Schattenblick →INFOPOOL →MEDIZIN → SOZIALES

GEWALT/193: Thesen zur Traumaarbeit mit Flüchtlingen (IPPNWforum)


IPPNWforum | 114 | 08
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

Thesen zur Traumaarbeit mit Flüchtlingen
Ihre (friedens)politische Bedeutung

Von Ernst-Ludwig Iskenius


1. "Ein Trauma lässt sich nicht heilen wie eine Grippe, aber unbewältigt bleibt es ein Druckkessel mit explosiver und zerstörender Energie." Obwohl physisch überlebt, bleibt die erlebte Gewalt im Betroffenen zurück. Unbearbeitet setzt sie sich als Angst, als Rachegedanken, als Aggression gegen sich selbst, als Schuldgefühl oder in einem sozialen Rückzug fort. Im äußersten Fall richtet sich diese Gewalt gegen sich selbst (Extremform Suizid) oder gegen andere (häusliche Gewalt, körperliche Angriffe auf die Umgebung, Terrorismus). Indem wir traumatisierten Flüchtlingen einen Raum zur Verfügung stellen, in dem sie die Möglichkeit haben, das Unaussprechliche einmal in Worte fassen zu können und es damit mitteilbar zu machen, besteht zumindest die Chance, den Horror in die Vergangenheit zu packen, sich davon zu distanzieren und eigene Gewaltgedanken unter Kontrolle zu halten. Wir versuchen mit unserer Arbeit zu erreichen, dass Opfer nicht zu Tätern werden.

2. Opfer von Gewalt werden häufig wieder Opfer von Gewalt, physischer wie struktureller Gewalt. Eigenschaften, die sie nach außen hin als "schwierige Menschen" erscheinen lassen (Misstrauen, sich dauernd bedroht fühlen, sehr verletzlich sein, schnell erregt werden), sind eigentlich individuelle Schutzmechanismen, um Erinnerungen an die traumatischen Erfahrungen abzuwehren. Das zieht aber häufig weitere Gewalterfahrung wie Ablehnung, Spott, Demütigungen, Ängste, Entfremdung von der Umgebung nach sich. Hilflosigkeit und Schwäche provoziert häufig wieder Gewalt, Stärke und Selbstbewusstsein führen meist zum Verzicht auf Gewalt. Unsere Arbeit versucht, diese Gewaltspirale zumindest zu durchbrechen. Zum einen zeigen wir ihnen den Mechanismus auf, wenn sie immer wieder Opfer zu werden drohen, zum anderen fördern wir ihre alten Stärken und ihr Selbstbewusstsein. Ihr Sicherheitsgefühl bedarf keiner Gewaltanwendung mehr. Aus Opfern werden Überlebende.

3. Die transgenenerationelle Weitergabe von Traumata und Gewalt erzeugt in der zweiten und dritten Generation neue Gewalt. (Beispiele Israel/Palästina, Konflikte in Afrika, Afghanistan) Besonders der zweiten Generation eine lebenswerte soziale Perspektive zu geben hilft, die Flucht in die Gewalt zu stoppen, und macht immun gegenüber gewaltbereiten Ideologien. Deshalb legen wir so großen Wert auf frühzeitige Integration, besonders in unserer Kinder- und Jugendarbeit.

4. Schutz vor ungerechter staatlicher Gewalt: Jede Androhung von Rückführung und Abschiebung traumatisierter Menschen ist neue Gewalt. Die Sicherheit, die Vorraussetzung ist, um wieder in der Welt heimisch werden zu können, wird in Frage gestellt. Der oft mühsam erarbeitete Adaptions- und Integrationsprozess wird plötzlich gestoppt, alte Ängste, die häufig der fluchtauslösende Grund waren, werden reaktualisiert und der traumatische Prozess wird neu aufgebrochen. Wir versuchen, diese Menschen widerständischer zu machen (durch Aufklärung, durch Gutachten, die sie in die Lage versetzen, über ihre Erfahrungen öffentlich zu berichten), damit sie Schutz finden oder sich selbst schützen können.

