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ARTIKEL/487: Nguyen, die Abschiebung und das Recht auf gefahrlose Behandlung (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 51/52 vom 24. Dezember 2010
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Nguyen, die Abschiebung und das Recht auf gefahrlose Behandlung
Gesundheitsversorgung "Papierloser" muss strukturell verbessert werden

Von Hilmar Franz


Die Berliner "taz" (Die Tageszeitung) berichtete am 11. Dezember aus Hanoi über ein redaktionelles Gespräch mit Nguyen. Der mittellose 23-jährige hatte sich in Berlin fünf Jahre durchzuschlagen versucht. Er gehörte zu jenen illegal Eingereisten, die von Schleusern zuvor etwa um 10 000 Dollar zusammengetragener Familienguthaben geprellt wurden und hierzulande für immer weiterreichende Erpressungssummen auf krumme Wege getrieben werden. Aus der Jugendhaft ging es in den Abschiebeknast, von dort am 29. November über Moskau nach Hanoi, mit der ersten der von "Aeroflot" gecharterten Maschinen für 100 "zurückzuführende" Vietnamesen. Die solidarischen Proteste vor dem Knast und am Flugplatz kamen zunächst nicht deshalb in die Berliner Schlagzeilen, um auf erhebliche gesundheitliche Gefährdungen der unfreiwilligen Passagiere wie Nguyen aufmerksam zu machen, sondern wegen der vorläufig herbeigeführten Startblockade für einen nachfolgenden Charterflug am 7. Dezember. Nguyen hat sich nachweislich in der Jugendvollzugsanstalt (JVA) Berlin mit dem Virus "Hepatitis-C" infiziert, das auch durch Blutkontakt übertragen wird und nach Ablauf einer ungewissen Latenzzeit zum chronischen Leberversagen führt. Das geschah "also quasi unter staatlicher Aufsicht", wie die taz schreibt. "Bei der Einlieferungsuntersuchung in die JVA war er noch gesund, ein Jahr später dann wurde der Hepatitis-C-Erreger diagnostiziert." Der aus diesem Grund beantragte Abschiebeschutz wurde vom Berliner Verwaltungsgericht abgelehnt. Aber, schreibt die taz "Vietnams Gesundheitssystem ist nicht solidarisch organisiert. Wer krank ist, zahlt." Die durch die Infektion bedingten Berufseinschränkungen, das für ein Idol vom europäischen Glücksritter vollständig verkaufte bäuerliche Anwesen der Eltern lassen Nguyen bestenfalls noch eine befristete Zukunft unterm Existenzminimum als Bauhelfer. Wenn die schwere Krankheit offen ausb richt, hängt für ihn alles an Medikamenten, die es in Vietnam nicht gibt und deren Import er auch nicht bezahlen könnte.

Nguyen gehört zu den wenigen, denen der Berliner Verein "Medizinische Hilfe für Vietnam" jetzt schon eine Zusage für entsprechende spendenfinanzierte Sendungen geben kann. Von bis zu einer Million Menschen ohne legalen Aufenthaltstatus in der Bundesrepublik leben rund 100 000 allein in der Hauptstadt. Wegen der damit verbundenen Abschieberisiken können sie selbst reduzierte Leistungen der regulären Gesundheitsversorgung nur eingeschränkt wahrnehmen. Deshalb hat Dr. med. Jessica Groß vom antirassistischen Kooperationsprojekt Büro für medizinische Flüchtlingshilfe ein Berliner Konzept entwickelt, das die Einrichtung einer ärztlich geleiteten Anlaufstelle für Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere und die Ausgabe eines anonymisierten, verrechenbaren "Krankenscheins" ermöglichen kann. Noch immer stellt sich die Situation aus Sicht der unterstützenden Parallelstrukturen unbefriedigend dar, weil es sowohl an einem effizienten Informationssystem für die Hilfebedürftigen als grundsätzlich auch an regulären Verbesserungsschritten mangelt.

Inzwischen trug die kompromissfähige Berliner Landespolitik im Bundesrat zur Einigung auf eine Allgemeine Verwaltungsvorschrift bei. Stationäre Notfallbehandlungen für "Menschen ohne Papiere" sollen erleichtert werden, indem der für eine Abschiebung ursächliche "Übermittlungsparagraph" (Personendaten entsprechend Paragraf 87 Aufenthaltsgesetz) von den Krankenhäusern de facto "nicht in Anspruch genommen" zu werden brauchen. Darüber hinaus gilt die Rechtsauffassung des "verlängerten Geheimnisschutzes" (der ärztlichen Schweigepflicht) auch für das Abrechnungspersonal der Krankenhausverwaltungen. Das ist ein erster Fortschritt aufgrund des jahrelangen öffentlichen Drucks, dem sich auch die ärztliche Selbstverwaltung angeschlossen hat. Die mit der alltäglichen Praxis konfrontierten Unterstützerinitiativen kritisieren daran zu Recht: Ausgespart bleiben für die Krankenhäuser die konkreten Abrechnungsmöglichkeiten, und gänzlich unberücksichtigt die andere Hälfte des notwendigen medizinischen Versorgungsspektrums für illegalisierte Menschen - nämlich der Zugang zur ambulanten Regelversorgung. Unverändert sind die Sozialämter verpflichtet, Daten an die Ausländerbehörden zu übermitteln, solange es nicht offiziell zu einer geschützten Vermittlung von Krankenscheinen nach dem integrierenden Berliner Modellprojekt kommt. Innensenator Körting (SPD) vertritt eine ordnungspolitische Sicht.

Es wäre inhuman und auch ökonomisch absurd, hilfebedürftige Illegalisierte mit der Angst als Zugangshürde solange abzuschrecken, bis die fehlende ambulante Therapie zu chronischen oder krankenhausreifen Zuständen geführt hat. Eine Gesundheitsvorsorge findet gar nicht erst statt. Arzt-Befragungen und Experteninterviews zum Thema suchten zu Jahresbeginn eine größere Öffentlichkeit zu sensibilisieren und praxisnahe Argumente in Berlin zu gewinnen. Die Erhebungen, eine Facette beim Kongress "Armut und Gesundheit", beschäftigten im Dezember auch auswärtige Besucher. Diskutanten aus der Politik fehlten hierbei. Dafür kam der Vertreter des Zentrums ganzheitliche Medizin - im Netzwerk von 120 bis 140 Kooperationseinrichtungen - u. a. auf den Fall Nguyen zu sprechen: "Wir hätten alle Möglichkeiten, solche Patienten hier gut und ausreichend zu behandeln. Was wir schleunigst brauchen, sind geregelte Zugänge."

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 42. Jahrgang, Nr. 51/52,
24. Dezember 2010, Seite 6
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Januar 2011

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