Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → AUSLAND

ASIEN/591: Warum Chinas Arme Frauen sind (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 109, 3/09

Die vergessene Perspektive
Warum Chinas Arme Frauen sind

Von Astrid Lipinsky


Armutsbeseitigung? Darüber reden Chinas Führung und die gesteuerten Medien gerne. Stolz lässt man sich von den Vereinten Nationen dafür loben, dass China die Nummer Eins der Millennium Development Goals (MDGs) - Halbierung der Zahl der Armen von 1990 - erreichen wird bzw. längst erreicht hat. Im Folgenden geht die Autorin auf einige Gender-Details der derzeit in Armut lebenden chinesischen Bevölkerung und auf deren Zukunftsperspektiven ein.


Die MDGs an sich: China liebt sie, denn China liebt Zahlen und hat davon eine unübersehbare, wenn auch wenig aussagekräftige Menge. Einige dieser Zahlen enthalten die MDG-Fortschrittsberichte, die das China-Büro der Vereinten Nationen und das chinesische Außenministerium 2003, 2005 und 2008 veröffentlicht haben.

Der 78-seitige Bericht von 2008 betont, dass China selbstverständlich nicht im internationalen Dienst aktiv wird. Vielmehr hat China stets - und bis zu den MDGs im Gegensatz zu den internationalen Organisationen der Entwicklungshilfe - die Ansicht vertreten, dass allein Wirtschaftswachstum Armut mindert. Den Beweis hat das Reformchina gleich mitgeliefert: Abnahme von Chinas armer Bevölkerung um 600 Millionen seit 1978. 30 Jahre Reformen sind also eine Feier wert; und das ist der Grund dafür, dass China 2008 einen neuen MDG-Bericht vorlegt.

Seit 1980, lange vor den MDGs, ist in China xiaokang, der "Kleine Wohlstand für alle", nationale Politik. Xiaokang ist Bestandteil der Wirtschaftsentwicklungspläne, die Ziele in Zahlen vorschreiben. Wie die MDGs. Aber Ziele in Zahlen vorschreiben, praktiziert China schon lange.


Von China lernen?

Früher hat China die Armut im eigenen Land anders gemessen als international üblich, mit der Begründung, in China sei das Überleben auch mit weniger als einem Dollar täglich zu sichern. Inzwischen ist China ein Schwellenland, das die globalen Standards akzeptiert und dessen Armut ihr Gesicht verändert. China gesteht in Nebensätzen ohne Untermauerung durch Zahlen ein, dass die Abnahme von Armut sich verlangsamt, dass Frauen überproportional betroffen sind und dass neuerdings Armut nicht nur in abgelegenen Dörfern, sondern auch in den Städten auftritt.

Die beeindruckenden Zahlen sagen wenig über bestimmte Frauengruppen: Nach einer neuen Studie in den armen Provinzen Guizhou (armutsmäßig eingestuft wie Haiti oder Sudan) und Yunnan haben über 80% der befragten Frauen unbehandelte gynäkologische Beschwerden. Da sie keine Krankenversicherung haben, ist die Behandlung im Krankenhaus undenkbar, weil unbezahlbar. So gut wie alle Frauen bekommen ihre Babys ohne ärztliche Hilfe zu Hause. Zwei Drittel der Frauen in den Städten, die in Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt sterben, sind Migrantinnen, obwohl sie nur 1O% aller Schwangeren stellen. Erheblich mehr Frauen als Männer sind im ungesicherten, ungelernten informellen Sektor tätig, der in China nicht Bestandteil der offiziellen Statistik ist. 40,6% der berufstätigen Frauen, aber nur 23,1% der Männer fallen in die niedrigste städtische Einkommensgruppe von unter 500 yuan (knapp 50 Euro) monatlich, weit unter dem städtischen Durchschnittsverdienst von zwischen 2.000 und 3.000 yuan. Vor der Krise (Zahlen von 2005) waren so gut wie keine Frauen in der Gruppe der höchsten Einkommen über 4.000 yuan vertreten. 85% der Frauen finden sich in den beiden untersten von sieben Einkommensgruppen mit einem Einkommen von weniger als 1.000 yuan monatlich. Die Zahlen berücksichtigen eventuell zwingend zu leistende Abgaben wie Standmiete oder den überteuerten Einkauf von Rohmaterialien nicht. Die Arbeitssuche von Frauen dauert länger als die von Männern. Arbeitgeber wollen trotz bester Qualifikation wegen zukünftiger Schwangerschaftskosten keine jungen Frauen, und, weil sie sich angeblich nicht mehr auf den Job konzentrieren, keine Mütter. Für die Regierung ist die Unterstützung armer Frauen billiger: die Kleinkredite, die für Frauen vorgesehen sind, lehnen Männer als zu niedrig ab. Die Wiederqualifikation von arbeitslosen Frauen zielt auf unqualifizierte, niedrigst bezahlte und ungesicherte Arbeit im Privathaushalt. Das Armutsrisiko und die Nichtgewährleistung von MDGs wie gesundheitliche Mindestversorgung, sichere, professionell begleitete Geburt, Senkung der Mutter-Kind-Sterblichkeit und Grundbildung für alle sind also besonders für Frauen in armen ländlichen Regionen und für Land-Stadt-Migrantinnen besonders hoch. Die chinesischen Berichte sind in dieser Hinsicht dringend ergänzungs- und konkretisierungsbedürftig. Dass es in China Armut - auch absolute Armut und Hunger (ca. 9% der Bevölkerung - Stand 2007) - gibt, erkennt grundsätzlich auch die chinesische Regierung an. Dass v.a. für Frauen das Risiko des Rückfalls in die gerade erst überwundene Armut hoch ist, versteckt der offzielle Bericht in einem Nebensatz. Die Pflicht von Chinas Frauenlobby und ihren zahlreichen internationalen GeldgeberInnen wäre es deshalb, Chinas (wenn auch verminderter) Armut ein Gesicht zu geben. Warum es ein weibliches Gesicht ist, zeigen die folgenden Beispiele.


