutsch lernen". Algader erlebt immer wieder, dass die Migrantinnen sich zwar bemühen, aber: "Manche können das nicht. Wie soll eine Analphabetin mit fünf Kindern, deren Mann von früh bis spät arbeitet und sich am Abend mit Freunden trifft, einen Kurs besuchen?"


Religiöse Rituale

Zum Verständnis für andere Kulturen gehört auch die Sensibilität für andere Religionen. "Bei Musliminnen spielt die Scham beim Thema Sexualität eine große Rolle", erklärt Salah Algader. Deshalb wollen viele nur von Gynäkologinnen untersucht und behandelt werden. Diesen Wunsch kennt die Hebamme Petra Hödl und sie versucht, ihn zu erfüllen: "In solchen Fällen schauen wir, dass die Geburt ohne Arzt abläuft." Die Grenze sei allerdings erreicht, wenn die Sicherheit der Frau gefährdet ist.

Eine ganz ungefährliche Tradition im Islam ist es hingegen, dem Neugeborenen als Erstes ein Gebet zu sagen und ihm dabei einen Tropfen Honig auf die Lippen zu geben, damit es die gehörten Worte mit Süßem verbindet. Dem Wunsch nach Honig kommen Petra Hödl und ihre Kolleginnen gerne nach. Wenn Afrikanerinnen in den Wehen singen und manche dazu noch tanzen, haben sie auch nichts dagegen. Im Gegenteil, so Hödl: "Es ist ihre Art, mit den Schmerzen umzugehen, und sie gebären dadurch leichter."

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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Ausgabe 6/2009, Seite 40-41
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung Österreichs
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juli 2009

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