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ASIEN/919: Bangladesch - Modell- oder Risikoland? (FES)


Friedrich-Ebert-Stiftung
Internationale Politikanalyse

Modell- oder Risikoland?
Die Entwicklungsbilanz Bangladeschs auf dem Prüfstand

von Henrik Maihack
September 2014


Inhalt

1. Das Bangladesch-Paradox

2. Erster Faktor: Der Spirit of Liberation

3. Zweiter Faktor: Demokratie erleichtert Entwicklung

4. Dritter Faktor: Strukturelle Transformation und Arbeitsplätze

5. Ausblick

Literatur



• Bangladesch ist es in den letzten zwei Jahrzehnten gelungen, die absolute Armut stärker zu senken, als von dem moderaten Wirtschaftswachstum zu erwarten war. Auch bei anderen sozialen Entwicklungsindikatoren steht Bangladesch deutlich besser da als die meisten Nachbarländer in Südasien.

• Die Beschleunigung des sozioökonomischen Erfolges fällt mit der Wiedereinführung der Demokratie zusammen. Die Betätigungsmöglichkeiten für innovative einheimische Nichtregierungsorganisationen (NGOs) haben maßgeblichen Anteil an der guten Entwicklungsbilanz. Diese Bilanz wird allerdings von der aktuellen politischen Krise überschattet.

• Eine Voraussetzung für die Armutsbekämpfung in Bangladesch war eine Wirtschaftspolitik, die eine strukturelle Transformation hin zu einem arbeitsplatzintensiven Wirtschaftswachstum eingeleitet hat. Die Katastrophe von Rana Plaza vom 24. April 2013 verdeutlicht aber auch die erheblichen Risiken einer solchen Strategie.

• Eine Entwicklungsstrategie, die lediglich auf billige Produktionsbedingungen setzt und dabei schlechte Sicherheits- und Sozialstandards in Kauf nimmt, gefährdet die weitere Entwicklung. Um nachhaltiges Wachstum zu ermöglichen, bedarf es eines Wirtschaftsmodells, das sicherere, gerecht bezahlte Arbeitsplätze mit dem schrittweisen Aufbau von höherqualitativen und arbeitsplatzintensiven neuen Industrien verbindet.

• Bangladesch kann seine Erfolgsgeschichte nur dann weiterführen, wenn es gelingt, die Löhne und Arbeitsbedingungen in der Exportindustrie zu verbessern, Exporte zu diversifizieren, die inländische Nachfrage zu stärken, die politische Gewalt zu beenden und mittelfristig wieder eine inklusive politische Kultur zu etablieren.

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Das Image Bangladeschs hat in jüngster Zeit stark gelitten: Das Land machte international vor allem mit Industrieunfällen und schlechten Arbeitsbedingungen in der Textilbranche Schlagzeilen. Am 24. April 2013 gingen die Bilder vom Einsturz des Fabrikgebäudes in Rana Plaza um die Welt, wo tausende Näher_innen für europäische und US-amerikanische Modefirmen produzierten. 1137 Arbeiter_innen bezahlten für den internationalen Wettlauf um die billigsten Produktionsbedingungen mit ihrem Leben. Die Katastrophe blieb nicht folgenlos. Die USA reagierten mit Handelssanktionen, und auch die EU-Kommission drohte wenige Wochen später mit Sanktionen, sollten sich die Sicherheitsstandards in Bangladeschs Fabriken nicht deutlich verbessern. Die Regierung versprach, mehr Fabrikinspektoren einzustellen, erleichterte die stark eingeschränkten Betätigungsmöglichkeiten der Gewerkschaften und erhöhte im November 2013 den Mindestlohn auf umgerechnet 53 Euro im Monat. Internationale Gewerkschaften und Textilunternehmen schlossen mit dem ACCORD ein einmaliges internationales Abkommen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Bangladeschs Bekleidungsindustrie ab.

Zum Jahrestag der Katastrophe von Rana Plaza im April 2014 schaute die Welt erneut auf Bangladesch. Vor Bekleidungsgeschäften in Europa fanden Protest- und Gedenkaktionen statt. Kritisiert wurden die - trotz aller Versprechungen - weiterhin viel zu geringen Löhne, schlechten Arbeitsbedingungen und die Gewerkschaftsfeindlichkeit der Exportindustrie Bangladeschs. Auch aufgrund des Hungerstreiks im August 2014 von Näher_innen, deren Löhne nicht bezahlt wurden, wird Bangladesch im Ausland weiterhin vor allem mit »blutigen T-Shirts« und »Sweatshops« in Verbindung gebracht. Ist Rana Plaza zugleich Symbol und Symptom eines gescheiterten Entwicklungsmodells?

1. Das Bangladesch-Paradox

Viele Expert_innen sehen dies anders. Vertreter_innen der Vereinten Nationen, der Weltbank, Akademiker_innen an Bangladeschs Universitäten sowie der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen sind sich einig: Bangladesch ist bisher eine sozioökonomische Erfolgsgeschichte. Auch die Vereinten Nationen sind voll des Lobes: Bangladesch wird bis 2015 die meisten der acht Millennium Development Goals (MDGs) erreichen. In der Gruppe der 49 ärmsten Länder der Welt (Least Developed Countries, LDCs) gehört Bangladesch damit zu den erfolgreichsten drei Staaten.

