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GEWALT/226: Kindesmisshandlung - Schütteln kann tödlich sein (welt der frau)


welt der frau 11/2011 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Kindesmisshandlung
Schütteln kann tödlich sein

Von Isabelle Engels


In Österreich werden 10 bis 20 Schütteltraumen jährlich registriert die Dunkelziffer liegt viel höher. Die Kindesmisshandlung des Schüttelns ist nahezu nie eine geplante Körperverletzung, sondern eine hilflose Reaktion der Betreuungsperson auf eine Überforderung. Die Folgen für das misshandelte Baby sind dramatisch.


André starb im Alter von sechs Jahren. Mehrere Lungenentzündungen hatten den Buben, der nur acht Kilogramm wog, sehr geschwächt. Todesursache war schließlich eine Zyste in der Bauchspeicheldrüse. André konnte nie selbstständig essen oder sitzen, er war fast blind und litt oft an Atemnot.

Nur die ersten acht Wochen seines Lebens war er ein gesundes Kind.

Doch dann ist es passiert. Er muss einmal so geschrien haben, dass sein Vater oder seine Oma die Nerven verloren hat. "Er muss hochgenommen und heftig geschüttelt worden sein." Wer es war, konnte nie eindeutig geklärt werden, erzählt Andrés Mutter Vesna K., die zum Tatzeitpunkt nicht zu Hause war, mit zitternder Stimme. Wieder daheim, nahm sie ihr Baby in den Arm: Sein Gesicht war kalkweiß, die Lippen blau. Als André aus dem Koma erwachte, war er ein Pflegefall.

Das Schütteln ist eine besonders dramatische Art der Kindesmisshandlung: Es ist potenziell lebensgefährlich, die überlebenden Kinder haben schlechte Prognosen - und gleichzeitig ist das Bewusstsein über die Gefährlichkeit des Schüttelns sehr wenig ausgeprägt.


Schwere Schädigungen des Gehirns

Das Schütteltrauma ist das schwerste Schädelhirntrauma im Säuglingsalter, erklärt Wolfgang Novak, Oberarzt an der Kinder- und Jugendabteilung des SMZ-Ost Donauspital. "Es entsteht durch ein massives Hin- und Herschütteln des Säuglings, sodass der Kopf wie ein Ball an einer Schnur hin- und herpendelt und dabei Rotationsbewegungen macht, die besonders schädlich fürs Gehirn sind."

Durch die Beschleunigungs- und abrupten Abbremsbewegungen werden in Sekundenschnelle unzählige Nervenverbindungen und Blutgefäße im Gehirn abgerissen. Das "Shaken Baby Syndrome" wurde erstmals Anfang der 1970er-Jahre in den USA wissenschaftlich beschrieben: Blutungen im Schädelinneren und an der Netzhaut sowie schwere, diffuse Hirnschäden.

Etwa ein Viertel der Babys, die geschüttelt werden, stirbt, zwei Drittel tragen irreversible neurologische Schäden davon. Am häufigsten bedeutet das Erblindung und Ertaubung, aber auch massive Störungen der motorischen, kognitiven und sozialen Fähigkeiten.

Einmal die Nerven zu verlieren und das Baby fünf bis zehn Sekunden kräftig zu schütteln, ist bereits extrem gefährlich für das Kind. Denn erstens ist der Masseunterschied zwischen Täter und Opfer enorm groß, dazu kommt die Hilflosigkeit des Babys. Zweitens liegt die Gefahr in der Anatomie eines Säuglings, erläutert Herbert Kurz, Vorstand der Kinder- und Jugendabteilung des SMZ-Ost: "Der Kopf eines Babys ist im Vergleich zum Körper groß, gleichzeitig hat es noch eine sehr schlechte Kopfkontrolle und kaum Muskelkraft."

In Österreich werden ca. 10 bis 20 Schütteltraumen jährlich registriert. Die Dunkelziffer dürfte sehr hoch sein, da äußere Verletzungen meist fehlen oder später auftauchende Behinderungen falsch interpretiert werden.


Am Anfang war das Schreien

Die Situationen, mit der die tragischen Geschichten von Schütteltraumen beginnen, ähneln einander: Das Baby schreit, die Betreuungsperson versucht, es zu beruhigen. Doch das Baby schreit weiter. Verzweiflung und Wut lassen die Nerven schließlich blank liegen - und der Impuls kommt auf, das Baby zu schütteln.

