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AFRIKA/1082: Ostafrika - Tribal Homelands überwinden (afrika süd)


afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
Nr. 5, September/Oktober 2011

Tribal Homelands überwinden

von Mahmood Mamdani


Der ugandische Sozialwissenschaftler Mahmood Mamdani argumentiert am Beispiel Ostafrikas, dass eine Gemeinschaft nur funktionieren kann, wenn das demokratische Recht der Gemeinschaft über dem des Marktes steht. Dazu bedürfe es auch einer Überwindung des Konzepts der "tribal homelands". Die Tradition von entweder ethnisch oder territorial gebundenen Bürgerrechten ist ein postkoloniales Erbe, mit dem sich auch Regionalgemeinschaften wie die SADC im Südlichen Afrika oder die westafrikanische ECO WAS herumschlagen müssen.


Als ich 1979 von der Universität Daressalam nach Uganda zurückkehrte, interessierte ich mich für die Frage, wieso die alte Ostafrikanische Gemeinschaft zusammengefallen war. Die Dokumente zeigten, dass die Debatten darüber ausschließlich zwischen den Staaten geführt wurden. Eine unabhängige Diskussion quer durch die Staaten konnte ich nicht ausmachen.

Wenn wir die Ursachen des Scheiterns weitgehend auf externe Faktoren zurückführen, definieren wir uns als Spielball von Kräften, die wir nicht kontrollieren können. Doch wenn wir unsere eigenen Fehler diskutieren und einen öffentlichen Diskurs darüber beginnen, dann können wir uns einen Schritt nach vorne bewegen. Wenn wir die Initiative nicht den Politikern überlassen, können wir verschiedene Optionen und Handlungsmöglichkeiten entwickeln.


Markt versus soziale Gerechtigkeit

Die heute nach Einheit in Afrika rufen, folgen generell dem Modell der Europäischen Union. Die Afrikanische Union ist bewusst nach diesem Beispiel geformt, in Namen und Akronym. Heute sollten uns die Entwicklungen in Griechenland, Spanien, Irland und weiteren Staaten Anlass zum Nachdenken geben.

Die EU war außerordentlich erfolgreich als gemeinsamer Markt. Als Währungsunion bewegt sie sich allerdings auf ein Desaster zu. Worin liegt das Problem? Wenn nationale Regierungen die Herrschaft über ihre nationale Währung verlieren, fällt die politische Entscheidungsgewalt über Geldpolitik an die Bürokraten in Brüssel, die nicht zur Rechenschaft gezogen werden können. Ohne politische Verantwortung hat sich die EU zu einer vom Markt bestimmten Organisation gewandelt, in der schwächere Ökonomien wie Griechenland keinen Platz haben und untergehen, wenn sie sich nicht einer strengen Strukturanpassung mit entsprechendem Sozialabbau unterziehen.

Die Bruchlinie der EU unterscheidet sich nicht groß von der in Ostafrika. Sie trennt reiche von armen Mitgliedsstaaten. Wer aber schützt die schwächeren? Die Alternative zum freien Markt ist politische Demokratie. Während die Gesetze des Marktes davon ausgehen, dass Macht Recht setzt, beruht das Fundament der Staatsbürgerschaft auf politischer Gleichheit. Während der Markt auf das kodifizierte Recht pocht, ist das Fundament für Staatsbürgerschaft Gerechtigkeit. In einer Demokratie bedürfen die Benachteiligten einer politischen Kraft, die ihnen ein Minimum an Schutz vor den Gesetzen des Marktes gibt. Falls Ostafrika dem Weg des Marktfundamentalismus folgt, was sollte die Mehrheit der Benachteiligten in der Region daran hindern, die Einheit abzulehnen oder Demagogen zu folgen, die ihnen einreden, sich auf ihre eigentlichen communities in ihren "native Homelands" zurückzuziehen? Statt Tansania oder Uganda also - sagen wir - Sukumaland oder Buganda?

Wir müssen zuallererst überlegen, wie dem Marktfundamentalismus entgegengewirkt werden kann, unter dem in einer ostafrikanischen Einheit ärmere Regionen und die armen Klassen nur verlieren können. Wie können wir die Sprache des Rechts mit der der sozialen Gerechtigkeit, den Marktfundamentalismus mit sozialer Fairness in Gleichklang bringen?


