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ASIEN/668: Afghanistan - Neun Jahre US-Präsenz, Misstrauen in der Bevölkerung geblieben (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 8. Oktober 2010

Afghanistan:
Neun Jahre US-Präsenz - Misstrauen in der Bevölkerung geblieben

Von Jim Lobe


Washington, 8. Oktober (IPS) - Neun Jahre nach der US-Militärintervention in Afghanistan stoßen die US-amerikanischen Truppen bei den Einheimischen weiterhin auf tiefes Misstrauen. Zu diesem Ergebnis kommt ein neuer Bericht der in New York angesiedelten Stiftung 'Open Society Foundations' (OSF), dem Dutzende von Interviews und Gruppengesprächen in sieben Provinzen im Westen, Osten und Süden Afghanistans zugrunde liegen.

Der Untersuchung zufolge sprechen die befragten Afghanen den Truppen unter US-Kommando eine ebenso große oder sogar größere Schuld wie den Taliban für das Versinken des Landes in Gewalt und Instabilität zu. Schon im Titel des 25 Seiten umfassenden Berichts der vom Multimilliardär und Philanthropen George Soros gegründeten OSF ist von einem "Vertrauensdefizit" die Rede.

Die Wahrnehmungen von Öffentlichkeit und Politik im Westen auf der einen und der afghanischen Bevölkerung auf der anderen Seite klafften immer weiter auseinander, heißt es. Dies betreffe sowohl die Absichten der internationalen Truppen als auch ihre Erfolge.

Bemerkenswerterweise hat das in den letzten Jahren zu verzeichnende Bemühen sowohl der US-Streitkräfte als auch derjenigen anderer ausländischer Staaten um eine Schonung der Zivilbevölkerung bzw. eine Verminderung der Opferzahlen nicht dazu geführt, dass Afghanen den Westen inzwischen weniger als gleichgültig oder sogar böswillig empfinden.


Zweifelnde US-Öffentlichkeit

Einem im August veröffentlichten UN-Bericht zufolge trugen die Taliban und ihre Verbündeten die Verantwortung für 76 Prozent der mehr als 3.000 zivilen Opfer, die in den ersten sechs Monaten des Jahres 2010 zu beklagen waren. Auf das Konto der Truppen unter US-Kommando gingen dagegen zwölf Prozent - im ersten Halbjahr 2009 waren es noch 30 Prozent gewesen.

Die Untersuchung bemängelt allerdings, dass die Kurskorrekturen häufig nicht ausreichten oder zu spät kämen. Schließlich stehe man einer Wand aus Misstrauen gegenüber, die sich über neun Jahre in der afghanischen Bevölkerung aufgebaut habe. Dies erschwere jeden Versuch der Aussöhnung oder Wiederintegration von Talibankämpfern, wie immer dieser auch konkret aussähe.

Der Bericht wird außerdem zu einem Zeitpunkt veröffentlicht, an dem die amerikanische Öffentlichkeit immer mehr am Ausgang des Krieges zweifelt, welcher inzwischen der längste ist, den die USA in ihrer Geschichte geführt haben.

Immer neue Nahrung erhält dieser Pessimismus durch unaufhörliche Berichte über Korruption auf höchsten afghanischen Regierungsebenen, in die auch Staatpräsident Hamid Karsai und seine Familie verwickelt sind. Hinzu kamen Manipulationen bei der Parlamentswahl im September.

Dies alles ist vor dem Hintergrund einer deutlichen Verschlechterung der Beziehungen zwischen Washington und Pakistans Militär, insbesondere dessen Geheimdienst, zu sehen, dem die USA eine Unterstützung der Taliban vorwerfen. Experten weisen darauf hin, dass der Krieg in Afghanistan nicht gewonnen werden kann, solange Pakistan den Taliban Unterschlupf gewährt, und sei es aus Duldung. Der Juli 2011 rückt unterdessen immer näher: Dann wollen die USA mit dem Rückzug ihrer 100.000 Mann starken Truppen beginnen.


Negative Stereotypen

Dem OSF-Bericht zufolge hat sich bei den Afghanen der Eindruck verfestigt, Angehörige der internationalen Truppen gingen grundsätzlich straffrei aus. Dies trage zur Herausbildung negativer Stereotypen bei. Viele der Befragten hätten sogar geargwöhnt, die internationalen Truppen unterstützten zumindest indirekt die Aufständischen.

Um Vertrauen erneut aufzubauen, empfiehlt der Bericht eine Reihe von Maßnahmen. Dazu zählen größere Anstrengungen, das Leben der Zivilbevölkerung zu schonen. Auch sollen die US-Truppen von der Taktik abrücken, ihre Angriffe auf Taliban-Kämpfer vor allem nachts durchzuführen. Ebenso wird mehr Transparenz bei der Untersuchung von Übergriffen auf Afghanen gefordert.

Dem Report zufolge wäre ferner eine größere Vorsicht bei der Bewaffnung und Ausbildung lokaler Milizen angebracht. Zudem wird dazu geraten, die neue Strategie der Nähe der ausländischen Truppen zur Bevölkerung zu überdenken, solange der Schutz von Zivilisten vor Übergriffen oder 'Kollateralschäden' nicht gewährleistet ist. (Ende/IPS/bs/2010)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Oktober 2010