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PFLEGE/502: Versorgung Demenzkranker im Heim - Erfahrungen einer Pflegehilfskraft (Alzheimer Info)


Alzheimer Info, Ausgabe 2/11
Nachrichten der Deutschen Alzheimer Gesellschaft Selbsthilfe Demenz

Erfahrungen einer Pflegehilfskraft

Es geht weniger um die Menschen und mehr um den Gewinn


Mario Balzer (Name geändert) arbeitet seit vier Jahren als Pflegehilfskraft in einem Heim in einer westdeutschen Großstadt. Die Internetseite und der Heimprospekt machen einen guten Eindruck. Im Empfang sieht es aus wie an der Rezeption eines modernen Hotels. Der MDK bescheinigt dem Haus in allen Bereichen die Pflegenote 1. Wir sprachen mit Mario Balzer über seine Erfahrungen.


Wie sind Sie zu der Tätigkeit im Pflegeheim gekommen?

Mario Balzer: Ich habe einen dreimonatigen Pflegekurs bei einem kirchlichen Träger gemacht. Da gab es theoretischen Unterricht und Praktika in zwei Heimen. Das Thema Demenz wurde nur am Rande behandelt. Seit vier Jahren arbeite ich jetzt in einem Pflegeheim, das zu einem privaten Träger gehört, der etwa ein Dutzend Heime in ganz Deutschland hat.

Wie hoch ist der Anteil demenzkranker Bewohner?

Mario Balzer: Schwer zu sagen. Wir haben fünf Etagen bzw. Wohnbereiche mit je etwa 25 Plätzen. Ich schätze, dass etwa 40% demenzkrank sind.

Wie sieht der Tagesablauf in dem Heim aus?

Mario Balzer: Gestern habe ich um 6 Uhr angefangen. Ich war zuständig für die Morgentoilette von etwa 25 Bewohnern in einem Wohnbereich. Das habe ich zusammen mit einer Fachkraft gemacht. Eigentlich sollte eine weitere Fachkraft dabei sein, aber die hatte sich krank gemeldet, und Ersatz gab es nicht. Meist sind wir nur zu zweit.

Wie viel Zeit haben Sie für die Morgentoilette?

Mario Balzer: So etwa 15 Minuten. Es muss schnell gehen. Und wenn ein Demenzkranker nicht mitmacht, z. B. beim Einsetzen des Gebisses, dann wird er erstmal so zum Frühstück gebracht, dann muss man das da hinkriegen. Am Tisch werden dann drei Personen gleichzeitig gefüttert. Wer mobil und orientiert ist, kann die Mahlzeiten im Restaurant im Erdgeschoß einnehmen. Dort ist es ganz nett. Alle anderen essen im Gemeinschaftsraum des Wohnbereichs. Dort bleiben sie bis zum Mittagessen sitzen. Da ist die Atmosphäre meist ziemlich traurig.

Gibt es denn keine "Betreuungsassistenten", die für die soziale Betreuung sorgen?

Mario Balzer: Doch, es gibt zwei, die für alle fünf Wohnbereiche zuständig sind. Ehemalige Krankenschwestern, die die anstrengende Pflege nicht mehr schaffen und eine Fortbildung mitgemacht haben. Die sind sehr engagiert.

Wie geht es weiter im Tagesverlauf?

Mario Balzer: Mittagessen ist um Viertel vor 12, anschließend für alle Mittagsschlaf von 12:30 Uhr bis 15 Uhr. Die eine Hälfte wird davor, die andere danach gewindelt. Anders ist das arbeitsmäßig nicht zu schaffen. Von 15 bis 16 Uhr ist dann Kaffeestunde. Danach Warten auf das Abendbrot um 17:30 Uhr. Dann werden alle in den Wohnbereichen für die Nacht fertig gemacht. Alle müssen spätestens um 21 Uhr fertig sein, wenn das Personal der Spätschicht geht. Nachts von 21 bis 6 Uhr sind nur ein bis zwei Mitarbeiterinnen da, die für 120 Personen auf fünf Etagen zuständig sind. Klar, dass sie nicht auf jedes Klingelzeichen reagieren können.

