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ASIEN/910: China - Die Zeit, einige Dinge zu tun (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 144/Juni 2014
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Die Zeit, einige Dinge zu tun

Was Chinas ökonomischer und politischer Aufstieg für den Rest der Welt bedeutet

von Matthew D. Stephen



Kurz gefasst: China hat sich in die Weltwirtschaft integriert - mit dem Ziel, die Macht des Staates weiter zu stärken. Die Kombination aus transnationaler Integration und Staatskapitalismus bestimmt sein internationales Verhalten. China fügt sich in das globale System und die Institutionen der Weltordnungspolitik ein, betont jedoch gleichzeitig die Souveränität als Kernprinzip der internationalen Beziehungen, baut seine militärische Macht aus und fordert eine Anerkennung auf Augenhöhe mit dem Westen. Chinas Akzeptanz des internationalen Systems geht einher mit wachsenden Forderungen an dieses System.

In den letzten drei Jahrzehnten hat China die größte und schnellste Industrialisierungs- und Urbanisierungsphase der Geschichte erlebt, umwälzender noch als die industrielle Revolution, die Europa im 19. Jahrhundert erfasste. Seit Deng Xiaopings weitreichenden Wirtschaftsreformen wurden nach Angaben des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen rund 500 Millionen Menschen aus der Armut herausgeführt - die vermutlich größte wohlfahrtsstaatliche Leistung aller Zeiten. Die Urbanisierung hat die Geografie des chinesischen Festlands derart tiefgreifend verändert, dass in China heute mehr Menschen in Städten leben als in ganz Europa und Nordamerika zusammen.

Die globale Wirtschaft verlegt ihr Zentrum in Richtung Ostasien, und ein Bogen aus moderner Industrie und Urbanisierung umspannt den japanischen Archipel, die Südhälfte der koreanischen Halbinsel und die Küste Festland-Chinas bis hin zum Südchinesischen Meer. Und ein Ende des chinesischen Wirtschaftswunders ist nicht abzusehen. Innerhalb der BRICS-Gruppe der aufstrebenden Volkswirtschaften bildet China aufgrund des gigantischen Ausmaßes seines wirtschaftlichen Wiederaufstiegs eine Klasse für sich. China ist von der Peripherie ins Zentrum der Weltwirtschaft gerückt.

Der Aufstieg Chinas fällt mit der Globalisierung zusammen. Ökonomische Vorgänge machen nicht mehr Halt vor nationalstaatlichen Grenzen; innen- und außenpolitische Prozesse sind immer stärker miteinander verwoben. Deshalb ist der Wirtschaftsaufstieg nicht allein Chinas Angelegenheit, sondern ein inhärent internationaler Vorgang, der praktisch alle wichtigen internationalen Fragen berührt, von Großthemen wie der Aushandlung eines globalen Abkommens zum Klimawandel bis hin zu Alltagsfragen wie dem Preis von Fisch. Dieser Beitrag zeigt die "politischen" Dimensionen des chinesischen Aufstiegs auf, die erwartungsgemäß umstritten sind. Manche treibt die Sorge über den Durchsetzungswillen der Chinesen um, und die Wiederkehr eines glaubwürdigen militärischen Gegengewichts zu den Vereinigten Staaten befördert Spekulationen über einen bevorstehenden Konflikt zwischen den Großmächten. Andere sehen Chinas pragmatisches Verhalten und schließen daraus, dass es sich weitestgehend mit der bestehenden Ordnung arrangiert und auf internationale Integration hinarbeitet.

Keine dieser Sichtweisen erfasst die Ironie und das Neue am chinesischen Aufstieg. Die Ironie besteht darin, dass Chinas Fähigkeit, die internationale Ordnung herauszufordern, exakt in dem Maße zugenommen hat, wie sein Interesse daran, es tatsächlich zu tun, abgenommen hat. Je mehr China die bestehende Ordnung akzeptiert, desto größer wird seine Fähigkeit, diese Ordnung herauszufordern. Das Neue besteht in Chinas Strategie zur Transformation der Weltordnung. Das Land hat seine revolutionäre Tradition abgelegt. Genau wie die anderen aufstrebenden Mächte hat sich die chinesische Führung entschieden, die Weltordnung von innen heraus zu reformieren. Doch welche Aspekte des Systems möchte China erhalten und welche reformieren? Um dies zu verstehen, müssen wir die Entwicklung Chinas zunächst in ihren sozioökonomischen Kontext einordnen.