Schreien ist der einzige durchgängig nachweisbare Risikofaktor bei Schütteltraumen. Am meisten gefährdet, Opfer eines Schütteltraumas zu werden, sind daher Säuglinge im Hauptschreialter zwischen zwei und fünf Monaten sowie Babys mit Regulationsstörungen, umgangssprachlich "Schreibabys" genannt.

In der "Baby Care Ambulanz" des Preyer'schen Kinderspitals in Wien werden Babys behandelt, die Ess-, Schrei-, Schlaf- und Stillstörungen haben. Die Leiterin, die Kinderärztin und Psychotherapeutin Katharina Kruppa, weist auf den starken Aufforderungscharakter des kindlichen Schreiens hin: "Jeder hat sofort den Instinkt, ein schreiendes Baby zu beruhigen, an sich eine schöne Rückkoppelung. Doch wenn sich das Baby nicht und nicht beruhigen lässt, steigt der Stresslevel enorm. Es ist wie eine Anforderung, die man nicht erfüllen kann, obwohl man weiß, dass das unglaublich wichtig wäre."

Und dann kann der Impuls entstehen, das Baby zu schütteln. Dieses Gefühl werden viele Eltern oder Babysitter kennen. Die entscheidende Frage in dem Moment ist aber: Hat man ein "Stopp-Signal" internalisiert, das einem sagt, man muss sofort raus aus der Situation, oder überhört man die Alarmsignale?

Als akute Schutzmaßnahme empfiehlt Katharina Kruppa das Atmen: "Weg mit der Aufmerksamkeit vom Kind! Es hilft ihm nicht, die Unruhe überträgt sich. Sondern ganz tief atmen und sich auf den eigenen Atem konzentrieren."

Nicht das Gefühl der Wut ist das Schlechte, sondern wenn man dem Gewaltimpuls nachgibt.


Darf man auf ein Baby wütend sein?

In der "Baby Care Ambulanz" erzählen viele Mütter, dass sie auf ihr Baby zornig geworden sind. Sie beichten es geradezu, denn Wutgefühle gelten mit dem gängigen Bild einer guten Mutter als nicht vereinbar, sagt Katharina Kruppa. "Als Mutter darf man glücklich sein, manchmal auch traurig, aber sicher nicht aggressiv. Doch Schlafmangel und Stress machen einfach aggressiv."

Ein wesentlicher Grund für die Tabuisierung von Wutgefühlen liege in Illusionen über das Familienleben, meint Astrid Holubowsky, Leiterin der Neonatologie an der Rudolfstiftung. "Wir sehen ja immer das Bild der glücklichen Familie in den Zeitschriften und im Fernsehen. Diesen Glückszustand gibt es ja auch, aber er ist kein Dauerzustand."

Der Anspruch an dieses dauerhafte Glück, in dem das Schreien eines Babys nur als Störung und Unglück empfunden werden kann, müsse überdacht werden. Als weitere Präventionsmaßnahme wäre ein gut begleiteter Bindungsaufbau zwischen Mutter und Kind sinnvoll, ist Astrid Holubowsky überzeugt. Sie arbeitet als Krisenbegleiterin nach der Geburt: "Hier wäre ein Auftrag an die Geburtenstationen, den Hautkontakt zwischen Mutter und Kind intensiv zu fördern - am besten durch das Stillen, wo das Riechen und Spüren von selbst passiert."

Für ebenso wichtig hält Katharina Kruppa das Gebundensein der jungen Familien in der Gemeinschaft. "Nur wenn die Mütter gut gestützt und gebunden sind, können das auch die Kinder sein." Doch leider beobachtet sie das Gegenteil: "Es gibt eine unglaubliche Vereinsamung." Die Kindesmisshandlung des Schüttelns ist nahezu nie eine geplante Körperverletzung, sondern eine hilflose Reaktion auf Überforderung. Diese Tatsache liefert den deutlichsten Hinweis für die Prävention: die Entlastung der Eltern auf allen Ebenen und die Aufklärung über die Gefährlichkeit des Schüttelns.


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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift, November 2011, Seite 48-49
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. November 2011