Die Landfrage

Mehrfach wird die Ansicht vertreten, die Lösung der Landfrage müsse jedem einzelnen Mitgliedsstaat überlassen bleiben. Doch damit würden wir sie nur auf die lange Bank schieben. Die große Mehrheit Ostafrikas sind Kleinbauern. Ihnen brennt zuvorderst die Landfrage unter den Nägeln. Ohne gesicherten Zugang zu Land gibt es keine Sicherheit zum Überleben.

In Ostafrika gibt es zwei radikal unterschiedliche Landsysteme. Beide sind kolonialer Herkunft. Das eine ist der private Grundbesitz. Hier steht es den Armen frei, ihren Besitz an die Reichen zu verkaufen - selbst wenn sie damit in Zukunft ohne Mittel für ihren Lebensunterhalt da stehen. Auf der anderen Seite gibt es die gewohnheitsrechtliche Verfügung über Land. Das Land "gehört" einer bestimmten community.

Dieses Gewohnheitsrecht schützt die Kleinbauern vor einer Enteignung durch die Marktkräfte und sichert so die materielle Basis des ländlichen Lebens. Es verhindert zudem die Bildung einer Überschussbevölkerung, die es in Massen in die Städte drängen würde. Umgekehrt hindert es städtisches Kapital daran, ins Hinterland vorzudringen.

Die negative Seite dieser gewohnheitsrechtlichen Landverfügung ist dadurch gekennzeichnet, dass hier eine Gemeinde in ethnischen Begriffen, als "tribal community" definiert wird, Land als Teil eines "tribal homeland". Damit wurde der afrikanische Horizont auf den Stamm reduziert. Der Stamm wurde Grundlage von Sicherheit und Verfügung, gleichzeitig aber zu einer Quelle potenzieller Gewalt.

Die Herausforderung heute hat zwei Gesichter: Erstens, kann die Sicherheit, die ein Landnutzer im traditionellen Recht genießt, in eine größere Einheit wie ein vereintes Ostafrika hinüber gerettet werden oder wird eine solche Einheit nach den Marktgesetzen mit der Maßgabe des Privateigentums angestrebt? Zweitens, kann eine Einheit mehr als nur einen Markt schaffen, ein Spielfeld, auf dem die Reichen und Starken unweigerlich den Ton angeben werden? Kann sie eine sinnvolle Staatsbürgerschaft schaffen als politische Heimat für die Mehrheit?

Die europäische Lösung dieser Frage ist bekannt. Seit dem 17. Jahrhundert wurde privater Grundbesitz das Prinzip agrarischer Akkumulation. Die Folgen sind ebenfalls bekannt. Verarmte Bauern wurden als Überschussbevölkerung vom Land vertrieben. Wer keinen städtischen Beruf fand, war gezwungen, in die Kolonien zu gehen - anfangs als Banditen, Sträflinge und Rebellen, später als Verfügungsmasse des Marktes.

Das ist die Geschichte der beiden Amerikas, Australiens, Neuseelands und Südafrikas. Die europäische Option bedeutete den Vorzug der Stadt. Europas stadtzentrierte Option spiegelt sich im Begriff der bürgerlichen Gesellschaft. Wir haben sie in Afrika bedenkenlos übernommen.

In Ostafrika war die städtische Option historisch Teil der Rassenprivilegien. Die Gesellschaft war von Anfang an rassistisch geprägt. Die progressiven Kräfte in Ostafrika waren nicht die, die für den Vorrang städtischer Prinzipien und Strukturen gekämpft haben. Sie haben vielmehr eine Verbindung von Land und Stadt gesucht. Die Befürworter einer Zivilgesellschaft und urban zentrierte Vorstellungen haben diesen historischen Fakt übersehen.

Dieser europäische Weg, das Problem der Überschussbevölkerung zu lösen, existiert nicht mehr. Heute gibt es auf der Welt keine freien Plätze mehr, auf die man eine Überschussbevölkerung abschieben kann. Trotz der aufsehenerregenden Schlagzeilen über Afrikaner, die mit Booten über See nach Europa zu gelangen versuchen, findet sich diese überschüssige Bevölkerung eher als Flüchtlinge oder Binnenvertriebene innerhalb Afrikas wieder.

Das Beispiel China könnte lehrreich sein. Die Krise der ländlichen Gebiete wird dort zwar immer größer. Das eigentlich Überraschende ist jedoch, dass sie nicht noch größer ist. Dafür gibt es einen zentralen Grund. In China ist Agrarland kein Wirtschaftsgut. Land gehört den Dörfern. Das entspricht in gewisser Hinsicht dem gewohnheitsrechtlichen Besitz. Die Zuteilung wird durch die Nutzung geregelt. Von daher sollten wir eine Reform des gewohnheitsrechtlichen Besitzes angehen, anstatt ihn abzuschaffen. Vorrang hat der Schutz dieser Form des Besitzes, Land als Land für die Bauern - abgedeckt durch die Anerkennung der Dorfgemeinschaft als Hüter des Landes. Das Konzept der "village community" müsste allerdings von der tribalen Konnotation befreit und auf Residenz bezogen werden.