Bleibt bei diesem streng geregelten Tagesablauf überhaupt Raum für individuelle Wünsche?

Mario Balzer: Leider kaum, und oft ist schon für ganz elementare Wünsche keine Zeit. Wir haben die Anweisung, dass ein Toilettengang nicht mehr als drei Minuten dauern darf. Das ist praktisch gar nicht möglich. Dann müssen es die Windeln tun. Wer sich meldet, dem werden die Windeln gewechselt, was oft eine Weile dauern kann. Wer sich nicht mehr melden kann, bei dem geschieht nichts. In der Pflegedokumentation wird aber stets eingetragen: "Vier mal täglich zur Toilette geführt". Dann sind die Prüfer des Medizinischen Dienstes zufrieden.

Es mangelt also an Personal.

Mario Balzer: Ja, das ist sowieso knapp bemessen, und oft melden sich Mitarbeiterinnen krank. Die Kollegen müssen dann deren Arbeit zusätzlich übernehmen. Wenn es ganz eng wird, werden Mitarbeiter einer Personal Leasing Firma angefordert. Die schicken jeden Tag jemand anderen, dem wir dann mühsam alles erklären müssen.

Wie steht es mit der Qualifikation und Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter?

Mario Balzer: Ein großer Teil der Mitarbeiterinnen kommt aus Osteuropa. Deutsche sind kaum noch bereit die anstrengende Arbeit für die geringe Bezahlung zu machen. Viele Mitarbeiterinnen haben selbst oder in der Familie schwere Probleme, und sie haben Angst ihren Job zu verlieren. Über Demenz wissen die meisten nicht viel. Viele machen schnell das Nötigste und sitzen so viel wie möglich im Dienstzimmer rauchen, trinken Kaffee und quatschen.

Da müsste sich doch die Pflegedienstleitung bzw. Heimleitung drum kümmern.

Mario Balzer: Die Pflegdienstleiterin ist engagiert, aber überlastet und scheut den Konflikt mit den Mitarbeiterinnen. Und die Heimleiterin ist selten im Haus, denn sie leitet noch drei weitere Heime des Trägers. Mein Eindruck ist: Es geht weniger um die Menschen und mehr um den Gewinn.

Gibt es spezielle Angebote für Demenzkranke?

Mario Balzer: Es gibt ein soziales Programm. Im Restaurant wird jeden Tag etwas angeboten, z. B. Musik, Bingo, Basteln, Vorlesen. Aber da können nur die hin, die mobil sind und dort alleine hin finden. Die anderen nicht, denn wir haben nicht die Zeit, um sie dort hin zu bringen. Öfter fallen die Angebote aus, die auf dem Plan stehen.

Werden die Angehörigen mit einbezogen?

Mario Balzer: Von den Angehörigen kümmert sich etwa die Hälfte. Einige kommen jeden Tag. Manche kommen nur zum Geburtstag und wundern sich dann, wenn sie hören: "Wer sind Sie eigentlich?". Selten beschweren sich Angehörige, denn sie haben Angst, dass ihre Verwandten dann schlechter behandelt werden.

Das ist ein harter Job. Was motiviert Sie, dabei zu bleiben?

Mario Balzer: Die Arbeit ist schon anstrengend, aber ich bin körperlich ziemlich fit. Ich versuche gute Arbeit zu machen, und meine Vorgesetzte ist mit mir sehr zufrieden. Und ich versuche den alten Menschen auch etwas Zuwendung zu geben, umarme sie, lache mit ihnen. Sie freuen sich, wenn ich komme.

Vielen Dank für das Gespräch und viel Kraft für Ihre Arbeit.

Die Fragen stellte Hans-Jürgen Freter.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:
- Zeit für Zuwendung bleibt selten


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Quelle:
Alzheimer Info, Ausgabe 2/11, Seite 5 - 6
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juli 2011