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POLITIK/005: Literaturhinweis - Behinderung und Inklusion (spw)


spw - Ausgabe 2/2016 - Heft 213
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Behinderung und Inklusion[1]
Einleitung zum Heftschwerpunkt

von Stefan Stache und Felix Welti


Demokratie und Menschenrechte

Für manche ist Behindertenpolitik noch eine besondere Unterkategorie der Sozial- und Gesundheitspolitik, ein Feld mit spezifischen Institutionen, Berufen, Gesetzen und Wissenschaftsdisziplinen, in dem Wohlfahrtsverbände und Fürsorgebehörden den Ton angeben. Doch seit einigen Jahrzehnten ist immer schwerer zu übersehen, dass gesellschaftliche Gestaltung für Menschen mit Behinderungen und durch sie zu einem zentralen Feld der Auseinandersetzungen um Demokratie und Menschenrechte geworden ist. Forderungen nach mehr demokratischer Partizipation und gesellschaftlicher Teilhabe von Menschen mit Behinderungen sind Teil eines umfassenden gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses, in dem das Bedürfnis nach Autonomie und mehr demokratischen Teilhabemöglichkeiten vor allem in der modernen Arbeitnehmermitte gewachsen ist. Der Kampf um selbstbestimmtes Leben, gegen Bevormundung und Ausgrenzung in Politik und Gesellschaft, Bildungswesen und Arbeitswelt, für Barrierefreiheit als Gestaltungsprinzip bewegt von der Kommune bis zu den Vereinten Nationen alle politischen Ebenen. Deutlicher Ausdruck dafür ist die UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2006 schon von mehr als 150 Staaten ratifiziert worden ist und seit 2009 auch in der Bundesrepublik Deutschland im Mittelpunkt politischer, rechtlicher und gesellschaftlicher Diskussionen steht und auf die auch fast alle Autorinnen und Autoren dieses Schwerpunkts Bezug nehmen. Diese wachsende Bedeutung von sozialen Menschenrechten und Minderheitenrechten wird auch auf andere Felder rückwirken. Nicht anders als beim Geschlechterverhältnis ist auch hier das Gleichheitsrecht ein Treiber gesellschaftlicher Entwicklungen.

Dagegen zeigen sich altes Denken und die Beharrungskraft gewachsener Strukturen in der politischen Debatte auch aktuell: Das Bundesteilhabegesetz wird von relevanten politischen Akteuren primär unter dem Gesichtspunkt der Ent- oder Belastung von Kommunen (oder Sozialversicherung) gesehen anstelle der Wirkungen auf die Betroffenen. Der aktuelle Koalitionsvertrag nennt eine konkrete Zahl - aber die fünf Milliarden Euro Entlastung in der Behindertenpolitik werden den Kommunen versprochen, nicht den Betroffenen, die mit ihren Partnern und Familien mit ihren Einkommens- und Vermögensprüfungen in der Sozialhilfe stecken. Auch Wohneinrichtungen, Werkstätten und Sonderschulen und die sie tragenden Verbände, Behörden und Professionen bedenken die Reformen oft primär von ihren Interessen her. Zweck und Mittel verkehren sich und die Nutzerinnen und Nutzer drohen eine Restgröße der Interessen ihrer fürsorglichen Dienstleister zu werden. Unternehmen und Betriebe als Arbeitgeber und Anbieter von Waren und Dienstleistungen sehen in der Forderung nach Barrierefreiheit von Abläufen und Gebäuden kostentreibende externe Anforderungen anstatt die Chancen eines universellen Designs zu internalisieren. Hier zeigt sich, dass ein unregulierter Arbeits-, Güter- und Dienstleistungsmarkt nicht im Selbstlauf Inklusion - und damit auch Wachstum und Prosperität - hervorbringt, sondern dazu der Regeln bedarf, um die auch für diesen Sektor gestritten werden muss. Gelingt es, diese Regulierung im Wirtschaftsleben zu internalisieren - auch durch institutionalisierte Betroffenenbeteiligung der Menschen mit Behinderungen in Betrieb, Gewerkschaften und Verbraucherschutz - ist dies effizienter und nachhaltiger als wenn das Thema Sonderinstitutionen überantwortet wird.