Die große Frage betrifft die Beziehung zwischen Land und Stadt - und Stamm und Nation. Kann man gleichzeitig Teil einer größeren Gemeinschaft sein, ohne dabei seine Heimat und das Heimatgefühl aufzugeben? Das führt uns zurück auf die eigentlich Frage - die Frage der Staatsbürgerschaft.


Wo gehöre ich hin?

Der Zentralstaat ist eine europäische Erfindung. Vor dem Gewaltmonopol und der juristischen Macht beim Zentralstaat war Macht dezentralisiert. Selbst in Autokratien wurden Streitigkeiten in den village communities oder den feudalen Herrenhäusern geschlichtet. Dezentralisierte Macht war global verbreitet.

Als die europäischen Anthropologen nach Afrika kamen, klassifizierten sie die vorhandenen Gesellschaften in staatlich und nichtstaatlich. Sie sahen Afrika aus europäischer Perspektive, dokumentierten aber gleichzeitig, dass dezentrale Macht eine weit verbreitete Realität war. Die Hinwendung zu einem föderalen Aufbau, zu einer Form von dezentraler Macht, der sich in manchen Staaten heute vollzieht, ist in diesem Sinne eine Rückkehr zu einem Teil unserer politischen Tradition. Aber diese Rückkehr ist problematisch.

Es gibt zwei Arten von föderativer Gliederung: ethnisch und territorial. Afrikanische Föderationen tendieren zu ersterem. Den Unterschied erkennt man, wenn man sich folgende Frage stellt: Wo ist deine Heimat, der Ort, an dem du jetzt lebst, oder der Herkunftsort deiner Familie?

Der territoriale Gedanke besagt, deine Heimat ist da, wo du lebst. In der ethnischen Interpretation dagegen ist Heimat der Ort deiner Familie und der Vorfahren. Ich behaupte, diese Definition ist nicht Bestandteil der politischen Tradition im präkolonialen Afrika. Es ist Teil der kolonialen Tradition.

Die Kolonialmächte trennten die Bevölkerung der Kolonien in zweifacher Hinsicht, in Rassen und Stämme. "Rasse" diente der Abgrenzung der "Zugereisten" von den Ein heimischen. Stämme dagegen waren indigen, Eingeborene. Rassen - so hieß es - haben eine Geschichte, sie bewegten sich, Stämmen dagegen wurde eine geographisch fixierte Vergangenheit zugeordnet, auf ihre tribal homelands fixiert von Anbeginn der Zeit.

Die Frage ist, wie weit geht diese politische Tradition zurück, eine Person über einen Geburtsort zu identifizieren - unverrückbar, unwandelbar?

Jedes afrikanische Volk hat eine Ursprungsgeschichte, die Kintu und die Bagande oder die Odudwe und die Yoruba oder die Bachwezi und die Luo, sie alle haben ihre eigenen Herkunftsgeschichten aus fremden Orten. Der Herkunftsmythos der Hutu, Tutsi und Twa in Ruanda besagt, dass sie vom Himmel gefallen sind.

Jeder Ursprungsmythos ist eigentlich eine Migrationsgeschichte. Vormoderne Leute glauben nicht daran, dass Menschen "Eingeborene" eines festen Ortes sind. Und das gilt nicht nur für Afrika. Die größte Ursprungslegende, die alle abrahamitischen Religionen teilen, ist die Genesis des Alten Testamentes. Der Mensch kam vom Himmel und wanderte nach der großen Flut über die Erde.

Die Vision, dass die Welt von einheimischen und fremden Minderheiten bevölkert wird, ist eine moderne und säkulare Ansicht. In diesem Teil der Welt, in Afrika, ist das eine eindeutig kolonial Weitsicht. Die Vorstellung, dass jeder Stamm sein eigenes "homeland" hat und dass jeder Stamm rechtmäßig zu diesem "homeland" gehört - also eingeboren ist -, ist die Sichtweise der Siedler. Auf sie gründet sich die Argumentation, dass Stämme in ihren "homelands" bleiben müssen und auf die den Siedlern gehörende Welt außerhalb davon keinen Anspruch haben.