Chinas Ansatz zur wirtschaftlichen Modernisierung lässt sich als eine Form des integrierten Staatskapitalismus verstehen. Dabei handelt es sich um eine Neuauflage staatlich gelenkter Entwicklung, allerdings durch zunehmende Einbindung in transnationale ökonomische Strukturen. Darin unterscheidet er sich vom Weg vieler Entwicklungsländer in den 1950er und 1960er Jahren, als das Ziel darin bestand, eine von den früheren Kolonialmächten unabhängige Nationalökonomie zu schaffen. Aber Chinas Weg unterscheidet sich auch vom neoliberalen Washington-Konsens des Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und des US-Finanzministeriums, und zwar vor allem dadurch, dass die transnationale Integration von einem starken Staat flankiert wird. Während die chinesische Wirtschaft ihre grundlegende Erneuerung durch die Interaktion mit der globalen Wirtschaft erfährt, hat der chinesische Staat unter Führung der Kommunistischen Partei eine aktive Rolle bei der Steuerung ihrer transnationalen Integration übernommen.

Für den Export ihrer Waren und Dienstleistungen hängt die chinesische Wirtschaft heute stark vom Zugang zu ausländischen Märkten ab; um Zugang zu moderner Expertise und Technologie zu erhalten, braucht sie den Zustrom ausländischer Direktinvestitionen. Der Anteil des Gesamtaußenhandels am Bruttoinlandsprodukt ist in China für die Größe und das Entwicklungsniveau des Landes ungewöhnlich hoch, und ausländische Direktinvestitionen im Land machen rund ein Viertel des chinesischen Bruttoinlandsprodukts aus. Chinas Version des Kapitalismus ist mithin transnational integriert. Gleichzeitig wurde diese Integration nicht durch ein unabhängiges Bürgertum erreicht. Im modernen China ist das Bürgertum zu weiten Teilen eine Ad-hoc-Schöpfung kommunistischer Parteikader. Selbst angeblich private Geschäftsleute sind oft fester Bestandteil des Parteienstaats, und in der chinesischen Geschäftswelt gelten persönliche Beziehungen und Netzwerke (guanxi) mehr als rechtliche Kodizes.

Das Phänomen, dass Parteimitglieder gleichzeitig als private Unternehmer auftreten, wird als "Tragen einer roten Mütze" bezeichnet. Ein Großteil der chinesischen Wirtschaft besteht aus Unternehmen, die offen dem Staat gehören, sowie Tausenden von Quasikollektiven in den kleinen Städten und Dörfern. Zum chinesischen Weg gehören auch das Auswählen von Gewinnern und die Bevorzugung global wettbewerbsfähiger Unternehmen gegenüber dem Inlandskonsum, zum Beispiel durch das Beibehalten eines relativ niedrigen Währungsniveaus. Damit sorgt der Staat auch für ein gewisses Maß an sozialer Stabilität und menschlichem Wohlergehen. Allgemein hat sich China fleißig und selektiv in die Weltwirtschaft integriert, und zwar um die politische Schlagkraft des Parteienstaats zu stärken, nicht um sie zu schwächen.

Diese neue Kombination von transnationaler Integration im Dienste einer staatlich gelenkten Modernisierungsoffensive hat weitgehende Folgen. Vier Implikationen dieser Entwicklung können an dieser Stelle beleuchtet werden.