Ein Thema der modernen demokratischen Mitte

Behindertenpolitik ist ein Thema in der Mitte der Gesellschaft. Es betrifft nicht eine abgegrenzte Gruppe, sondern eine Lebenssituation. Etwa ein Viertel aller Menschen ist aktuell gesundheitlich beeinträchtigt, ungefähr ein Zehntel ist in der Bundesrepublik Deutschland anerkannt schwerbehindert. Ob dieser relevante Teil der Gesellschaft aus Arbeit und Konsum, gesellschaftlichem Leben und Demokratie ausgegrenzt wird oder nicht, ist ein Thema, das politische und ökonomische Relevanz für alle hat.

Behinderung ist nur selten angeboren, sie ist meist erworben. Behinderung ist ein Lebenslauf-Thema. Fast jeder Mensch muss gewärtigen, im Lebenslauf selbst von Behinderung betroffen zu sein, hat behinderte Familienmitglieder, Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunde. Mit guter Behindertenpolitik können Wahlen gewonnen, mit schlechter Wahlen verloren werden. In den letzten Monaten schien es so, als ob diese Erkenntnis nicht an allen Stellen des politischen Prozesses präsent war. In der politischen und medialen Kommunikation war nichts davon zu spüren, dass das seit langem diskutierte und für eine große Gruppe von Menschen wichtige Bundesteilhabegesetz von den letzten Auseinandersetzungen in der Regierungskoalition mitbetroffen war.

Wer nun eine thematische Front "Flüchtlinge" gegen "deutsche Behinderte" ausmachen würde, unterschätzte Differenzierungsvermögen und Solidarität vieler Menschen. Sehr wohl ist vielen bewusst, dass nicht wenige, die vor Krieg und Elend fliehen, körperlich oder seelisch beeinträchtigt sind und Rehabilitation und Teilhabe Geflüchteter eine eigenständige Frage von Humanität und Rechten ist. Zermürbend wird aber von Menschen, die auf politische Reformen mit großer Wirkung für ihre Lebenssituation warten, das Gefühl empfunden: "Alles ist wichtiger." Der politische und mediale Prozess scheint unter einem Aufmerksamkeits-Defizit für Probleme zu leiden, die dauerhaft da sind. Wer aber demokratische Politik an Lebensweise und Alltag der Menschen anknüpfen will, kommt daran nicht vorbei, wie mit dem Alltags-Phänomen gesundheitlicher Beeinträchtigung und damit verknüpfter Behinderung in der Gesellschaft umzugehen ist. Schon die öffentlich präsenten Bilder von Behinderung - Rollstuhl, Blindenstock, Gebärdensprache oder Down-Syndrom - engen die Wahrnehmung oft ein: Ebenso gehören Hunderttausende mit auf den ersten Blick unsichtbaren Beeinträchtigungen dazu, die etwa durch Rheuma, Krebs oder Herzschwäche, Schwerhörigkeit, psychische Krankheiten oder Demenz verursacht werden.

Verena Bentele, Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, mit Erfahrungen aus der Münchener Kommunalpolitik und 12-fache Paralympics-Siegerin im Biathlon, beschreibt den Rahmen für eine auf Teilhabe gerichtete Politik für behinderte Menschen. Joachim Steinbrück, Behindertenbeauftragter der Freien Hansestadt Bremen, ergänzt dies mit Erfahrungen von der Ebene der Länder und Kommunen. Hier geht es oft um die soziale Infrastruktur und Barrierefreiheit, die gleichberechtigte Teilhabe behinderter Menschen erst ermöglicht. Karl Finke, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft selbstaktiv in der SPD, betont, dass dazu die politische Teilhabe der Menschen mit Behinderungen erforderlich ist, auch in den Parteien. "Nichts über uns ohne uns" ist ein tragender Grundsatz der Behindertenbewegung geworden, der immer auch gegen Routinen der Fürsorge durchgesetzt werden muss. Gesa Rünker, Journalistin und Kolumnistin der spw, zeigt auf, dass oft auch mangelnde Kompetenz und Sensibilität der Medienberichterstattung den nötigen Diskurs über den Umgang der Gesellschaft mit Beeinträchtigungen behindern. Die Behindertenbewegung, das zeigt sich in diesen Beiträgen, deren Autorinnen und Autoren ihr in unterschiedlicher Weise biographisch und institutionell verbunden sind, ist ein vielfältiger, internationaler und oft unterschätzter Faktor des politischen Lebens. Mit der Dialektik von politischem Erfolg, Institutionalisierung und Bürokratisierung hat sie im Übrigen nicht weniger zu tun als jede andere erfolgreiche politische Bewegung auch.