Der Knackpunkt ist nicht, dass der Kolonialismus diese Fiktion erschaffen hat, sondern dass wir sie übernommen haben. Wir nehmen es als afrikanische Gewohnheit an und nicht als koloniale. Dazu ein Beispiel, wie diese Auffassung ins Zentrum unseres politischen Lebens rückte:

Nigeria wandelte sich nach dem Bürgerkrieg 1967-70 vom Zentralstaat in eine Föderation. Ein Kernpunkt dieser Föderation war der Paragraph über den "föderalen Charakter". Dieser besagt, dass die tragenden Institutionen den föderalen Charakter widerspiegeln müssen: Die Armee, der öffentlichen Dienst und die Universitäten. Dort werden alle Stellen und Plätze nach Quoten verteilt, welche die Landesteile entsprechend ihrer Bevölkerung berücksichtigten. Der Haken ist, dass die Quote sich nach der Zahl der so genannten Indigenen in einem Teilstaat richtet. Aber wer ist "indigen"? Per Gesetz zählt dazu, wer dort geboren ist, als Sohn oder Tochter eines Vaters, der ebenfalls in diesem Staat geboren wurde.

Die ethnische Föderation ist heute der Ausgangspunkt für die meisten Probleme in Nigeria. Die Marktwirtschaft verlangt nicht nur den Austausch von Produkten, auch die Menschen - ob arm ob reich - müssen beweglich sein: reiche Händler, Industrielle und Fachpersonal ebenso wie Arbeitslose, landlose Bauern und Hausierer. Manche überschreiten dabei die Provinz- oder Landesgrenzen. Das sind meist die Geschäftstüchtigen, arm wie reich. Nun sind sie auf einmal Nicht-Einheimische und rechtlos. Jedes Jahr wächst die Zahl der Nigerianer, die in einem föderalen Teilstaat leben, dort aber als Nicht-Indigene gelten.

Bei den meisten innerstaatlichen Konflikten in Nigeria geht es darum, wer als einheimisch gilt und wer nicht. Im Middle Seit in Zentralnigeria mit zahlreichen Minoritäten geht die Auseinandersetzung darum, wessen Familie schon vor der Kolonialzeit in Nigeria lebte oder wessen Familie ihren Wohnsitz auf das Kalifat von Sokoto zurückführen kann. Beide Gruppen sind sich darin einig, dass man nicht hierhin gehört, wenn man erst vor kurzem, das heißt in den letzten 100 Jahren, zugezogen ist.

Es gibt aber auch ein positives Beispiel. Nicht jede Unabhängigkeitsbewegung, die in Ostafrika an die Macht gekommen ist, akzeptierte die koloniale Version der tribal homelands als afrikanische Tradition. Herausragendes Beispiel dafür ist Julius Mwalimu Nyerere und sein Tansania. Tansania ist das einzige Land der Region, in dem keine Gruppe aus ethnischen oder rassischen Gründen verfolgt worden ist. Tansania ist das Gegenbeispiel zu Nigeria. Nyerere bleibt als Staatsmann in Erinnerung, der einen Nationalstaat aufgebaut hat. Er nahm die tribal orientierte Föderation der Kolonialzeit und schuf daraus einen zentralisierten Staat.

In der Kolonialzeit unterschied sich Tanganyika nicht von anderen Kolonien. Es war ein Konglomerat aus vielen verschiedenen Stammesadministrationen. Die Kolonialverwaltung teilte die Bevölkerung in eine Vielzahl von Stämmen und Rassen. Die Rassen (die von Außen kamen) wurden gemäß bürgerlichen Rechts regiert, die Stämme unterlagen dem Gewohnheitsrecht. Nyereres großes Werk war es, eine einheitliche gesetzliche und administrative Struktur geschaffen zu haben. Jeder Tansanier, jede Tansanierin stand unabhängig von Stamm und Rasse unter demselben Gesetz. Damit schuf er eine nationale Staatsbürgerschaft.

Ein anderes aufschlussreiches Beispiel aus der Region ist Uganda in der Zeit des Buschkrieges von 1980 bis 1986. Die frühe National Resistance Army (NRA) von Yoweri Museveni hatte viel von Nyerere gelernt. Sobald ein Dorf im Luwero-Dreieck befreit war, berief die NRA Dorfräte und Komitees. Die zentrale Frage war: Wer darf wählen und wer kann sich wählen lassen?