5. Der Gewalt ein Gesicht geben. Opfer von staatlicher Gewalt bleiben häufig im Dunkeln. Sie gehen in anonymen Zahlen unter wie die Medienberichterstattung häufig zeigt. Individuelle Lebensgeschichten dagegen stellen das Muster von Gewaltbeziehungen in den Herkunftsländern häufig anschaulich dar. Die Gewalt spiegelt sich nicht mehr abstrakt, sondern konkret wieder. Sie zu dokumentieren und möglicherweise zu veröffentlichen, kann ein wichtiger Beitrag zum Problemverständnis von eskalierender Gewalt werden und gewährt den Überlebenden dieser Gewalt die angemessene Aufmerksamkeit. Die Aufnahmegesellschaft, z.B. Deutschland oder Europa kann dann nicht mehr wegsehen und soviel Abwehr entgegenbringen. Überlebende von politischer Gewalt werden somit Spiegel (selbstverursachender) gewaltförmiger Verhältnisse.

6. Veränderungen und Heilungen sind langfristige Prozesse. Wir erfahren das tagtäglich in unserer Arbeit. In unseren Therapiegesprächen gehen wir davon aus, dass sich traumatische Situationen, auch wenn sie zunächst Erfahrung endloser Angst und totaler Hilflosigkeit in einer ausweglosen Situation beinhalten, verändern können. Es eröffnen sich neue Bewältigungsbedingungen und Heilungsperspektiven ("ich bin nicht für mein Leben lang beschädigt"). Eigene Ressourcen lassen sich trotz des Zusammenbruchs mobilisieren und so werden neue Rezepte gegen Resignation und Hilflosigkeit geschrieben. Die Flucht wird trotz aller Schwierigkeiten im Exilland als Chance für Veränderungen wahrgenommen. Was wir an Entwicklung im Kleinen als möglich erfahren, lässt sich dann leichter auch ins Große transformieren. Wir lernen Gelassenheit und langfristiges Denken.

7. Bewältigung und Überwindung von Gewalt sind stark kulturabhängig, Interventionsstrategien haben sich daran zu orientieren. Hier können wir wichtige Scharnierfunktionen ausüben. Unsere täglichen interkulturellen Erfahrungen und Lernprozesse können in eine Friedens- und Entwicklungsarbeit einfließen. Menschen, die hier bei uns Schutz gefunden haben, können uns in ihrer interkulturellen Kompetenz unterrichten. Das würde der internationalen Friedensbewegung gut tun. Der häufig anzutreffende Eurozentrismus, den wir auch immer wieder in unseren sozialen Bewegungen antreffen, kann hier konkret relativiert werden.

8. Die Ziele unserer Bemühungen sind gerichtet auf Herstellung von Sicherheit, Wiederaneignung der Würde (Menschen werden wieder Subjekt ihres eigenen Lebens, und nicht Spielball einer Bürokratie oder Verwaltung), Anerkennung und Entprivatisierung des Leids, Gerechtigkeit und Entschädigung, Sicherung der Existenz auf würdige Weise sowie Prävention weiterer Gewalterfahrung. Wir versuchen in unserer Arbeit konkret das vorwegzunehmen, was erst noch in internationalen Beziehungen entwickelt werden muss, um einen gesellschaftlichen Friedensprozess in Krisen- und Kriegsgebieten anzustoßen. Wir nehmen so ein Stück Utopie vorweg und können diese Erfahrungen in die Friedensarbeit hineintragen.

9. Traumarbeit ist Menschenrechtsarbeit: Wir dokumentieren nicht nur, sondern veröffentlichen Lebensgeschichten und versuchen die gewaltförmigen Strukturen, nicht nur in fremden Ländern, sondern hier bei uns aufzuzeigen. Wir sind Lobby für diese Menschen, gleichzeitig geben wir ihnen den Raum, sich selbst darzustellen. Häufig sind wir auch Stachel im Fleisch einer mächtigen Bürokratie, die die gewaltförmigen Beziehungen innerhalb unserer Gesellschaft exemplarisch darstellt. Ohne diese Menschenrechtsarbeit gäbe es keine erfolgreiche Traumaarbeit.


*


Quelle:
IPPNWforum | 114 | 08, Dezember 2008, S. 20-21
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
Anschrift der Redaktion:
IPPNWforum
Körtestr. 10, 10967 Berlin
Tel. 030/69 80 74-0, Fax: 030/69 38 166
E-Mail: ippnw@ippnw.de
Internet: www.ippnw.de

IPPNWforum erscheint jeden zweiten Monat.
Preis 3,50 Euro je Exemplar. Der Bezugspreis für
Mitglieder ist im Mitgliedsbeitrag enthalten.


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. April 2009