Teilhabe und Gleichstellung als sozialpolitische Ziele

Ist Behinderung also weit mehr ein soziales als ein medizinisches Phänomen und geht Behindertenpolitik weit über soziale Fürsorge hinaus, so ist sie doch erst recht die Herausforderung für eine zeitgemäße Verknüpfung von menschenrechtlich begründeter Emanzipation und Inklusion mit moderner Sozialpolitik, gleichermaßen Arbeitsmarkt und Bildung, Verbraucherschutz, Gesundheit und Pflege betreffend. Horst Frehe, bis 2015 Staatsrat in Bremen und langjähriger Aktivist der Behindertenbewegung, zeigt dies am Beispiel der aktuellen Gesetzgebung zum Behindertengleichstellungsgesetz und zum Bundesteilhabegesetz auf. Bettina Schulze behandelt die Herausforderungen der Rehabilitation im Kontext der Gesundheitspolitik. Hier sind ebenso eine inhaltliche Neuorientierung weg von der Konzentration auf akute schnell behandelbare Krankheiten wie eine gerechte Finanzierung und gute Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten zu fordern. Die Gestaltung der Humandienstleistungen im Interesse ihrer Nutzerinnen und Nutzer wird dabei eine politische Kernfrage, an der sich sehr unterschiedliche Konzepte von Gesundheitswirtschaft unterscheiden lassen. Modische Debatten der Sozial- und Gesundheitspolitik wie die über "Care" oder "Aktivierende Arbeitsmarktpolitik" können anhand ihrer Beachtung der Interessen behinderter Nutzerinnen und Nutzer auf ihre Realitätstauglichkeit geprüft werden. Wenn "Care" vor allem von den Interessen der fürsorglichen Professionen her gedacht wird oder aktivierende Arbeitsmarktpolitik nur bei jungen gesunden Arbeitsfähigen funktioniert, haben Konzepte und Diskussionen noch blinde Flecken. Auch die Diskussionen über den demografischen Wandel könnten zielgenauer geführt werden, wenn klargestellt würde, dass vor allem die gesundheitlichen Beeinträchtigungen der zweiten Lebenshälfte Veränderungsbedarf in Betrieben, Gemeinden und anderswo bedingen. Um die topfit und kaufkräftig konstruierten "Silver-Ager" muss man sich dagegen weniger kümmern. Barrierefreiheit nützt eben nicht nur dem Rollstuhlfahrer, sondern auch dem Rollator - schon vergrößert sich die politische und ökonomische Zielgruppe ganz erheblich.

Recht auf Bildung, Recht auf Arbeit

Kernfragen für die Realisierung von Inklusion und Teilhabe sind die Rechte auf Bildung und Arbeit. Bertram Sauer ordnet die Diskussion über das inklusive Schulwesen in die bildungspolitischen Debatten und sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse ein. Er zeigt, dass die inklusive Schule nicht isoliert diskutiert und durchgesetzt werden kann. Nils Bolwig und Henning Groskreutz beleuchten aus gewerkschaftlicher Sicht die Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben. Auch hier wird deutlich, dass Selbstbestimmung, Teilhabe und Demokratie eng miteinander verknüpft sind. Die Schwerbehindertenvertretung ist insoweit ein unterschätztes Feld betrieblicher Interessenvertretung. Ebenso sind die arbeits- und gesundheitspolitischen Anliegen einer Humanisierung der Arbeitswelt mit den arbeitsmarktpolitischen Zielen stärkerer Erwerbsteilhabe zusammenzubringen. Werkstätten für behinderte Menschen müssen mit Übergangschancen näher an den allgemeinen Arbeitsmarkt rücken. Auch der aktuelle Diskurs zu Behinderung zeigt, dass der Zugang zu gesicherter und gehaltvoller Erwerbsarbeit nichts von seiner Zentralität für die Lebens- und Teilhabechancen verloren hat. Der Verweis auf ein angeblich erfülltes Leben mit Grundsicherung und irgendwie zu findender Beschäftigung entspricht gerade nicht dem Konzept von Inklusion und gleichberechtigter Teilhabe. Besonders augenfällig ist die ungleiche Verteilung der Chancen zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen beim Erreichen akademischer Abschlüsse sowie der Besetzung von gesellschaftlichen und ökonomischen Führungspositionen und politischen Mandaten.

