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ARTIKEL/443: Beobachtungen eines Kinderarztes (SH Ärzteblatt)


Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt 6/2009

Beobachtungen eines Kinderarztes

Von Horst Kreussler


Die Welt der Kinder, aber auch die Situation der Kinderärzte hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert. "Früher hatten wir viel mit Infektionskrankheiten, mit "Kinderkrankheiten" zu tun, heute bilden Entwicklungsstörungen und Verhaltensauffälligkeiten einen besonderen Schwerpunkt", sagte Dr. Hans-Ulrich Neumann, seit 33 Jahren Kinderarzt und seit 20 Jahren in Hamburg-Eimsbüttel niedergelassen. Der Vorsitzende des Berufsverbandes (BKJ) in Hamburg sprach in der Vortrags- und Gesprächsreihe der Familienkanzel 2009 der Hauptkirche St. Nikolai mit dem Rahmenthema "Kindheit und Jugend im 21. Jahrhundert - was ist anders, was ist neu?"

Zunächst wirke sich die verbreitete "Unfähigkeit zu erziehen" (Jugendsoziologe Prof. Hurrelmann, Bielefeld) auch auf die Kinderarztpraxen aus: Mangel an eigener Sicherheit und an nahestehenden Ratgebern (keine Großfamilie mehr) führe zu Übervorsicht: "Wir Kinderärzte werden mit Bagatellfällen überhäuft: Wenn das Kind dreimal hustet, bringen es manche Eltern gleich zum Arzt." Alltägliche Probleme mit Kindern würden in die Kinderarztpraxis transferiert. Eine Rolle spiele, dass in der Großstadt viele Kinder aus Problemstadtteilen und sozial instabilen Verhältnissen kommen.

Es fehle an Gelassenheit bei den Eltern, und der Kinderarzt müsse oft beruhigen ("talking down"): "Mal langsam, das gibt sich schon."

Eine medizinische Folge des sozialen Wandels sei die Veränderung der Krankheitshäufigkeiten. Ungesundes Verhalten der Kinder, wie Bewegungsmangel durch langes Sitzen vor Bildschirmen, mache krank. Geschwächte Abwehrkräfte begünstigten Allergien und Asthma, das schon bei fast zwölf Prozent der Kinder zu beklagen sei. Weiterhin hätten psychosomatische und psychische Probleme "massiv zugenommen". Mehr Stress durch Schule und Elternhaus sei ein Faktor. Beispiel: Eine zwölfjährige Patientin von ihm habe nacheinander über Bauchweh, Allergien, Asthma und mehr geklagt, bis ein Schulwechsel Beschwerdefreiheit brachte. Wenn die Diagnose ADHS gestellt werde, handele es sich sehr häufig um ein Trennungskind und zu 80 Prozent um Jungen: "Die Triangularität Mutter - Vater - Kind ist wichtig, und besonders die Rolle der Väter wird oft unterschätzt." Hinzu kämen Probleme durch die immer frühere Sexualisierung der Jugendlichen.

Zur Mitbetreuung psychisch belasteter Kinder beschäftigt Dr. Neumann zwei Psychologinnen in seiner Praxis.

Von Kassenseite hat die TK Anfang April die zunehmende Prävalenz und Inzidenz soziogener juveniler "Modekrankheiten" bestätigt: Disco- und MP3-Player-Schwerhörigkeit, Schlafstörungen, "Komasaufen" mit fast 20.000 Klinikeinlieferungen 2008 ... Und dazu ein Verbesserungsvorschlag der DAK nach einer Studie ebenfalls vom April: Eine gute Betreuung ("Coaching") oder ein Gesundheitsprogramm erhöhe wesentlich den Therapieerfolg, etwa bei Asthma.

Auf die Frage, was angesichts solcher Veränderungen zu tun sei, betonte der Referent, zunächst sei eine Medikalisierung der jungen Patienten zu vermeiden. Dazu ein passendes Zitat aus dem zum Referatszeitpunkt aktuellen Heft 4/2009 der Zeitschrift des Berufsverbandes "Der Kinder- und Jugendarzt":

"Ärzte sollten unabhängige Ratgeber und "Anwalt des Kindes" sein und Kinder schützen: vor Krankheit, vor Gewalt, vor kinderfeindlichen Lebensbedingungen, aber auch vor unnötigen medizinischen Maßnahmen und vor den wachsenden Ansprüchen einer allumfassenden Medikalisierung." (Dr. Stephan Nolte, Marburg, S. 265)

Die Gesellschaft müsse, so Neumann, ihre Hausaufgaben machen, damit sich die Kinderärzte auf ihre eigentlichen medizinischen Aufgaben konzentrieren könnten. Die Zahl der niedergelassenen Kinderärzte sei in seinem Bezirk und auch sonst in Hamburg noch ausreichend, anders sehe es z.T. in der umgebenden Fläche aus. Bei Lücken helfe die Kassenärztliche Vereinigung pragmatisch mit Sonderbedarfszulassungen - ein selten gewordenes Lob für ärztliche Körperschaften.

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Gesamtausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts 6/2009 im Internet unter:
http://www.aeksh.de/shae/2009/200906/h090604a.htm

Zur jeweils aktuellen Ausgabe des Schleswig-Holsteinischen Ärzteblatts:
www.aerzteblatt-sh.de

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Quelle:
Schleswig-Holsteinisches Ärzteblatt Juni 2009
62. Jahrgang, Seite 54
Herausgegeben von der Ärztekammer Schleswig-Holstein
mit den Mitteilungen der
Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein
Redaktion: Dr. Franz Bartmann (V.i.S.d.P.)
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Das Schleswig-Holsteinische Ärzteblatt erscheint 12-mal im Jahr.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. August 2009

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