Im Detail stellen sich die Entwicklungserfolge der letzten zwei Jahrzehnte wie folgt dar: Lebten 1990 noch 59 Prozent der Bevölkerung unter der nationalen Armutsgrenze von 1,09 US-Dollar am Tag, so ist dieser Anteil bis 2012 auf 31 Prozent gesunken. Im Jahr 1990 starben in Bangladesch von 1000 Kindern durchschnittlich 146 vor ihrem fünften Geburtstag, zwei Jahrzehnte später waren es 44. Kamen 1990 durchschnittlich 574 von 100.000 Frauen im Laufe ihrer Schwangerschaft ums Leben, waren es 2012 noch 194. Nicht nur mit Blick auf die sinkende Kindersterblichkeit und die abnehmende Geburtenrate schneidet Bangladesch damit deutlich besser als das benachbarte Indien ab. Lag die Lebenserwartung in Bangladesch im Jahr 1990 bei nur 59 Jahren, so leben die Menschen heute durchschnittlich 70 Jahre und damit vier Jahre länger als in Indien. Bangladesch ist zudem eines der wenigen Entwicklungsländer, in dem mehr Mädchen als Jungen in die Schule gehen und das seine Geburtenrate seit 1971 fast halbiert hat, von über sechs Kinder pro Frau auf heute weniger als drei Kinder. Diesen Erfolg beschreibt der Ökonom Hans Rosling sogar als Bangladesh Miracle. Für das am dichtesten besiedelte Land der Welt, das zudem massiv vom Klimawandel betroffen ist und mit Überflutungen zu kämpfen hat, ist dies eine wichtige Errungenschaft mit globalem Beispielcharakter.

Das Wirtschaftswachstum seit 1990 ist mit durchschnittlich fünf Prozent zwar stabil, aber im Vergleich mit vielen rohstoffreichen afrikanischen Entwicklungsländern oder dem Nachbarn Indien, das ein fast doppelt so großes Pro-Kopf-Einkommen vorweisen kann, nicht rasant. Das britische Magazin Economist sieht in Bangladeschs erfolgreicher Armutsreduktion daher sogar den Beweis, dass erfolgreiche Armutsbekämpfung nicht unmittelbar mit einer besonders schnell steigenden wirtschaftlichen Wachstumsrate zusammenhängt - eine durchaus ungewöhnliche Feststellung für den wirtschaftsliberalen Economist. Was hat Bangladesch also richtig gemacht? Worauf beruht der Erfolg des bangladeschischen Entwicklungsmodells und wo liegen seine Risiken? Im Folgenden ein Erklärungsversuch anhand von drei Faktoren.

2. Erster Faktor: Der Spirit of Liberation

Die Gründung des Staates Bangladesch 1971 war das Ergebnis einer Unabhängigkeitsbewegung, die eine progressive soziale und politische Emanzipation anstrebte. So sind laut Amartya Sen die sozialen und politischen Werte, die 1971 den Befreiungskampf gegen Pakistan anleiteten, ein Grund für die im regionalen Vergleich beachtenswerte soziale Entwicklung Bangladeschs. Exilregierung und Befreiungskämpfer betonten immer wieder die Bedeutung des gleichberechtigten Zusammenspiels der Grundwerte von Freiheit und Gleichheit sowohl in politischer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Ihr Ziel war eine gerechtere und säkulare Gesellschaft, die sich von dem feudalen Wirtschaftssystem Westpakistans und der dortigen islamistischen Fundamentalisten nahestehenden Militärregierung deutlich unterscheiden sollte. Dieses hinter dem Befreiungskampf stehende Wertegerüst nennt Amartya Sen den Spirit of Liberation. Dieser »Geist der Befreiung« hat sich laut Sen nach der Unabhängigkeit zumindest teilweise sowohl in der Arbeit der Regierung als auch in dem Engagement einheimischer NGOs niedergeschlagen und u.a. zu einer expliziten Förderung von Geschlechtergerechtigkeit geführt. Heute schneidet Bangladesch hinsichtlich des Zugangs von Frauen zu Bildung, zum Arbeitsmarkt und zu Gesundheitsleistungen wesentlich besser ab als die meisten der regionalen Nachbarn.

Progressive nichtstaatliche Akteure spielten seit der Staatsgründung eine wichtige Rolle für die Entwicklung Bangladeschs. Unmittelbar nach der Erlangung der Unabhängigkeit engagierten sich einige der im Ausland ausgebildeten Bangladeschis in besonderer Art und Weise für die sozioökonomische Entwicklung ihres Landes. Sie strebten nicht vornehmlich nach einem Regierungsamt oder einem lukrativen Posten im Vorstand eines der Staatsunternehmen, sondern gründeten sozial orientierte NGOs, um der humanitären Katastrophe nach dem neunmonatigen Befreiungskrieg zu begegnen. Drei Millionen Bangladeschis wurden laut Regierungsangaben im Krieg von der pakistanischen Armee und Paramilitärs ermordet. Zehn Millionen Menschen flüchteten nach Indien, viele von ihnen kehrten mit Beginn der Unabhängigkeit nach Bangladesch zurück. Bei der Bewältigung dieser humanitären Katastrophe spielten NGOs mit ihren eng an die dörflichen Kommunen angegliederten Projekten eine wichtige Rolle. Bis heute stellen diese NGOs und eine kritische Zivilgesellschaft in Bangladesch eine - wenn auch langfristig nicht nachhaltige - Ergänzung zu der sonst eher schwachen sozialstaatlichen Infrastruktur des Landes dar.

