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ARTIKEL/009: Konferenz "FortschritterLeben" - Innovationsprozesse durch Innovationspool fördern (BVMed)


BVMed - Bundesverband Medizintechnologie e.V. - 21. Oktober 2011

BVMed-Innovationskonferenz "Fortschritt erLeben":
Innovationsprozesse durch einen Innovationspool fördern


Berlin. Patientenbedürfnisse frühzeitig in die Innovationsentwicklung moderner Medizintechnologien einzubeziehen ist eine gemeinsame Herausforderung an Krankenhäuser und MedTech-Unternehmen. Medizintechnischer Fortschritt, der dem Patienten nutzt, entsteht in enger Zusammenarbeit von Forschung, Anwendern und Industrie. Das verdeutlichten die Experten der BVMed-Innovationskonferenz "Fortschritt erLeben" am 20. Oktober 2011 in Berlin. In Fallbeispielen ging es um Neurostimulation durch Gehirnschrittmacher, moderne Gravitationsventile bei Altershirndruck oder eine kathetergestützte Verschlusstechnik des Herzohrs bei Vorhofflimmern zur Vermeidung eines Schlaganfalls. Die Herausforderung an alle Beteiligten im Gesundheitssystem lautet: Wie können diese Innovationen, die dem Patienten nutzen, frühzeitig identifiziert und schneller dem Patienten zur Verfügung gestellt werden?

Die Antwort der Experten: Bei der Umsetzung neuer Ideen in den Versorgungsalltag gibt es große Defizite. Beispiel Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden im Krankenhaus (NUB). "Das NUB-Verfahren ist alles andere als eine Innovationsmaschine, sondern eher eine relativ rigide Innovationskontrolle", so das kritische Ergebnisse einer neuen Studie, die Stephan von Bandemer vom Institut Arbeit und Technik in Gelsenkirchen vorstellte. Die Umsetzung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in die Versorgung erfolge in den meisten Fällen sehr langsam. Prof. Dr. Norbert Roeder vom Universitätsklinikum Münster hält die derzeitige Regelung zur NUB-Finanzierung sogar für "realitätsfern". Änderungen der gesetzlichen Grundlagen zur Innovationsfinanzierung seien unverzichtbar, so Roeder. Erforderlich sei es, die Zusatzkosten für Innovation gesondert zu finanzieren. Prof. Dr. Ullrich Meier vom UKB sprach sich dafür aus, dass die Krankenkassen an der Finanzierung der Versorgungsforschung beteiligt werden. Alle Referenten unterstützen den BVMed-Vorschlag, einen Innovationspool einzurichten, um sinnvolle Freiräume für die Innovationsentwicklung und finanzierung zu schaffen. Moderator Rolf Stuppardt plädierte für ein gemeinsames "pro-aktives Innovationsmanagement".

Ideen zur Verbesserung der Patientenversorgung gemeinsam vorantreiben: das verdeutlichte Prof. Dr. Alireza Gharabaghi, Neurochirurg am Universitätsklinikum Tübingen, am Beispiel der Hirnstimulation. Sie ermöglicht die Behandlung von Patienten, für die es bislang keine Therapieoption gab. Indikationen sind zunächst Parkinson oder Tremor, künftig aber auch Depression, Zwang oder Tourette. Noch keine Lösungsansätze gibt es derzeit für Trauma oder Schlaganfall. Der Bedarf für neue Technologien ist groß: In Deutschland gibt es jährlich 200.000 Schlaganfälle, 100.000 Hirnblutungen und 250.000 Gehirnschäden durch Unfall. "Wir haben also einen großen Bedarf an neuen Konzepten, Ideen und Technologien", so Gharabaghi. "Wir benötigen Implantatsysteme, die in der Lage sind, sich intelligent und autonom an veränderte Umgebungen anzupassen." Weltweit gibt es bereits über 100.000 Patienten, die mit Hirnstimulatoren behandelt werden. Grundlage der Therapie ist die Erkenntnis aus der Grundlagenforschung, dass bei aktiver und vorgestellter Bewegung das Gehirn besonders empfänglich für Stimulation von außen ist. "Diese Erkenntnis in Technologien umzusetzen, um den Menschen zu helfen, ist ein sehr komplexer Prozess über viele Jahre hinweg", so der Neurochirurg. Am Anfang steht ein funktionierendes Modell über eine Kartierung des Gehirns, um zu wissen, welches Areal welchen Peripheriebereich stimuliert. Weitere wichtige Schritte zum Erfolg sind ein physiologisches Konzept, ein klinischer Bedarf, die methodische Umsetzung und die klinische Implementierung mit Pilotstudien. Gharabaghi berichtete von einem BMBF-Projekt "Intelligente Implantate", dass Schnittstellen zur MedTech-Industrie und einen engen Austausch mit Kooperationspartner ermöglicht. In dem geförderten Exzellenzcluster wird eng mit naturwissenschaftlichen Fakultäten und mit der Industrie zusammengearbeitet. "Ohne eine enge Zusammenarbeit mit der Industrie ist dieser Fortschritt nicht möglich. Wir brauchen dafür die besten Köpfe in Deutschland. Das geht nur durch innovationsfreundliche Rahmenbedingungen."

