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AFRIKA/820: Staatszerfall und gescheiterte Eliten? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2010

Staatszerfall und gescheiterte Eliten?

Ein Erklärungsversuch

Von Michèle Auga


Einen Tag nach dem Überfall auf die Fußballmannschaft Togos in Angola schrieb die FTD: "Fünf Monate vor Beginn der ersten Weltmeisterschaft auf dem Schwarzen Kontinent hat ein Terroranschlag Afrikas Fußball bis ins Mark getroffen - und die Diskussion um die Sicherheit von Kickern und Zuschauern neu belebt." Demokratisierungsfortschritte und extreme politische Gewalt liegen in Afrika oft nah beieinander.


Im Vergleich zu Deutschland - wenn auch nicht z.B. zu Venezuela - verzeichnet Südafrika tatsächlich hohe Kriminalitätsraten. Hierunter leiden jedoch die Townships und weniger die Touristenhochburgen. Weshalb also steht das Thema "Gewalt in Afrika" so hoch im Kurs? Weshalb ist unser Bild von "Afrika" geprägt von Kriegen, Hunger und Epidemien und weniger davon, welche Erfolgsgeschichten zu berichten sind? Kaum ein anderer Kontinent scheint so sehr dafür geeignet, partikulare, sehr komplexe Wirklichkeiten in knapp konstruierte Weltbilder zu projizieren. Obwohl "Afrika" von jeher nur im Plural existierte und als kulturelle oder politische Einheit nie bestanden hat, wurde es afrikanisiert. 53 Staaten, über 3.000 verschiedene Bevölkerungsgruppen und mehr als 2.000 Sprachen haben es nicht davor bewahrt.

Ein oberflächlicher Blick stimmt in der Tat pessimistisch. 2009 konnte ein Drittel aller bewaffneten Konflikte in Afrika verortet werden. Von insgesamt 43 absolut armen Staaten befanden sich 2008 allein 30 in Afrika, obwohl es pro Kopf die höchste Entwicklungshilfe erhält. Weltbankdaten sprechen von einem Gesamtvolumen der Auslandsschulden von 214 Mrd. US-Dollar. Trotz der oft reichen Rohstoffvorkommen verschlechtern sich die Terms of Trade. Länder, die früher als Kornkammern galten, importieren heute Nahrungsmittel.

Infolge der weltweiten Wirtschaftskrise befindet sich der Kontinent erneut am Scheideweg. Dabei stellen afrikanische Gesellschaften immer wieder ungeheure Kapazitäten zur Bewältigung ständiger Krisen unter Beweis, indem sie ihre Fähigkeiten anpassen und dabei zum Teil sehr kreativ mobilisieren. Ihre differenzierte Analyse könnte den Blick für ungeheure Leistungen des sozialen Wandels öffnen und dem weit verbreiteten Afrika-Pessimismus etwas entgegen setzen.

Die Beantwortung der Frage, warum es seit dem Ende der Kolonialzeit nicht gelungen ist, die strukturelle Unterentwicklung zu überwinden, steht jedoch weiterhin im Raum. Aus der Fülle der verschiedenen Ursachen, zu denen die Kolonial- und Wirtschaftsgeschichte, geografische Bedingungen, politische Entwicklung, Außenbeziehungen oder gar Fragen der Geschlechterordnung gehören, sollen im Folgenden zwei Erklärungsstränge herausgegriffen werden.


Vom "Stamm" zur "Nation" zur marktwirtschaftlichen Demokratie?

Sich mit Fragen der Gesellschafts- und Staatswerdung auf dem afrikanischen Kontinent zu befassen, verlangt in erster Linie gerechte Maßstäbe und ein Absetzen der europäischen Brille, ohne danach gleichsam blind in die Essentialismusfalle zu tappen.