Die koloniale Tradition hatte den jeweiligen "Eingeborenen" lokale Rechte gewährt. Aber damit war die Hälfte der lokalen Bevölkerung ausgeschlossen, da diese teils aus Ruanda, teils aus dem Norden eingewandert war. Die Antwort der NRA war, dass jeder, der im Dorf lebt, das Recht hat, am Entscheidungsprozess teilzunehmen - unabhängig von seiner Herkunft. Die Residenz zählte und nicht die Ethnie. Sobald jedoch die Macht im Staat gesichert war, wurde dieses Prinzip fallen gelassen. Die National Resistance Movement (NRM), der politische Flügel der NRA, wählte das Konzept der tribal homelands zum Kernprinzip der neuen Regierung. Jeder Stamm (in manchen Regionen des Landes sogar jeder Klan) hat seine eigene Administration. Dadurch multiplizierte sich die Anzahl der Bezirke in Uganda im letzten Jahrzehnt. In der Folge unterscheidet sich die Bevölkerung jedes Bezirks mehr und mehr zwischen Einheimischen und Fremden. Die ersteren mit Rechten ausgestattet, die letzteren nicht. Uganda könnte schnell zum neuen Nigeria werden.

Ugandas politische Landschaft ähnelt heute mehr der Kenias als der Tansanias. Im unabhängigen Kenia wurde das geistige Fundament der von der Kolonialmacht übernommenen Staatsmacht nie in Frage gestellt. Die Folgen sah man im Rift Valley, das nach den umstrittenen Wahlen von 2007 eine Welle von Gewalt erlebte. Auch hier heizte die Fragen die Gewalt an, wer einheimisch ist und wer das Recht auf Land hat. Entsprechend sagen in der Landfrage die einen, Land gehört den eingeborenen Stämmen, ist Teil des "tribal homeland". Die anderen sagen, es gehört der Nation, der Gesellschaft.

Ähnlich liegt die Ursache des Konflikts in Darfur, der sich nach den Dürren in den 1980er Jahren zu einem Bürgerkrieg zwischen pastoralen und bäuerlichen Stämmen auswuchs. Viehzüchter, die in den Süden drängten, wurden von den Ansässigen aufgefordert, das Land zu verlassen, weil es ihr tribal homeland sei. Die Züchter aus dem Norden antworteten darauf: Wir sind Bürger des Sudans, und dieses Land ist ein Teil des Sudan.

Wie sollten wir uns zwischen diesen beiden Ansichten, zwischen der Berufung auf den Stamm und der Berufung auf die Nation, entscheiden? Beide Ansichten haben ihre eigene Geschichte. Der tribale Anspruch greift auf die koloniale Vorstellung zurück, die andere auf den Nationalismus der postkolonialen Zeit. Um eine Wahl zu treffen, müssen wir vom Konzept des Individualrechts zum Konzept der Demokratie wechseln, von der Sprache des Rechts auf die der Gerechtigkeit. Das bedeutet konsequentes Denken im Sinne der Mehrheit. Wir sollten uns nicht von der Ideologie des Marktes vereinnahmen lassen und darüber die Gerechtigkeit vergessen.

Eine Gemeinschaft oder Gesellschaft kann nicht überleben, wenn sie das Prinzip des Rechts - und damit das Prinzip des Marktes - überhöht und über das Recht der Gemeinschaft stellt. Wir müssen einen Ausgleich finden zwischen Recht und Gerechtigkeit; zwischen freiem Markt und den Ansprüchen der Bürger.

Ostafrika kennt zwei verschiedene Arten von postkolonialem Bürgerrecht: territorial oder ethnisch. Wenn wir eine politische Föderation wollen, brauchen wir ein gemeinsames Staatsbürgerschaftsrecht. Wie wird dieses aussehen? Wenn wir die Frage nach der Staatsbürgerschaft den Mitgliedsstaaten überlassen, wie wir es in der Landfrage getan haben, wird Ostafrika keine politische Föderation werden, sondern eine Konföderation von Staaten, die auf ihre Souveränität pochen.


Pambazuka News, Issue 539, 14.7.2011

Der Autor ist Direktor des Makerere-Instituts für Sozialforschung in Uganda.

Der Beitrag ist eine gekürzte Übersetzung einer Rede auf dem "East African Legislative Assembly Symposium" am 30. Juni 2011 in Arusha, Tansania.


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Quelle:
afrika süd - zeitschrift zum südlichen afrika
39. Jahrgang, Nr. 5, September/Oktober 2011, S. 35 - 37
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Januar 2012