Ein Beispiel für das Engagement der jungen Elite nach der Unabhängigkeit ist Fazle Abed, der 1972 die heute weltweit größte NGO BRAC in Bangladesch gründete. BRAC engagierte sich anfangs in der Flüchtlingshilfe, heute profitieren mehr als die Hälfte aller Bangladeschis von den Bildungs- und Gesundheitsdienstleitungen der Organisation. BRAC ist inzwischen auch in einigen Ländern Afrikas und in Afghanistan mit eigenen Entwicklungsprogrammen aktiv. Auch der Beginn des Engagements des Nobelpreisträgers Muhammad Yunus fällt in die Zeit nach der Unabhängigkeit. Nach seiner Rückkehr 1972 aus den USA, wo er sich mit Informationskampagnen für die Unabhängigkeit Bangladeschs eingesetzt hatte, begann er mit seinen ersten wissenschaftlichen Experimenten zu Mikrokrediten. Sowohl BRAC, mit eigener Bank und Universität, als auch die Grameen Bank von Muhammad Yunus operieren heute teilweise als profitorientierte Unternehmen, was Kritiker bemängeln. Ihre Verdienste für die Entwicklung Bangladeschs nach der Unabhängigkeit will ihnen in Bangladesch trotzdem kaum jemand absprechen. Auf ihren Spuren folgten weitere NGOs. Dieses Engagement vieler einheimischer NGOs, die sensibel und flexibel auf die Bedürfnisse der ländlichen Bevölkerung eingehen, unterscheidet Bangladesch bis heute von vielen anderen LDCs, in denen die größten NGOs meist aus dem Ausland kommen.

Die progressive Werteorientierung der Unabhängigkeitsbewegung und kompetente, lokal verwurzelte NGOs bilden einen gesellschaftspolitischen Rahmen, der für die sozioökonomische Entwicklung Bangladeschs von großer Bedeutung war und ist. Diese Faktoren sind jedoch keine festen Konstanten der Geschichte des Landes, sondern wurden immer wieder in Frage gestellt bzw. zeitweise auch außer Kraft gesetzt. Insbesondere in den Jahren der Militärdiktaturen zwischen 1975 und 1990 waren sowohl der Spirit of Liberation als auch der sich bei der Armutsbekämpfung abzeichnende Pluralismus zwischen Regierung und NGOs weitgehend ausgehebelt. Erst eine Massenbewegung aus Parteien und Zivilgesellschaft erzwang 1990 den Rücktritt der Militärregierung. Die Wahlen 1991 besiegelten die Rückkehr zur Mehrparteiendemokratie.

3. Zweiter Faktor: Demokratie erleichtert Entwicklung

Die erfolgreiche Wirtschaftsentwicklung in autokratisch regierten Ländern wie China wird in vielen Entwicklungsländern von Teilen der politischen und wirtschaftlichen Eliten zunehmend wirksam als Argument gegen die Leistungsfähigkeit von Demokratien angeführt. In Bangladesch zeigt sich jedoch, dass Demokratie und wirtschaftliche Entwicklung zusammenhängen. Bangladeschs Aufstieg nahm mit der Wiedereinführung der Demokratie 1991 erst richtig an Fahrt auf, als sich nach Jahren der Militärregierung eine Massenbewegung für die Demokratisierung eingesetzt hatte. Seitdem haben Wahlen in Bangladesch immer wieder zu demokratischen Regierungswechseln geführt. Die derzeitige Regierungspartei Awami League (AL) und die Bangladesh Nationalist Party (BNP) lösten sich mehrfach an der Macht ab. Das wirtschaftliche Wachstum - eine notwendige, wenn auch keinesfalls hinreichende Bedingung von sozioökonomischer Entwicklung - legte von durchschnittlich nur 3,8 Prozent während der Militärdiktatur der 1980er Jahre auf jährlich 4,8 Prozent im Jahrzehnt nach Einführung der Demokratie und auf 5,8 Prozent in den zehn Jahren nach 2000 zu. Die behauptete bessere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit autokratischer Herrschaft muss im Fall Bangladesch damit zurückgewiesen werden. Im Gegenteil: Eine, wenn auch oft chaotische und in großen Teilen defekte Demokratie ist ganz offenbar besser für die Entwicklung des am dichtesten besiedelten Landes der Welt als es eine dem Militär, aber nicht der Bevölkerung verpflichtete Autokratie mit Scheinwahlen.