Kriege waren auch in Europa lange ein Phänomen. Nach dem Westfälischen Frieden entwickelten sich jedoch Gesellschaften, die einen wesentlichen Katalysator der "Modernisierung" hatten: die Verbindung von Profitmaximierung und Arbeitsteilung. Je weiter die soziale Differenzierung voran schritt, desto dringender wurde ein staatliches Gewalt- und Steuerungsmonopol. Lange galt diese Form der Gesellschaftsevolution als "innovativ" und vor allem als uneingeschränkt erfolgreich. Die Modernisierungstheorie suchte das Modell nach Afrika zu übertragen. Irgendwann würden auch dort die angeblich kulturell homogenen, voneinander getrennten, quasi "biologisch" der Nation vorgeordneten "Stämme" in dieser aufgehen. Dem nation-building würde das state-building folgen. Afrikanische Traditionen und Wertvorstellungen waren nichts anderes als Hindernisse für den take off des ökonomischen Wachstums.

In der "afrikanischen Realität" wiesen die Gesellschaften, gemessen an der Vielzahl ihrer jeweiligen Bevölkerungsgruppen und Sprachen, einen sehr viel höheren Grad an Heterogenität auf als in Europa. Anstelle eines kapitalistischen Wirtschaftssystems waren Patronagenetzwerke vorzufinden, in der die Solidarität des Einzelnen gegenüber der eigenen Gruppe höher zu bewerten war als individuelles Profitstreben. Wo Grundbedürfnissicherung den Alltag bestimmte, war kein Platz für Fragen der höchstmöglichen Mehrung von Privateigentum. Stattdessen war ein kommunitaristisches Menschenbild vorherrschend, vom Menschen als einem sozialen Wesen, das in seine "Ethnie" oder seinen "Stamm" eingebunden ist. Dabei ist "Ethnizität" nicht statisch zu verstehen, sondern als das Produkt eines sich ständig wandelnden Prozesses der Wir-Gruppenbildung (Andreas Eckert). In einer Situation, in welcher der post-koloniale Staat - weil darauf nicht vorbereitet - keinerlei formale Rechtssicherheit und keinen Schutz des Individuums garantierte, sondern sich im Gegenteil oft selbst an den eigenen Bürgern vergriff, bot das Einordnen in den eigenen "Clan" mehr Sicherheit als eine individualistisch-liberale Gesellschaftsordnung. Der "Staat" ist hier nicht Garant bürgerlicher Freiheit oder gar Akteur einer sozialen Demokratie, sondern "unberechenbar", "alltäglich schikanös", "ein bewaffnetes Monster" (Rainer Tetzlaff/Cord Jacobeit).

Selbstverständlich hat dies Folgen für die Trennung von öffentlicher und privater Sphäre: Sie ist in vielen afrikanischen Gesellschaften oft nur rudimentär vorhanden. Informelle Gesellschaftsbeziehungen kreieren informelle Politik. Der Anreiz, der Verantwortung gegenüber der eigenen Familie/Gruppe gerecht zu werden, ist zwangsläufig größer als der, ein guter Politiker, eine gute Lehrerin oder ein guter Polizist zu sein. Dort, wo der Staat nicht einmal seine eigene Beamtenschaft menschenwürdig entlohnt, sondern vielfach ausbeutet, sollte vielleicht weniger von Korruption als von Notwehr die Rede sein (Thomas Bierschenk).

Eine tiefer gehende Analyse afrikanischer Gesellschaften erlaubt, die allgemeine Fortschrittsgläubigkeit der sozialen linearen Evolution zumindest einmal in Frage zu stellen. Inwiefern sind stattdessen Elemente einer bestimmten "afrikanischen" organischen Solidarität (Emil Durkheim) überlebenswert, weil sie es ermöglichen, sich an eine ständig ändernde (vor-koloniale, koloniale, post-koloniale, globalisierte) Umwelt anzupassen?