Mit evidenzbasierten Innovationen wie Gravitations-Ventilen gegen den Altershirndruck: Dieses Fallbeispiel für medizintechnischen Fortschritt präsentierte Prof. Dr. Ullrich Meier, Neurochirurg und Klinikdirektor am Unfallkrankenhaus Berlin. Über eine Million Menschg über 60 Jahre leiden in Deutschland an mittlerer und schwerer Demenz. Jährlich kommen rund 240.000 Neuerkrankungen hinzu. Bei acht bis zwölf Prozent dieser Patienten ist der Altershirndruck (medizinisch: Hydrozephalus) das eigentliche Krankheitsbild. Es äußert sich durch Gangstörungen, Störungen des Kurzzeitgedächtnisses sowie Inkontinenz als Spätsyndrom. "Das Krankheitsbild wird unterschätzt und leider oft zu spät erkannt. Wenn Urininkontinenz vorliegt, ist es schon zu spät", so Meier. Ein Teil dieser Demenzpatienten in Deutschland ist neurochirurgisch behandelbar. Die Standardtherapie ist ein ventrikulo-perotonealer Shunt, um das Hirnwasser über einen Schlauch ablaufen zu lassen. "Leider werden weltweit noch über 70 Prozent der Patienten mit der Ventilgeneration aus den 1970er Jahren behandelt. Das ist nicht akzeptabel." Die Qualität der chirurgischen Therapie kann aus Sicht des klinischen Experten durch modernste Ventiltechnologie massiv gesteigert werden. Beispielsweise durch moderne Gravitationsventile, die ein lageabhängiges Umschalten zwischen zwei Druckstufen - je nachdem ob der Patient liegt, sitzt oder steht - und eine Programmierbarkeit der Niederdruckstufe ermöglichen. Meiers Fazit: "Mit den modernen Technologien können wir eine Pflegebedürftigkeit um Jahre und Jahrzehnte hinweg hinausschieben und dem Patienten und dem Gesundheitssystem insgesamt helfen. Es werden zur Zeit aber bei weitem nicht alle Patienten mit Altershirndruck diagnostiziert und therapiert."

Prof. Dr. Wolfgang Rutsch, Emeritus und Kardiologie an der Charité, stellte eine Technologie des mechanischen Verschlusses des Herzohrs bei Vorhofflimmern vor, um den Patienten neue Lebensqualität zu geben und Schlaganfälle vorzubeugen. Das Vorhofflimmern ist die häufigste Herzrhythmus-Störung mit über 4,5 Millionen Patienten in Europa. Hauptgründe für die zunehmende Häufigkeit von Vorhofflimmern sind die höhere Lebenserwartung sowie die bessere Überlebenswahrscheinlichkeit von Patienten mit Begleiterkrankungen, die Vorhofflimmern begünstigen, wie Bluthochdruck, Herzkranzgefäßkrankheit und Herzschwäche.Das Problem bei dem Krankheitsbild ist der Schlaganfall. Denn es entstehen Blutgerinnsel im Vorhofohr: "Fast 35 Prozent der Patienten mit Vorhofflimmern erleiden innerhalb von zehn Jahren einen Schlaganfall, so Rutsch. Behandlungsoptionen sind Medikamente oder Katheterablation. Eine medizintechnische Innovation zur Vorbeugung des Schlaganfalls ist die Technologie des mechanischen Verschlusses des Herzrohrs, minimalinvasiv mit einem Kathetersystem über die Leiste. Dadurch werden die verantwortlichen Leitungsbahnen unterbrochen. Rutsch: "Der kathetertechnische Vorhofohrverschluß ist eine Alternative für die Patienten, die nicht mit einer oralen Antikoagulation behandelt werden können."