Auch wenn eine direkte Kausalität zwischen Demokratie und Entwicklung unter Wirtschafts- und Politikwissenschaftler_innen umstritten ist, gibt es weitere wichtige Faktoren, die einen solchen Zusammenhang im Fall Bangladesch nahelegen. Zwischen 1991 und 2007 haben die Wähler_innen immer wieder ihre Unzufriedenheit mit der Regierung zum Ausdruck gebracht und die jeweilige Regierungspartei abgewählt (1996, 2001 und 2008), wenn sie der Meinung waren, dass diese nicht in ausreichendem Maße das Wohl der Bevölkerung, sondern vor allem ihre eigene Selbstbereicherung im Blick hatte. Ungefähr 30 Prozent der knapp 75 Millionen registrierten Wähler_innen in Bangladesch sind Wechselwähler_innen und können daher nicht eindeutig einem der beiden stark polarisierten Parteienlager zugeordnet werden. Angesichts dieser großen Zahl können die Parteien nicht einfach darauf hoffen, alleine über Patronagenetzwerke bzw. über den Kauf von Stimmen eine Mehrheit für sich zu organisieren. Dies trifft für Wahlen auf allen Staatsebenen zu. Erst im Sommer 2013 hatten sich in fünf der größten Städte des Landes Kandidaten der größten Oppositionspartei BNP gegen die jeweiligen Amtsinhaber durchgesetzt, die für die Korruptionsaffären auf nationaler Ebene bestraft wurden. Ein Indikator dafür, dass die gewählten Regierungen Entwicklungsfragen unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung priorisieren, ist auch die makroökonomische Situation, die sich seit Wiedereinführung der Demokratie wesentlich stabilisiert hat. Dies führte z.B. zu einer erhöhten inländischen und ausländischen Investitionsquote und unterstützte damit maßgeblich die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Trotz Populismus, Korruption und extremer politischer Polarisierung zwischen den beiden größten Parteien in Bangladesch AL und BNP - obwohl es nur geringe programmatische Unterschiede zwischen ihnen gibt - ist die Demokratie für eine große Mehrheit der Bevölkerung nicht nur eine Regierungsform, für deren Verwirklichung sie 1971 sogar zu den Waffen griff und auch danach immer wieder protestierte, sondern sie ist offenbar auch sozioökonomisch leistungsfähiger.

Dies ist festzustellen, auch wenn Bangladesch aufgrund der regelmäßigen Gewalt zwischen den politischen Parteien, verkrusteten Patronagenetzwerken und damit verbundenen Korruptionsskandalen hinter den Möglichkeiten der Verwirklichung gleicher Lebenschancen für alle Bürger_innen zurückbleibt und immer noch weit entfernt von einer konsolidierten Demokratie ist. Verschwimmende Grenzen zwischen Exekutive, Privatsektor, Legislative und Judikative sowie oftmals menschenrechtsverletzende Aktionen von Sicherheitskräften gehören zu den von Kritikern oft genannten strukturellen Risiken für die Demokratie. Derzeit nehmen politisch motivierte Morde, Erpressungen und Kriminalität weiter zu und geben Anlass zur Sorge. Nach den jüngsten von der Opposition boykottierten Wahlen streiten sich die Experten sogar, inwieweit Bangladesch heute de facto ein Einparteienstaat ohne Opposition geworden ist. Während die Awami League von Premierministerin Sheikh Hasina seit Januar 2014 über 300 Sitze im Parlament verfügt, wovon sie aufgrund des Boykotts der BNP 153 ohne Gegenkandidaten gewann, hat die aktuell größte Oppositionspartei, die vom ehemaligen Militärdiktator Ershad gegründete Jatyia Party (JP), lediglich 34 Sitze. Gleichzeitig ist die JP aber in einer kuriosen Konstellation an der Regierung mit einem Minister und zwei Staatsministern beteiligt, so dass sie ihre Rolle als Oppositionspartei nicht spielen kann. Die BNP kann nach ihrem, in den Augen vieler Beobachter unnötigen Wahlboykott derzeit nur als außerparlamentarische Opposition agieren und wirkt personell und strategisch geschwächt. Sie droht derzeit mit neuen Massenprotesten um damit Neuwahlen durchzusetzen.

Doch trotz der strukturellen und aktuell wieder sichtbaren Schwächen der Demokratie in Bangladesch bietet das (hybride) politische System den Medien, der Wissenschaft und der Zivilgesellschaft vergleichsweise große Spielräume. Auch das spielt bei der erfolgreichen Entwicklungsbilanz des Landes eine Rolle. Seit der Wiedereinführung der Demokratie machen Medien und Zivilgesellschaft lautstark auf ihre Meinungen und Anliegen aufmerksam, kritisieren die Regierung und folgen in ihrer Arbeit den erfolgreichen Pionieren von BRAC und Grameen. Die Resultate lassen sich sehen. Wer heute in Bangladesch eine Tageszeitung aufschlägt, findet darin täglich harsche Kritik an der Regierung und zahlreiche Berichte über neue Politikvorschläge, Workshops und Dialogveranstaltungen, die von verschiedenen politisch oder sozial engagierten Organisationen der Zivilgesellschaft, Wissenschaftler_innen oder entwicklungspolitisch orientierten NGOs erstellt werden und die Regierung zu Reformen auffordern. Zivilgesellschaft und NGOs stellen aber nicht nur Forderungen, sondern machen sich, wie schon kurz nach der Unabhängigkeit, selbst an die Umsetzung. Über 2300 einheimische und internationale NGOs sind beim NGO-Büro der Regierung registriert. Viele davon arbeiten erfolgreich und kulturell sensibel in den Fußstapfen von Yunus und Abed. Sie bieten Beratung in den Bereichen der gesundheitlichen Vorsorge, Familienplanung und Bildung an und ergänzen damit eine in Teilen defekte staatliche Verwaltung. Dieser Akteurspluralismus aus Regierung, NGOs und Wissenschaft ist laut Amartya Sen ein Hauptgrund für die Erfolge des Landes; er bietet den Rahmen für die regelmäßige Bildung von progressiven Bündnissen aus Zivilgesellschaft, NGOs und einzelnen Politiker_innen, die sich für eine Demokratisierung von Politik und Wirtschaft einsetzen und immer wieder erfolgreich politischen Druck aufbauen.

