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INITIATIVE/056: BeHandeln statt Verwalten (IPPNWforum)


IPPNWforum | 121 | 10
Mitteilungen der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.

BeHandeln statt verwalten

Die Geschichte von Frau X


Frau X kommt aus einem westafrikanischen Land. Sie war wegen der politischen Aktivitäten ihres Bruders mehrere Monate im Gefängnis. Dort wurde sie häufig von verschiedenen Männern vergewaltigt. In dieser Zeit wurde sie schwanger. Nach der Freilassung organisierte die Familie die Ausreise. Die Frau stellte in München ihren Asylantrag und blieb einige Wochen in der Erstaufnahmeeinrichtung (EAE). In der Zeit hatte sie keinen Kontakt, keine Unterstützung. Sie wurde in einen kleinen Ort in Niederbayern umverteilt. Dort wurde ihre Tochter geboren. Die Verständigung mit dem einmal wöchentlich anreisenden Sozialdienst und Ärzten in der Kreisstadt war schwierig. Schließlich war sie psychisch extrem auffällig und wurde im Beratungs- und Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer Refugio München angemeldet. Nach längeren Verhandlungen erteilte das zuständige Ausländeramt eine Reisegenehmigung zu Refugio, da die sich zuspitzende Gesundheitssituation der Frau vor Ort nicht behandelt werden konnte. Eine erfahrene Psychotherapeutin diagnostizierte eine schwere Posttraumatische Belastungsstörung und dringenden psychotherapeutischen Behandlungsbedarf. Da die Frau nicht in der Lage war, die lange Bahnfahrt zu bewältigen, wurde eine Umverteilung nach München in die Wege geleitet. Als Frau X endlich in München in einer Gemeinschaftsunterkunft wohnte, wurden - wegen akuter Suizidgefahr - primär Kriseninterventionen und später stabilisierende Maßnahmen eingeleitet.

Frau X ist eine von vielen, für die die Hilfe viel zu spät ansetzt. Dadurch kommt es nicht selten zu Chronifizierung oder "Verfestigung" einer bereits bestehenden traumatischen Belastung, die vermieden werden kann. Nicht selten sind die Leidtragenden die Kinder oder ganze Familien. Hier kann eine gezielte Hilfe effektive und nachhaltige Wirkung zeigen. Frau X gehört zur Gruppe der besonders vulnerablen Flüchtlinge.

Dieser Gruppe widmet sich die neue IPPNW Kampagne "BeHandeln statt verwalten". Ziel der Kampagne ist es, eine menschenwürdige Grundversorgung von besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen zu gewährleisten. Getragen wird diese Kampagne von der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft für psychosoziale Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAFF), der Bundesärztekammer und der IPPNW.

Eine EU-Richtlinie garantiert Flüchtlingen mit besonderer Schutzbedürftigkeit seit 2004 den subsidiären Schutzstatus. In Deutschland wird diese Richtlinie bisher jedoch nur äußerst unzulänglich umgesetzt. Für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge gibt es bisher keinen echten Zugang zur medizinischen Versorgung, es fehlt insbesondere für die Folter- und Gewaltopfer an Behandlungsangeboten und die Kostenübernahme ist unzureichend. Hinzu kommt, dass eine sinnvolle Behandlung für diese Menschen interdisziplinär erfolgen muss und weitaus mehr umfasst als die ausschließliche Durchführung einer Psychotherapie. Sowohl für die Therapie selbst als auch für flankierende psychosoziale Hilfsmaßnahmen sind in aller Regel Dolmetscher notwendig. Die Kapazität der psychosozialen Zentren ist bei weitem nicht ausreichend, von einer flächendeckenden Versorgung sind wir weit entfernt. Zudem tragen sich die meisten Zentren über eine prekäre Mischfinanzierung aus kommunalen, Landes- und EU-Zuwendungen, Geldern verschiedener Stiftungen sowie der Kirchen und verschiedener Wohlfahrtsverbände. Die Anfälligkeit einer derartigen Finanzierung ist offensichtlich und wird sich nach Rückzug der EU aus der Förderung im Jahre 2010 existenziell zuspitzen.

Die Sicherstellung der Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen ist aufgrund der bestehenden EU-Vorgaben langfristig eine für die Bundesrepublik Deutschland zwingend umzusetzende Aufgabe. Dieses Ziel wird jedoch nicht ohne politischen Druck erreicht, sondern muss von den Betroffenen und ihren Verbündeten aktiv eingefordert werden.

Zur Sicherstellung der medizinischen Versorgung hat die Politik folgende Forderungen einzulösen: Gewährleistung der Früherkennung der körperlichen und seelischen Erkrankungen, der gesicherte und barrierefreie Zugang zu qualifizierter Behandlung, eine interdisziplinäre Beratung und Begleitung einschließlich der Einbeziehung von Dolmetschern, Unterstützung beim Asylverfahren, Finanzierung von psychosozialer Betreuung und spezialisierter psychotherapeutischer Behandlung - das alles unabhängig vom Aufenthaltsstatus der Flüchtlinge.

Wer bei der Kampagne mitmachen möchte, ist herzlich eingeladen an dem nächsten Kampagnentreffen am Sonntag, den 9. Mai in Kassel teilzunehmen.

Weitere Informationen gibt es unter www.behandeln-statt-verwalten.de.


Frank Uhe ist Geschäftsstellenleiter der deutschen IPPNW und aktiv im AK Flüchtlinge und Asyl


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Quelle:
IPPNWforum | 121 | 10, März 2010, S. 29
Herausgeber:
Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges,
Ärzte in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW), Sektion Deutschland
Anschrift der Redaktion: IPPNWforum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Dezember 2010