Es bleibt eine Kernfrage, dass Schul- und Bildungsabschlüsse sowie sozialversicherte Arbeit allen zugänglich sind und Barrieren auf dem Weg dahin überwunden werden. Erst dann wird der Blick darauf frei, dass auch die soziale Sicherung für Phasen außerhalb der Erwerbsarbeit für behinderte Menschen unzureichend ist. Die letzte Rentenreform ist das Problem der Erwerbsminderungsrenten nur halbherzig angegangen. Mindestlohn und Mindestrente können insoweit nicht sinnvoll diskutiert werden, ohne gerade in ihren Wirkungen auf behinderte Menschen betrachtet zu werden. Behindert zu sein, gesundheitlich bedingt Erwerbstätigkeit zu unterbrechen, ist heute einer der größten Risikofaktoren für Armut, gerade in der zweiten Lebenshälfte. Eine armutsfeste solidarische Absicherung des Risikos der Erwerbsminderung durch den Ausbau der Erwerbsminderungsrenten liegt im Interesse der Mehrheit der Beschäftigten, die hierfür zumeist auf private Versicherer verwiesen sind, die behinderte und chronisch kranke Menschen durch hohe Prämien abschrecken.

Inklusion sollte als wesentlicher Bestandteil eines sozial-ökologischen Pfadwechsels verstanden werden. Ein inklusiver Pfadwechsel nimmt den Ausbau der Sozial- und Bildungsdienstleistungen und die Erneuerung der Infrastruktur auch für Menschen mit Behinderungen systematisch in den Blick. Menschen mit Behinderungen in eigenen und inklusiven Organisationen gestalten die Qualität der Dienstleistungen in diesem Pfadwechsel selbst mit.


Stefan Stache ist Chefredakteur der spw und lebt in Hannover. Er ist Bundesausschussmitglied der Arbeitsgemeinschaft Selbstaktiv - Menschen mit Behinderungen in der SPD.

Dr. Felix Welti ist Professor an der Universität Kassel am Institut für Sozialwesen des Fachbereichs Humanwissenschaften und Mitherausgeber der spw.


Anmerkung

[1] spw stellt seinen Leserinnen und Lesern auf Anfrage an redaktion@spw.de gern alle Artikel als barrierefreie Word-Dokumente zur Verfügung.


Link- und Literaturtipps

Links
www.reha-recht.de
www.kobinet-nachrichten.org

Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen, August 2013, download unter:
http://www.bmas.de/DE/Service/Medien/Publikationen/a125-13-teilhabebericht.html


Literatur

Theresia Degener / Elke Diehl
Handbuch Behindertenrechtskonvention
Schriftenreihe (Bd. 1506) 2015 Bundeszentrale für politsische Bildung (bpb), mit DvD, 504 Seiten, 4.50 EUR

Marianne Hirschberg
Behinderung im internationalen Diskurs
Die flexible Klassifizierung der Weltgesundheitsorganisation
2009 campus Verlag, 376 Seiten, 39.90 EUR

Martha C. Nussbaum
Die Grenzen der Gerechtigkeit - Behinderung
Nationalität und Spezieszugehörigkeit
2010 Suhrkamp Verlag, 599 Seiten, 36.90 EUR

Raúl Aguayo-Krauthausen
Dachdecker wollte ich eh nicht werden
Das Leben aus der Rollstuhlperspektive
2014 rororo, 256 Seiten, 14.99 EUR

Klaus Dörner
Tödliches Mitleid
Zur sozialen Frage der Unerträglichkeit des Lebens
2007 Paranus Verlag, 248 Seiten, 16.80 EUR

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 2/2016, Heft 213, Seite 12 - 16
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Mai 2016

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