Das ist zwar in vielerlei Hinsicht positiv, es bleibt jedoch die Frage, inwieweit NGOs insbesondere in den Bereichen Bildung und Gesundheit Leistungen, die eigentlich in den staatlichen Aufgabenbereich fallen, übernehmen sollten und mit welchem Mandat sie dies tun. Bisher fehlt eine klar formulierte Strategie zur Abgrenzung zwischen Aufgaben der öffentlichen Daseinsvorsorge, die in staatlicher Verantwortung liegen sollte, und Bereichen, in denen NGOs ergänzend tätig werden. NGOs sind derzeit v.a. Lückenfüller für eine schwache und neopatrimonial durchgesetzte staatliche Verwaltung. Der Erfolg der vielen NGOs ist daher zwiespältig. Früher oder später muss der Staat diese genuin öffentlichen Leistungen selbst erbringen und in einem demokratischen Verfahren entscheiden, welche Leistungen dazukommen müssen.

Noch entscheidender für die weitere Entwicklung des Landes ist jedoch die Frage, wie die regelmäßige politische Gewalt vor nationalen Wahlen und die extreme politische Polarisierung zwischen Regierung und der größten Oppositionspartei beendet werden kann. Generalstreiks und die Zusammenstöße zwischen Anhängern der Oppositions- und Regierungspartei haben eine besonders negative Auswirkung auf die sozioökonomische Entwicklung. Alleine im Jahr 2013 kam es an 85 Tagen auf städtischen Straßen zu politischer Gewalt, die das wirtschaftliche Leben zum Erliegen brachte. Entscheidend ist, dass die aufgrund ihres Boykotts derzeit nicht mehr im Parlament vertretene größte Oppositionspartei BNP über Gespräche und Wahlen zumindest mittelfristig wieder in einen politischen Dialog auf Augenhöhe eingebunden wird und - dies ist entscheidend - sich auch einbinden lässt. Hierzu wäre auch eine Distanzierung der BNP von der islamistischen und gewaltbereiten Partei Jammat e Islami (JI) notwendig, mit der die BNP derzeit zusammenarbeitet. Die Demokratie und damit verbunden der sozioökonomische Erfolg des Landes stehen auf dem Spiel.

4. Dritter Faktor: Strukturelle Transformation und Arbeitsplätze

Doch sind Demokratie und Entwicklungsorientierung von staatlichen und oftmals auch nichtstaatlichen Akteuren nur ein Teil der bisherigen Erfolgsgeschichte Bangladeschs. Der andere Teil mag angesichts des heutigen Images des Landes als »Sweatshop der Welt« überraschen, ist aber entscheidend, wenn auch risikobehaftet. Bangladesch hat geschafft, was die meisten Entwicklungsländer, insbesondere in Subsahara-Afrika, bisher nicht geschafft haben: Das Land hat eine arbeitsplatzintensive Exportindustrie aufgebaut, in Ernährungssicherheit investiert und ist dabei makroökonomisch stabil geblieben. Damit hat Bangladesch einen - wenn auch bisher zu geringen - Teil des wirtschaftlichen Wachstums in Löhne und Nahrung umgewandelt. Parallel konnte das Land die Abhängigkeit von Entwicklungshilfe aus dem Ausland in den letzten zwanzig Jahren um mehr als die Hälfte und somit auf heute weniger als drei Prozent des BIP reduzieren. Laut Plänen der Regierung soll Bangladesch bis 2021, 50 Jahre nach der Unabhängigkeit, zu einem Middle Income Country (MIC) werden. Derzeit sieht es so aus, als könnte dieses Ziel sogar schon vor 2021 erreicht werden. Dies hat zur Anerkennung des Landes auch jenseits der entwicklungspolitischen Expertenkreise geführt. Bangladesch zählt z.B. als einziges Land der 49 LDCs zu den Next 11, einer von Goldman Sachs so getauften Gruppe von Ländern, denen aufgrund ihrer wirtschaftlichen Dynamik und der Größe ihres Marktes in den nächsten zehn Jahren eine ähnliche Zugkraft für die Weltwirtschaft zugetraut wird wie heute den BRICS-Staaten.

Wie ist das gelungen, und gibt es für den Weg zum MIC ein Erfolgsrezept? Der in Princeton lehrende Ökonom Dani Rodrik beschreibt in seiner jüngsten Forschung, die sich u.a. mit den asiatischen Tigerstaaten im Vergleich zu rohstoffreichen Entwicklungsländern in Subsahara-Afrika beschäftigt, plausibel und von ideologischen Grabenkämpfen in der Entwicklungsökonomie unbeeindruckt zwei Voraussetzungen, die Entwicklungsländer für armutsreduzierendes bzw. arbeitsplatzintensives Wachstum zu erfüllen haben. Sie müssen einerseits in langfristige Grundvoraussetzungen wie Gesundheit, Bildung, Ernährung sowie partizipative, transparente und effiziente öffentliche Institutionen investieren. Diese Investitionen sind notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen für Entwicklung, weil sie nur mittel- bis langfristig helfen, Armut abzubauen. Um bereits kurzfristig Wachstum zu erzeugen, das auch effektiv in Armutsreduzierung und damit abnehmende Ungleichheit umgewandelt werden kann, führt laut Rodrik kein Weg an einer staatlich gelenkten Industriepolitik vorbei. Ziel einer solchen Politik müsse es sein, eine strukturelle Transformation der Wirtschaft einzuleiten und zunächst möglichst viele formale Arbeitsplätze in der verarbeitenden Industrie zu schaffen. Wichtig sei, dass die neuen Arbeitsplätze für vormals in der Landwirtschaft beschäftigte Menschen mit nur geringer Bildung zur Verfügung stehen und genug Kaufkraft durch faire Löhne für die hier beschäftigen Arbeitnehmer_innen schaffen, um auch die inländische Nachfrage anzukurbeln. Wenn es gelingt, durch eine gezielte Industriepolitik die wirtschaftliche Transformation voranzutreiben und gleichzeitig der Zugang breiter Bevölkerungsteile zu den Grundvoraussetzungen wie Bildung und Gesundheit gesichert wird, ist der Grundstein dafür gelegt, dass Produktivität und Löhne parallel steigen. Dies führe dazu, dass ein Land schließlich höherqualitative Produkte herstellen und exportieren kann und die Löhne weiter steigen. Diesen Weg sind laut Rodrik fast alle heute erfolgreichen ostasiatischen Staaten, darunter Japan, Korea, China und Vietnam, gegangen.