Erstens hat die transnationale Integration dazu geführt, dass China zu einem vollwertigen Mitglied der Institutionen der Weltordnungspolitik avanciert ist. Das Land hat sich für einen Modus der wirtschaftlichen Entwicklung entschieden, der in hohem Maße auf der bestehenden Weltwirtschaft und ihren Institutionen basiert, anstatt sich davon abzugrenzen. Wie andere aufstrebende Volkswirtschaften erfahren mussten, wären die Kosten der Autarkie heute einfach zu hoch, um eine tragfähige Entwicklungsperspektive zu bieten. Und der globale Markt, auf den die aufstrebenden Länder angewiesen sind, erfordert einen zunehmend komplexen rechtlichen und ordnungspolitischen Rahmen, um funktionieren zu können. Dieser reicht von gemeinsamen Industriestandards bis hin zu grundlegenden zwischenstaatlichen Institutionen wie der Welthandelsorganisation (WTO).

Auch wenn China sich zweifellos über den Startvorteil des liberalen Westens ärgert, kann es doch ein Mitspracherecht über die Regeln der Weltwirtschaft nicht durch einen Rückzug auf den Nationalstaat erreichen. Bis 1971 war die Volksrepublik China nicht einmal Mitglied der Vereinten Nationen; heute ist sie Mitglied in jeder wichtigen internationalen Institution. Das Streben nach Einfluss in der modernen Welt erfordert, dass China, wie andere Länder auch, sich in die von den etablierten Mächten über die letzten Jahrhunderte und Jahrzehnte improvisierten Systeme der Global Governance einbringt. Die Aufgabe für China und andere aufstrebende Mächte besteht darin, in diesen Institutionen den Einfluss zu erlangen, der ihnen nach eigenem Empfinden zusteht.

Eine zweite Implikation des in China praktizierten integrierten Staatskapitalismus besteht darin, dass China andere Schwerpunkte setzt, was die Grundregeln und -prinzipien internationaler Institutionen betrifft. Stärker als der liberale Westen betont China, gemeinsam mit den anderen Mitgliedern des BRICS-Forums, das Prinzip der Souveränität. Erinnerungen an den aggressiven Kolonialismus und ungleiche Verträge verstärken diesen Trend. Ähnlichkeiten finden sich auch hinsichtlich der Frage nach dem angemessenen Verhältnis von Individuum und Kollektiv sowie bezüglich der Rolle von Märkten. Staatliche Kontrolle und Sicherheit sind in einem Land von der Größe eines Kontinents und mit der weltweit größten Bevölkerung seit jeher eine Herausforderung. Obwohl China auf 4.000 Jahre Selbstregierung zurückblicken kann, war drohende soziale Instabilität doch der ewige Fluch von Kaisern, die ihr göttliches Mandat verlieren.

Dementsprechend betont China, dass Liberalisierung nicht auf Kosten der Stabilität stattfinden kann und dass die Menschenrechte nicht nur politische, sondern auch soziale und wirtschaftliche Rechte umfassen. In diesem Punkt steht Chinas Vorliebe für das globale Menschenrechtsregime im Widerspruch zu den Präferenzen der westlichen Staaten und der meisten globalen (westlichen) zivilgesellschaftlichen Akteure. In ähnlicher Weise verfolgt China keinen dogmatischen, sondern einen pragmatischen Kurs, was die Rolle des Markts betrifft - getreu Deng Xiaupings Devise, dass "es keine Rolle spielt, ob die Katze schwarz oder weiß ist, solange sie nur Mäuse fängt". Gemäß der chinesischen Vorstellung sind Finanzmärkte dazu da, der Industriepolitik zu dienen und nicht umgekehrt.

Drittens gehören zu Chinas Staatsaufbauprojekt erneuerte Anstrengungen für seine militärische Stärke. Die Volksbefreiungsarmee ist und bleibt eine Hauptsäule des Parteienstaats, und der Vorsitz der Zentralen Militärkommission ist eine Schlüsselposition für die Ausübung persönlicher Autorität innerhalb der Kommunistischen Partei. Diese Stärkung des Militärs ist jedoch nicht inhärent bedrohlich. Durch die ökonomische Globalisierung sind wirtschaftliche Prozesse heute weniger territorial bestimmt. Chinas transnationale wirtschaftliche Integration gewährleistet einen Machtzuwachs, ohne dass ausländische Territorien oder Kolonien erworben werden müssen. Leider verhindert dies nicht, dass einzelne Konflikte immer wieder aufflammen, meist als Ergebnis isolierter Restbestände aus dem Prozess der exklusiven Territorialstaatsbildung. Die Spannungen um Taiwan, um die chinesisch-indische Grenze und um kleinere Inseln im Ost- und Südchinesischen Meer sind besorgniserregend. Aber das Wesen des modernen Kapitalismus garantiert, dass solche Konflikte kein wesentliches Merkmal des Systems sind. Sie sind vielmehr deshalb von Bedeutung, weil sie Chinas nationales Selbstbild in Frage stellen.