Armutsfall(e) Frau

Als die Frau von Jungbauer Xu (üblicherweise werden verheiratete Frauen über die Familie ihres Mannes identifiziert) 1984 geboren wurde, war das Land in ihrem Dorf schon zur privaten Nutzung verteilt. Sie selbst hatte kein Stück, weil sie ja sowieso ins Dorf ihres Mannes wegheiraten würde, was sie auch tat. Im Dorf ihres Mannes gab es eine Fabrik; zwar war die Luft schlecht und das Wasser schmutzig, aber er verdiente ordentlich Geld. Bis zum Unfall, bei dem er ein Bein verlor. Natürlich zahlt die Fabrik keine Entschädigung. Die Frau von Bauer Xu wird ihre Tochter nicht in die Schule schicken, denn die kostet Geld. Alle Ersparnisse sind aufgebraucht, das Land verdorben, seit die Fabrik es genutzt hat. Ihr Sohn hustet seit seiner Geburt und wäre neulich beinahe erstickt. Sie kann ihn nicht eine Minute alleine lassen. Aktuell bittet sie reihum die Nachbarinnen um das tägliche Essen. Ja, eigentlich bettelt sie, denn die Winterkleidung, das Bettzeug und die Möbel, die sie bisher im Tausch anbieten konnte, sind aufgebraucht.


Frau A, verheiratet, ein Kind, 45 Jahre

Frau A lebt in der Stadt, aber als sie zur Schule hätte gehen sollen, schickte Mao Zedong ihre ganze Klasse zur Arbeit aufs Land. Mit einem einzigen Jahr Mittelschule und keiner Berufsausbildung reichte es gerade zur ungelernten Fließbandarbeit in einem Kommunalbetrieb. Der war zwar klein und das Gehalt niedrig, aber sie war stolz darauf, sozialistische Arbeiterin zu sein. 2003 machte der Betrieb bankrott, da hatte A schon über ein Jahr kein Gehalt bekommen. Versichert war sie nicht. A wollte nichts als wieder arbeiten, zumal ihr Kind auf die Mittelschule kam und jetzt Schulgebühren fällig wurden. Sie wollte ins Büro, aber das Arbeitsamt sagte ihr, dafür fehle ihr die Schulbildung, sie sei auch zu alt, um Büroarbeit zu lernen. Sie solle einen Frühstücksstand aufmachen. Der Stand und der Ofen fraßen As gesamte Ersparnisse. Sie musste Tag und Nacht offen haben, aber trotzdem war der Verdienst minimal. 2007 verbot die Stadt alle offenen Küchen. Auf ihre Bewerbungen hört A jetzt, sie sei zu alt. Die Hilfe zum Mindestunterhalt wird manchmal ausgezahlt und manchmal nicht. Ihr Kind ist weg, für die Schule war sowieso kein Geld da. A putzt jetzt die Stufen zum Bezirksregierungsgebäude. Lohn bekommt sie nicht, aber wenn nachmittags die Kantinenabfälle vor die Tür gestellt werden, ist sie nah dran.


Frau B, verwitwet, ein Kind, 45 Jahre

Das Stück Land haben die Brüder ihres Mannes ihr weggenommen. Das Mastschwein hat sie längst verkauft, das ging für den zweiten Krankenhausaufenthalt ihres Mannes drauf. Ihre Tochter und sie leben von dem, was sie auf dem Stückchen Vorgarten anbauen können. Die Tochter ist ohnehin bald weg, gerade hat Frau B ihre Heirat festgemacht. Mit dem Brautpreis konnte sie einen Teil der Schulden beim Dorf abbezahlen, denn sonst hätten die sich geweigert, ihren Mann ordentlich zu begraben. Als Mitgift wird sie der Tochter ihre Bettdecke geben, die sie jetzt im Sommer nicht braucht. Wie es im Winter weitergehen soll, mag sie sich nicht vorstellen. Vielleicht wird sie Gift nehmen, das tun viele Frauen im Dorf.


Webtipps:
Chinas MDG-Bericht 2008:
http://www.undp.org.cn/modules.php?op=modload&name=News&file=article&catid=18&topic=4&sid= 43S4&mode=nocomments&order=O&thold=O
Selbstmorde in China:
http://news.bbc.co.uk/go/pr/fr/-/2/hi/asia-pacific/6711415.stm


Zur Autorin:
Astrid Lipinsky ist Universitätsassistentin am Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien mit den Schwerpunkten Gender und Recht. Sie lebt in Wien.


*


Quelle:
Frauensolidarität Nr. 109, 3/2009, S. 16-17
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Senseng 3, 1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-406
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org

Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro;
Jahresabo: Österreich und Deutschland 20,- Euro;
andere Länder 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 31. Oktober 2009