Stephan von Bandemer vom Institut Arbeit und Technik (IAT) in Gelsenkirchen stellte die Studie "Medizintechnische Innovationen im Rahmen des NUB-Verfahrens und deren Umsetzung in die Versorgung" im Auftrag des BVMed vor (Link zur Studie: http://www.iatge. de/aktuell/veroeff/2011/bandemer01.pdf). NUB steht für "Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden" im Krankenhaus. Die wichtigsten Ergebnisse: Zwischen 2006 und 2009 wurden über 3.000 NUB-Anträge gestellt, aber mit 360 Verfahren nur sehr wenige NUB-Neuanträge mit Status 1 anerkannt. Die Umsetzung neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in die Versorgung erfolgt zudem in den meisten Fällen sehr langsam. Der Anteil der NUB-Innovationen an der Versorgung ist mit rund 0,01 Prozent äußerst gering. NUBs werden dabei in der Versorgungsrealität überwiegend in spezialisierten Zentren angewendet. Innovationen mit nennenswerter Verbreitung auf relativ niedrigem Niveau sind in der Regel komplexe Verfahren, die auf entsprechende organisatorische und qualifikatorische Voraussetzungen angewiesen sind. Beispiele sind die mechanische Thrombektomie oder der endovaskuläre Aortenklappenersatz. Größere Verbreitung finden in der Regel Innovationen, die bestehende Verfahren optimieren und auf eine breite vorhandene Kompetenz aufsetzen können, beispielsweise Bifurkationsstents. Bandemers Fazit: "Das NUB-Verfahren führt zu einer sehr kontrollierten Einführung von medizintechnischen Innovationen. Es besteht eine funktionierende Selbstkontrolle auf Seiten der Hersteller und der Krankenhäuser, die dem Spezialisierungsgrad der Innovationen gerecht wird. Das NUB-Verfahren ist aber alles andere als eine Innovationsmaschine, sondern eher eine relativ rigide Innovationskontrolle."

Die Probleme der Innovationsfinanzierung im Krankenhaus schilderte Prof. Dr. Norbert Roeder, Ärztlicher Direktor des Universitätsklinikums Münster. Die Medizin lebe von Innovationen. Nur ein Teil der Innovationen verursache Mehrkosten. Diese müssten dann gesondert finanziert werden. Denn die Mehrkosten von Innovationen seien ansonsten aus dem "Preisbudget" nicht finanzierbar. "Dabei sind nicht nur die Kosten des neuen Verfahrens zu betrachten, sondern die Gesamtfallkosten", so Roeder. Neue Verfahren könnten beispielsweise zu kürzeren Verweildauern führen, wodurch Verfahrensmehrkosten kompensiert werden. Das NUB-Antragsverfahren habe sich zwar eingespielt. In Entgeltverhandlungen haben NUBs abei eher eine untergeordnete Rolle. Zudem sei die Handhabung bundesweit sehr uneinheitlich. Daher könne nur für rund ein Drittel der NUB-Anträge auch letztlich ein Entgelt vereinbart werden. Roeder kritisierte, dass auch bereits genehmigte Innovationen jedes Jahr von jedem Krankenhaus neu beantragt werden müssten. Die Krankenkassen rügen die Antragsflut, die aber systembedingt sei. Aus Roeders Sicht muss das NUB-Verfahren "renoviert" werden, um sicherzustellen, dass Innovationen zeitnah ins System kommen. So sollte die Antragsstellung durch jedes einzelne Haus abgeschafft und einmal vom DRG-Institut InEK freigegebene neue Verfahren für jedes Haus gelten. Wichtig sei auch, die Praxis zu unterbinden, Entgelte mit Hinweis auf fehlende Evidenz zu verweigern. Die NUBs sollten losgelöst von gesamten Leistungs- und Entgeltverhandlungen verhandelt und vereinbart werden und grundsätzlich rückwirkend ab Jahresbeginn erstattungsfähig sein.


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Quelle:
BVMed-Pressemeldung Nr. 74/11 vom 21. Oktober 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Oktober 2011

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