Dies führt schließlich zu der eher subjektiven, aber deshalb nicht minder wichtigen Frage der Anerkennung. Ein aufstrebendes China hat seinen Wunsch geltend gemacht, als Großmacht auf Augenhöhe mit anderen Großmächten anerkannt zu werden. Innerhalb des Landes wirbeln nationalistische Stimmungen durch eine politische Kultur, in der die "ungleichen Verträge" während des "Jahrhunderts der Erniedrigung" noch lange nicht vergessen sind. Auf internationaler Ebene fordert China ein "neues Modell von Großmachtbeziehungen", das auf gegenseitigem Respekt beruht. Dieses Anliegen teilen auch die anderen aufstrebenden Mächte. Es kommt in Indiens Geschichte des antikolonialen Kampfes genauso zum Ausdruck wie im völkischen hinduistischen Nationalismus. Und Russlands neues Selbstbewusstsein ist kaum verständlich ohne das Wissen darum, dass es sich mit seinem reduzierten Status nach dem Ende des Kalten Kriegs nicht abfinden konnte. China und die anderen aufstrebenden Mächte verlangen einen Platz an der Sonne, und sie sind nicht bereit, die Bevormundung durch den Westen weiter zu tolerieren.

Chinas Machtzuwachs ging einher mit einer wachsenden Anerkennung der Grundregeln der internationalen Ordnung. Aber das Land versucht auch, das System von innen her zu reformieren und ist dazu auch zunehmend in der Lage.

China und der Westen werden sich deshalb offenbar immer uneiniger - allerdings über immer weniger Punkte. In den 1990er Jahren entstand eine Deng Xiaoping zugeschriebene Erklärung, die Chinas neue internationale Strategie in 28 Schriftzeichen zusammenfasste. Sie enthielt vier Kernmaximen: "Den rechten Augenblick abwarten, die eigenen Fähigkeiten verbergen, nicht die Führung übernehmen, aber einige Dinge tun." Nachdem ein Vierteljahrhundert lang die ersten drei Maximen im Vordergrund standen, sieht es nun so aus, als habe China sich stillschweigend der vierten zugewandt: einige Dinge tun.


Matthew D. Stephen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Global Governance. Er forscht über internationale politische Ökonomie, kritische internationale Theorie und aufstrebende Mächte. Han Xu steuerte hilfreiche Hinweise zu diesem Artikel bei.
matthew.stephen@wzb.eu


Literatur

Nel, Philip: "Redistribution and Recognition: What Emerging Regional Powers Want". In: Review of International Studies, 2010, Vol. 36, No. 04, pp. 951-74.

Stephen, Matthew D.: "Rising Powers, Global Capitalism, and Liberal Global Governance: A Historical Materialist Account of the BRICS Challenge". In: European Journal of International Relations (forthcoming).

Ten Brink, Tobias: Institutional Change in Market-Liberal State Capitalism: An Integrative Perspective on the Development of the Private Business Sector in China. Max-Planck-Institut Für Gesellschaftsforschung, Discussion Paper, 2011, Vol. 11, No. 2.

Terazono, Emiko: "Global Fish Prices Leap to All-time High". In: Financial Times, 18 June 2013. Online:
http://www.ft.com/intl/cms/s/0/af42937a-d811-11e2-9495-00144feab7de.html#axzz2yxvg79ZF (Stand 16.04.2014).

UNDP (United Nations Development Programme): About China. 2014.
Online: http://www.cn.undp.org/content/china/en/home/countryinfo/ (Stand 16.04.2014).

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 144, Juni 2014, Seite 6 - 9
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. August 2014