Afrika als Ort neuer Kriege

Lange Zeit war Afrika ein Ort von Stellvertreterkriegen (1945-89: 48 von weltweit 160). Seit kurzem ist jedoch ein anderer Trend erkennbar. Seit 1989 ist die Zahl der kriegerischen Konflikte signifikant gesunken. 2009 ist sie mit 11 im dritten Jahr hintereinander konstant geblieben. Obwohl die europäische Wahrnehmung eine andere ist, ist der zwischenstaatliche Krieg in Afrika nicht mehr existent. Das Problem liegt auf einer anderen Ebene. In vielen Ländern, wie z.B. im Sudan, wurde der "Staat" selbst zur Konfliktpartei. Sezessions- und Bürgerkriege bestimmen seither unser Bild. Als eine Ursache wird die Krise der Staatlichkeit genannt, denn der Staat ist das zentrale Ordnungsmodell internationaler Politik. In vielen Fällen Afrikas war der Staat aber nie wirklich existent. Schon die Grenzziehung war artifiziell. Der Staat existierte nur in der Hauptstadt und hatte keine Gewalt über sein restliches Hoheitsgebiet. In den allermeisten Fällen gab es nicht ein, sondern mehrere "Staatsvölker", und deren Sesshaftigkeit war nicht immer gegeben. De jure unabhängig, befanden sich viele Länder de facto in den Klauen der Supermächte. Welcher (vormals koloniale) "Staat" ist hier also "zerfallen"?

Weshalb erscheinen uns afrikanische Konflikte oft besonders grausam oder brutal? So genannte "neue" Kriege zeichnen sich eben nicht durch die Anwendung völkerrechtlich geregelter Methoden der Kriegsführung aus. Nicht nationalstaatliche Armeen, sondern paramilitärische Einheiten und kriminelle Banden treten einander gegenüber (Herfried Münkler). Zivilisten und Soldaten sind oft nicht zu unterscheiden, Kriegsverbrechen schwer zu verfolgen und damit sogar erst möglich. Das Resultat ist eine völlige Entstaatlichung von Gewalt. Diese Form von Auseinandersetzung ist aber nicht "typisch afrikanisch". Gewisse Formen der Entzivilisierung scheinen viel mehr an Staatszerfall gekoppelt, wie der Fall Srebrenica gezeigt hat.

Die Annahme einer linearen Korrelation zwischen niedriger Entwicklung und einhergehender Kriegsneigung ist ebenso irreführend wie die These, wertvolle Ressourcen wie Gold und Diamanten führten zu Kriegsökonomien. Dies wird durch die Datenlage nicht gestützt (Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung/AKUF). Sicherheit entsteht eben nicht allein durch die Reduktion von sozialer Ungleichheit. Sicherheit entsteht erst durch ein Vertrauen in das Zusammenleben, wenn - für den gesellschaftlichen Wandel notwendige - Konflikte eingegangen werden können, ohne dabei Gewalt befürchten zu müssen. Hierzu bedarf es Normen und Institutionen sowie Methoden, Instrumente und Verfahren, die Gewaltanwendung verhindern. Die Akzeptanz des Gewaltmonopols des Staates ist dafür eine Grundvoraussetzung.


State building - eine Überlebensfrage

Der Begriff des "Staatszerfalls" wird im afrikanischen Kontext jedoch zu bedenkenlos gebraucht. Der Ausdruck ist problematisch, denn failing deutet auf eine Linearität hin, die der Wirklichkeit nicht gerecht wird, wie die "wiederauferstandenen" Staaten Uganda und Sierra Leone gezeigt haben. Staatszerfall ist ein Prozess, kein Zustand. Der Erosionsgrad kann anhand von quantitativen Daten gemessen werden und ist daher weder inhärent "afrikanisch" noch unvorhersehbar. Auch afrikanische bedrohte Staaten können über ein Set von Interventionsinstrumenten, also über aktives state building, gestärkt werden. Mit anderen Worten: In Afrika ist noch viel "Staat zu machen".

Afrika hat sich verändert und es verändert sich weiter. Mutiger demokratischer Aufbruch und abgrundtiefe politische Gewalt liegen dabei oft nah beieinander. Nicht zu übersehen ist jedoch, dass in relativ kurzer Zeit irreversible Reformprozesse eingesetzt haben und sich eine grundsätzlich positive Einstellung zur Mehrparteiendemokratie in den Bevölkerungen entwickelt hat. Während das Demokratiemodell in Europa stark an Marktwirtschaft und Wohlstand gekoppelt war, ist der Wandel in vielen afrikanischen Ländern auch unter extremen Armutsbedingungen möglich gewesen. Es ist an der Zeit, dies anzuerkennen.


Michèle Auga (* 1967) ist Politikwissenschaftlerin und leitet das Afrika-Referat der FES.
michele.auga@fes.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 6/2010, S. 30-33
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juni 2010