Bangladesch hat durch den Aufbau der Bekleidungsindustrie eine solche strukturelle Transformation begonnen, es aber bisher nicht geschafft, den nächsten Schritt einzuleiten. Durch eine gezielte Industriepolitik der Regierung, die Subventionen und protektionistische Maßnahmen mit Importliberalisierung verband, wurde der Anteil der Industrie am Bruttoinlandsprodukt in den letzten drei Jahrzehnten um jeweils vier Prozent pro Jahrzehnt gesteigert und liegt bei heute 30,9 Prozent. Ihren Anfang nahm die Textilindustrie in den 1980er Jahren. Eine geschickte Kombination aus Importbegünstigungen für Baumwolle und Exportsubventionen für die meist nicht kapitalkräftige erste Generation der Fabrikbesitzer, aber auch Bangladeschs Status als LDC und die damit verbundenen Vergünstigungen, z.B. der Wegfall aller Exportzölle in die EU, haben die Textilproduktion seit den 1990er Jahren weiter wachsen lassen. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Lag Bangladeschs Anteil an den weltweiten Textilexporten 1990 noch bei nur 0,6 Prozent, so konnte dieser Anteil bis zum Jahr 2011 auf 4,8 Prozent aller weltweiten Bekleidungsexporte gesteigert werden. Und der Wachstumstrend setzt sich fort: So expandierten die Textilexporte aus Bangladesch trotz der Katastrophe von Rana Plaza im vergangenen Jahr um ca. 16 Prozent. Wesentlich wichtiger als der Anteil am BIP ist aber die Arbeitsplatzintensität der Branche. Heute sind vier Millionen Näher_innen und deren Familien von der Bekleidungsindustrie abhängig. Auch hier ist mit steigenden Zahlen zu rechnen, denn in den nächsten Jahren wird immer mehr industrielle Produktion im Niedriglohnbereich aus China abwandern, da dort die Bevölkerung altert und mittlerweile mehr hochqualitative Produkte mit steigenden Löhnen hergestellt werden. Bangladesch hofft hiervon zu profitieren. 80 Prozent der Näher_innen in Bangladesch sind Frauen, vielfach nur mit einer Grundschulbildung, was die Arbeitsplätze in der Textilindustrie mit geringen Qualifikationsanforderungen attraktiv macht, trotz aller Risiken. Rücküberweisungen der Näher_innen aus den Städten kurbeln in den ländlichen Gebieten Bangladeschs den Konsum weiter an. Durch die steigende Arbeitsmigration, einerseits in die Städte mit Textilindustrie, andererseits - in vielen Fällen von der Regierung unterstützt - ins Ausland (die vor allem auf den Baustellen in den Golfstaaten arbeitenden Arbeitsmigranten überweisen jährlich ein Vielfaches der internationalen Entwicklungshilfe für Bangladesch an ihre Familien), sind auch die Löhne im landwirtschaftlichen Bereich gestiegen. Die Armut auf dem Land, wo immer noch knapp die Hälfte aller Bangladeschis lebt und arbeitet, konnte so reduziert werden.

Die Regierung will die begonnene Industrialisierung weiterführen. Bis 2021 soll der Anteil des industriellen Sektors am BIP auf 40 Prozent erhöht werden und 25 Prozent der Arbeitnehmer_innen beschäftigen. Wirtschaftliches Wachstum wurde damit in Arbeitsplätze für die bisher nur wenig ausgebildeten und jährlich um 2,1 Millionen wachsenden Arbeitssuchenden umgewandelt. Bangladeschs Politik bezüglich der Textilindustrie ähnelt hier dem Beispiel anderer, vormals sehr armer Länder in Ostasien: Wie auch dort begann in Bangladesch die Entwicklung mit einer staatlich gelenkten Industriepolitik mit Subventionen und Exporterleichterungen, die eine wettbewerbsfähige exportorientierte Industrie aufbaute und vor internationalem Wettbewerb zunächst schützte. Somit konnte eine strukturelle Transformation von einer prekären, landwirtschaftlich geprägten Wirtschaft hin zu einer von Industrie und Dienstleistungen dominierten Wirtschaft eingeleitet werden. Dies war verbunden mit zunehmenden Investitionen in Grundbildung und Gesundheit. In Bangladesch ist die grundsätzliche Logik dieser Entwicklungsstrategie weithin akzeptiert. So sind sich auch die Gewerkschaften und der mächtige Arbeitgeberverband in einer Sache einig: Die Textilindustrie ist und bleibt wichtig für Bangladesch, auch wenn sich vieles verbessern muss.

