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ARTIKEL/444: Aufwachsen in Deutschland - Gesunde Kinder? (DJI)


DJI Bulletin Nr. 85 - 1/2009
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Ergebnisse der Gesundheitsberichterstattung

Aufwachsen in Deutschland: Gesunde Kinder?

Von Christian Lüders, Tina Gadow


Das öffentliche Bild zur Gesundheit von Kindern schwankt zwischen zwei Extremen: Auf der einen Seite werden sie geradezu als Inbegriff von Gesundheit wahrgenommen und inszeniert, z. B. als beständig lächelnde Wonneproppen mit roten Bäckchen - und im Grund genommen wissen nur noch die unmittelbar Beteiligten (wie Eltern, Kinderärzte/Kinderärztinnen, Erzieher/innen bzw. Tagespflegepersonen), dass Kinder auch mal krank sein können. Auf der anderen Seite haben gerade in jüngerer Zeit Meldungen über verwahrloste und zu Tode gekommene Kinder die Öffentlichkeit beschäftigt. Diese verzerrende Wahrnehmung der gesundheitlichen Situation von Kindern in Deutschland hat viele Ursachen: Gesundheit wird meist als fraglos gegeben vorausgesetzt. Ist dies aber nicht der Fall, dann stellt sich für viele der Privatraum der Familie, ggf. mit ärztlicher Unterstützung, als der Ort für die Wiederherstellung der physischen, psychischen und sozialen Leistungsfähigkeit dar - obwohl in den meisten Bildungsplänen Gesundheitsförderung als Aufgabe der Kindertagesbetreuung ausgewiesen wird.
Die sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung hat sich lange Zeit wenig bis gar nicht für Gesundheit und Krankheit, für Leiblichkeit und Körperlichkeit interessiert. Sie war damit nicht allein, galt dies doch analog zu weiten Teilen auch für die Jugendforschung sowie für die Forschung über junge Erwachsene. Gesundheit und alles, was damit zusammenhängt, war insbesondere Thema der Gesundheitswissenschaften, deren Ergebnisse nur von einem kleinen Publikum zur Kenntnis genommen wurden.


In die Diskussion um Gesundheit ist Bewegung gekommen

Das Thema Gesundheit hat allerorten an Bedeutung gewonnen:

Tab 9 - Die Zukunft des Gesundheitssystems in Deutschland steht derzeit im Mittelpunkt der öffentlichen Debatten. - Vielfältige politische Aktivitäten zum Thema Kinder- und Jugendgesundheit stehen an. - Die Ergebnisse des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS) des Robert Koch-Institutes klären über den Stand der Gesundheit auf. - Eine Reihe von Fachtagungen im Herbst 2008 und in der ersten Jahreshälfte 2009 hat sich des Themas Gesundheit von Kindern und Jugendlichen angenommen. - Der 13. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung widmet sich dem Thema der Gesundheit bzw. der Gesundheitsförderung und wird im Sommer 2009 der Öffentlichkeit vorgestellt.


Zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen - »Neue Morbidität«?

Bei einem nicht unerheblichen Teil von Heranwachsenden in Deutschland gibt es gesundheitliche Auffälligkeiten. Diese Auffälligkeiten werden unter dem Begriff der »neuen Morbidität« zusammengefasst (Schlack 2004) und bezeichnen die Verschiebung des Krankheitsspektrums bei Kindern und Jugendlichen
- von akuten zu chronischen Erkrankungen sowie
- von somatischen zu psychischen Auffälligkeiten.
»Neue Morbidität« umschreibt die Entwicklung, dass typische Krankheiten des Kindes- und Jugendalters, wie beispielsweise Masern oder Röteln, durch medizinische Fortschritte therapiert werden können und dadurch im Rückgang begriffen sind, während es bei chronischen Erkrankungen wie beispielsweise Adipositas durch Aspekte des modernen Lebensstils (z. B. durch einseitige Ernährung, Bewegungsarmut oder auch einen niedrigen sozioökonomischen Status und damit assoziierte Lebensbedingen) zu einer Zunahme des Auftretens gekommen ist, d. h.: Zunahme des Auftretens von psychischen Auffälligkeiten (z. B. Entwicklungsstörungen der Sprache oder Motorik, Aufmerksamkeitsstörungen, depressive Erkrankungen, Essstörungen etc.) bei gleichzeitigem Rückgang von somatischen Krankheiten (bedingt durch Impfungen, Medikamentengabe etc.).