Die Risiken dieser Strategie, vor allem der gezielten Förderung einer Niedriglohnindustrie, sind allerdings groß. Die schlechten Löhne und unsicheren Arbeitsbedingungen in den oftmals brand- und einsturzgefährdeten Textilfabriken in Bangladesch sind sowohl aus menschenrechtlicher als auch aus wirtschaftlicher Perspektive inakzeptabel. Auch die jüngste Erhöhung des Mindestlohnes kann mit der Inflation vor allem der Miet- und Lebensmittelpreise in den Städten nicht mithalten. Bangladesch bleibt das Land mit dem niedrigsten Mindestlohn weltweit. Rücklagen für die eigene Gesundheitsvorsorge und die Bildung der Kinder zu bilden, ist unter diesen Umständen nicht möglich. Unterdessen machen die internationalen Textilkonzerne riesige Profite mit einem Geschäftsmodell, in dem die Näher_innen weniger als zwei Prozent des Endpreises eines in Europa oder den USA verkauften T-Shirts für ihre harte Arbeit als Lohn erhalten. Auch ohne Preiserhöhung für das Endprodukt in Europa oder den USA könnten die Löhne in Bangladesch angehoben werden und die Fabriken sicherer gemacht werden, wenn Profite fairer umverteilt würden. Zwar hat die Katastrophe von Rana Plaza zu einer internationalen Debatte über die Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie in Bangladesch geführt und den Druck auf Regierung und Unternehmen erhöht. Dies hat sich bisher aber noch nicht in einer nachhaltigen Verbesserung der Produktionsbedingungen oder gar einer angemessenen Erhöhung der Löhne niedergeschlagen. Gewerkschaften, die sich hierfür einsetzen könnten, werden in Bangladesch nach wie vor in ihrer Arbeit behindert und eingeschränkt. Schamlos drohen einige der internationalen Textilunternehmen lieber mit dem Wegzug in Länder mit einem »besseren Image« trotz ähnlich bedenklicher Produktionsbedingungen, statt Verantwortung für die Arbeitsbedingungen entlang ihrer Zulieferkette zu übernehmen. Ein solcher Wegzug wäre angesichts der Exportabhängigkeit Bangladeschs eine Katastrophe - insbesondere für die Näher_innen und deren Familien.

Makroökonomisch ist die aktuelle Wachstumsstrategie Bangladeschs, die vor allem auf billige Löhne und den Bekleidungsexport setzt, mittel- bis langfristig ebenfalls riskant. Die Löhne in der Bekleidungsindustrie und anderen Industrien sind immer noch viel zu niedrig, um die Abhängigkeit des Landes vom Export durch inländische Nachfrage abzufedern. Gleichzeitig ist die Besteuerung von Topverdienern und Vermögen viel zu gering, um der Regierung zu erlauben, wirtschaftlich nachhaltig umzuverteilen und ihre Ausgaben für Bildung, Gesundheit und eine Industriepolitik, die eine Transformation in hochqualitativere Branchen einleitet, zu erhöhen. So nimmt auch in Bangladesch die Ungleichheit zu. Ohne eine ansteigende Kaufkraft der unteren Einkommensgruppen werden nationale und lokale Wirtschaftskreisläufe nicht ausreichend stimuliert, was zu anhaltend hohen Armutsraten führt. Schon jetzt hat Bangladesch ein massives Handelsdefizit z.B. gegenüber Indien und China, da es zwar Bekleidung für OECD-Länder produziert, aber kaum Konsumgüter für den eigenen Markt. Zudem nimmt der Export von Bekleidung wesentlich stärker zu als der Export anderer Produkte, wie z.B. Pharmazeutika oder Juteprodukte. In der Folge steigt die Abhängigkeit der Wirtschaft von der Produktkategorie Bekleidung, die jetzt schon 80 Prozent aller Exporte ausmacht. Die schlechte Infrastruktur erschwert dabei sowohl die Diversifizierung der Exporte als auch den effizienteren Export von Bekleidung, was Produktions- bzw. Transportkosten senken und damit Lohnerhöhungen leichter möglich machen würde. Der Investitionsbedarf in die schlechte Infrastruktur steht bisher in keinem Verhältnis zu den Ausgaben. Während China 15 Prozent seines BIP in Infrastruktur investiert, sind es in Bangladesch nur drei Prozent. Auch wenn der Export von Bekleidung nicht von so starken Preisschwankungen wie der Export von Öl bedroht ist, ist das Problem der Abhängigkeit vom Bekleidungsexport für Bangladesch mit dem als Ressourcenfluch beschriebenen Phänomen in anderen von Rohstoffen abhängigen Entwicklungsländern vergleichbar: Die Währung wertet auf und macht es schwieriger, Industrien in anderen Produktkategorien aufzubauen, die erst mit einem günstigen Währungskurs international wettbewerbsfähig werden.

Diese Risiken zeigen: Eine Industrialisierung, die nur auf die Bekleidungsindustrie setzt, ist zu wenig und für die davon abhängigen Menschen prekär. Nur ein Wirtschaftsmodell, das sicherere, gerecht bezahlte Arbeitsplätze mit dem schrittweisen Aufbau von höherqualitativen und arbeitsplatzintensiven neuen Industrien verbindet, kann zu einer nachhaltigen Entwicklung des Landes führen. Eine progressive Industriepolitik müsste daher zunächst in Sicherheit und Infrastruktur investieren und sich für faire Löhne einsetzen sowie parallel den Aufbau neuer Industriezweige unterstützen.

5. Ausblick

Höhere Löhne und eine dringende Verbesserung der Sicherheitsstandards in Bangladeschs Exportindustrie bleiben eine der wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Prioritäten. Die aktuellen Entwicklungen veranschaulichen, dass Bangladesch seine Erfolgsgeschichte nur weiterschreiben kann, wenn sich das Land nicht vornehmlich als billigster, sondern mehr und mehr als Standort mit guter Qualität, hoher Produktivität sowie fair bezahlten und sicheren Arbeitsplätzen aufstellt. Die Schaffung von formellen Arbeitsplätzen mit fair bezahlten Löhnen, von umfassenden sozialen Sicherungssystemen, und der Aufbau weiterer Industriezweige bleiben dabei von primärer Bedeutung. Eine lediglich auf Billiglöhne, minimale Sicherheitsstandards und ein einziges Exportprodukt wie Bekleidung setzende Industriepolitik ist langfristig weder sozial noch wirtschaftlich nachhaltig. Vor diesem Hintergrund ist auch die internationale Solidarität von Gewerkschaften aus den Nachbarländern und aus den OECD-Ländern mit Arbeitnehmer_innen in Bangladesch besonders wichtig, denn nur so können die großen Textilunternehmen gezwungen werden, endlich damit aufzuhören, einzelne »Billiglohnländer« gegeneinander auszuspielen. Die Entwicklung Bangladeschs zeigt ebenfalls, dass ein sozioökonomischer Wandel von einem Least Developed Country hin zu einem Middle Income Country auch in schwachen Demokratien eingeleitet werden kann. Die Pfadabhängigkeit der historischen Entwicklung als unabhängiger Staat, dessen Geschichte als emanzipatorisches Projekt begann, ist dafür ebenso entscheidend wie die Einführung einer Mehrparteiendemokratie, die Freiräume für Organisationen der Zivilgesellschaft und NGOs einräumt, und eine pragmatische Wirtschafts- und Sozialpolitik, die wirtschaftliches Wachstum in - wenn auch bisher noch zu niedrige - Löhne umwandelt. Immer wieder haben sich Koalitionen aus Zivilgesellschaft, NGOs und Politik für eine größere Entwicklungsorientierung in Gesellschaft und Politik eingesetzt und sind damit nach wie vor einflussreich.

Wichtigster nichtwirtschaftlicher Risikofaktor für die politische und wirtschaftliche Stabilität des Landes bleibt die mittelfristig zu befürchtende politische Gewalt zwischen der zunehmend marginalisierten größten Oppositionspartei BNP und der Regierungspartei AL, die den Staatsapparat kontrolliert. Eine weitere Erosion der Demokratie droht die sozioökonomische Entwicklung und die Konsolidierung der Demokratie in Bangladesch zu blockieren. So kann eine inklusive wirtschaftliche Entwicklung in Bangladesch nur dann gelingen, wenn durch einen demokratischen Interessenausgleich zwischen Regierung und Opposition politische Gewalt reduziert und damit politische Stabilität langfristig konsolidiert wird. Daher kommt der Wiedereinbindung der größten Oppositionspartei in einen politischen Dialog besonders große Bedeutung zu, anderenfalls wird sie ihren politischen Protest wieder gewaltsam auf die Straße bringen. Nur wenn die demokratischen Spielregeln von den wichtigsten politischen Akteuren im Land anerkannt und gepflegt werden, kann ein tragfähiger gesellschaftspolitischer Konsens auch für die nächsten Schritte auf dem Weg zu einem sozial, wirtschaftlich und politisch inklusiven Middle Income Country gemeinsam entwickelt werden.


Literatur

Bhattarchaya, Debapriya et al. (2013): Lagging Behind: Lessons from the Least Developed Countries for a Development Agenda Post-2015, Perspective, Friedrich-Ebert-Stiftung (FES).

Dreze, Jean / Sen, Armatya (2013): An Uncertain Glory: India and its Contradictions, Princeton.

Rodrik, Dani (2013): The Past, Present, and Future of Economic Growth, Global Citizen Foundation Working Paper 1, June 2013.

Rosling, Hans (2007): Bangladesh Miracle;
http://www.gapminder.org/videos/gapmindervideos/gapcast-5-bangladeshmiracle

Sen, Amatya (2014): What's happening in Bangladesh?, Lancet;
http://www.thelancet.com/pdfs/journals/lancet/PIIS0140673613621625.pdf

The Economist (2nd of November 2013): Out of the basket: Lessons from the achievements - yes, really, achievements - of Bangladesh;
http://www.economist.com/news/leaders/21565627-lessons-achievements%E2%80%94yes-reallyachievements%E2%80%94-bangladesh-out-basket

United Nations, Bangladesh (2012): Millennium Development Goals: Bangladesh Progress at a Glance.


Über den Autor

Henrik Maihack ist Leiter des Projekts der Friedrich-Ebert-Stiftung in Dhaka/Bangladesch.


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ISBN 978-3-86498-949-0

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Quelle:
Friedrich-Ebert-Stiftung | Referat Asien und Pazifik
Hiroshimastr. 28 | 10785 Berlin | Deutschland
Verantwortlich:
Jürgen Stetten, Leiter, Referat Asien und Pazifik
Tel.: ++49-30-269-35-7505 | Fax: ++49-30-269-35-9211
http://www.fes.de/asien


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. September 2014