Die Ergebnisse der KiGGS-Studie

Das Robert Koch-Institut hat (2003-2006) die »Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland« (KiGGS) durchgeführt, an der 18.000 Kinder und Jugendliche im Alter von 0 bis 17 Jahren teilgenommen haben. Die Ergebnisse von KiGGS untermauern nachhaltig die Verschiebung des Krankheitsspektrums von Kindern und Jugendlichen. Trotz der Fülle an Daten kommt den Themenbereichen Übergewicht/Adipositas sowie Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen aktuell besondere Bedeutung zu.


Übergewicht und Adipositas

15 % der Kinder und Jugendlichen im Alter von 3 bis 17 Jahren sind von Übergewicht betroffen (ca. 1,9 Millionen Heranwachsende). 6 % hiervon weisen ein so starkes Übergewicht auf, dass in diesem Zusammenhang von Adipositas (Fettleibigkeit) gesprochen werden muss (ca. 800.000 Heranwachsende).

Mit steigendem Alter tritt Übergewicht häufiger auf: 9 % der Kinder im Alter von 3 bis 6 Jahren sind übergewichtig, 15 % der Kinder sind es bereits im Alter von 7 bis 10 Jahren.

Ab dem 11. Lebensjahr nimmt die Häufigkeit von Übergewicht zu, wobei die Geschlechter sich nur geringfügig unterscheiden (Robert Koch-Institut 2008a).

Der Krankheitswert von Übergewicht - und vor allem von Adipositas - ergibt sich hauptsächlich aus den häufig gemeinsam auftretenden Begleiterkrankungen (beispielsweise Diabetes mellitus-Typ 2 und Herzkreislauferkrankungen) im Lebensverlauf sowie aus psychosozialen Beeinträchtigungen (z. B. gehäuftes Auftreten von psychischen und Verhaltensstörungen oder Beeinträchtigungen in der allgemeinen Lebensqualität; Kurth/Schaffrath Rosario 2007).

Besonders betroffen von Übergewicht/Adipositas sind Kinder und Jugendliche mit einem niedrigen sozioökonomischen Sozialstatus sowie Heranwachsende aus Familien mit Migrationshintergrund (Robert Koch-Institut 2008b).


Psychische Auffälligkeiten

10 % bis 20 % der Kinder und Jugendlichen in Deutschland unter 18 Jahren weisen psychische Störungen auf.

15 % der 3- bis 17-Jährigen sind laut Angaben der Eltern von psychischen und Verhaltensauffälligkeiten betroffen - so die Ergebnisse von KiGGS zu psychischen und Verhaltensauffälligkeiten (emotionale Probleme, Hyperaktivitätsprobleme, aggressive Verhaltensprobleme und Probleme mit Gleichaltrigen). Aus Gründen der vereinfachten Lesbarkeit sind die Daten der Publikation von Hölling u. a. (2007) zu »grenzwertigen« und »auffälligen« Verhalten mit den referierten Gesamtproblemwerten zusammengefasst worden.

Bei den psychischen Störungen zeigen sich Unterschiede nach Alter und Geschlecht:

10 % der Kinder im Alter von 3 bis 6 Jahren weisen Beeinträchtigungen auf, 13 % sind es bereits bei den Kindern im Alter von 7 bis 10 Jahren.

Danach sind 12 % der 11- bis 13-Jährigen sowie 10,5 % der 14- bis 17-Jährigen von psychischen und Verhaltensauffälligkeiten betroffen (Hölling u. a. 2007).

Über alle referierten Altersgruppen hinweg haben deutlich mehr Jungen als Mädchen psychische Störungen.

Psychische Auffälligkeiten sowie Verhaltensauffälligkeiten wirken sich insgesamt negativ auf das Allgemeinbefinden sowie auf die Lebensqualität von Heranwachsenden und ihr soziales Umfeld (Familie, Gleichaltrigen-Gruppen) aus (Robert Koch-Institut 2006).

Heranwachsende aus Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status sind mit größerer Wahrscheinlichkeit von psychischen und Verhaltensauffälligkeiten betroffen als ihre Altersgenossen aus Familien mit einem mittleren bzw. hohen sozioökonomischen Status. Ebenfalls sind Kinder aus Familien mit einem Migrationshintergrund häufiger betroffen als Kinder ohne Migrationsgeschichte (Hölling u. a. 2007; Robert Koch-Institut 2008b).


Fazit

Die aufgeführten Daten exemplarisch ausgewählter gesundheitlicher Beeinträchtigungen zeigen folgende Befunde:

  • Gesundheit von Kindern hängt in hohem Maße von ihrem Sozialstatus ab.
  • Je nach betrachteter Altersgruppe liegen zum Teil deutliche Unterschiede in der Häufigkeit des Auftretens von gesundheitlichen Beeinträchtigungen vor.
  • Je nach Krankheitsspektrum treten zum Teil deutliche Geschlechtsunterschiede zu Tage.
  • Kinder mit Migrationshintergrund sind deutlich stärker belastet als Kinder ohne Migrationserfahrung.



Empfehlung für die Praxis

Die aus den Daten des KiGGS gewonnenen Erkenntnisse können damit eine solide Grundlage für Prävention und Gesundheitsförderung bei Kindern und Jugendlichen bieten, die neben einer Vielzahl von gesellschaftlichen Akteuren (z. B. Politik, Bildungswesen, Sportvereine) auch von der Kinder- und Jugendhilfe genutzt werden kann, um (effektive) Interventionen auf diesem Gebiet anzubieten. Zu denken ist beispielsweise an eine Kooperation zwischen Sportvereinen und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe (z. B. stationäre Hilfen zur Erziehung), um die körperliche Fitness von Kindern und Jugendlichen zu erhöhen, gleichzeitig aber auch durch den Kontakt mit unbelasteten Gleichaltrigen sozialer Isolation und Stigmatisierung entgegenzuwirken und durch positive Erfahrungen im sozialen Geschehen Selbstwirksamkeitserfahrungen (verstanden als Ressource für die psychosoziale Entwicklung) zu erhöhen.


Kontakt:
Dr. Christian Lüders, lueders@dji.de
Dr. Tina Gadow, gadow@dji.de


Vorträge zu »Gesunde Kindheit« auf der DJI-Tagung »Kinder in Deutschland«, Berlin:
PD Dr. Martin Schlaud: Wie gesund sind unsere Kinder?
Prof. Dr. Petra Kolip: Gesundheit im Kindes- und Jugendalter: Die Relevanz der Geschlechterperspektive
Prof. Dr. Hans Peter Brandl-Bredenbeck: Kommentar zu »Gesunde Kindheit«


Literatur

Brandl-Bredenbeck, Hans Peter (2009): Kommentar zu »Gesunde Kindheit«. In: Kinder in Deutschland (Themenband; erscheint Sommer 2009)

Hölling, Heike / Erhart, Michael / Ravens-Sieberer, Ulrike / Schlack, Robert (2007): Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen: Erste Ergebnisse aus dem Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS). In: Bundesgesundheitsblatt, 50, S. 784-793

Kolip, Petra (2009): Gesundheit im Kindes- und Jugendalter: Die Relevanz der Geschlechterperspektive. In: Kinder in Deutschland (Themenband; erscheint Sommer 2009)

Kurth, Bärbel-Maria / Schaffrath Rosario, Angelika (2007): Die Verbreitung von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland: Ergebnisse des bundesweiten Kinder- und Jugendgesundheitssurveys. In: Bundesgesundheitsblatt, 50, S. 736-743

Robert Koch-Institut (RKI) (2006): Erste Ergebnisse der KiGGS-Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS-Elternbroschüre). Berlin

Robert Koch-Institut (RKI) (2008a): Lebensphasenspezifische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Ergebnisse des nationalen Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS). Beiträge zur Gesundheitsberichtserstattung des Bundes. Berlin

Robert Koch-Institut (RKI) (2008b): Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) 2003-2006: Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in Deutschland. zur Gesundheitsberichtserstattung des Bundes. Berlin

Schlack, Hans Günter (2004): Neue Morbidität im Kindesalter: Aufgaben für die Sozialpädiatrie. In: Kinderärztliche Praxis, 75, S. 292-299

Schlaud, Martin (2009): Wie gesund sind unsere Kinder? In: Kinder in Deutschland (Themenband; erscheint Sommer 2009)

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Quelle:
DJI-Bulletin Heft Nr. 85, 1/2009 , S. 16-17
Herausgeber:
Deutsches Jugendinstitut e.V. (DJI)
Nockherstraße 2, 81541 München
Tel.: 089/623 06-0, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: barthelmes@dji.de
Internet: www.dji.de/bulletins
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. August 2009

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