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ASIEN/932: Indien - Konfliktbedingte Vertreibungen, Gewalt als Entwicklungsbremse (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 3. Februar 2015

Indien: Konfliktbedingte Vertreibungen - Gewalt als Entwicklungsbremse

von Priyanka Borpujari


Bild: © Priyanka Borpujari/IPS

Notaufnahmelager für Binnenflüchtlinge in Kokrajhar in Indien. Seit Ende Dezember 2014 haben etwa 2.000 Menschen hier Zuflucht gesucht
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Kokrajhar, Indien, 3. Februar (IPS) - Die wasserfeste Plane, die über einen Bambusrahmen gezurrt wurde, hat die Ausmaße eines Transporters. In solchen Zelten schlafen Nacht für Nacht jeweils 25 Frauen und Kinder. Sie gehören einem Tross von 250.000 Menschen an, die vor der Gewalt in Kokrajhar und drei weiteren Bezirken des nordostindischen Bundesstaates Assam geflohen sind.

81 Menschen kamen bei den offenbar gezielt durchgeführten Anschlägen ums Leben. Angesichts der gewaltigen Zahl der Menschen, die zu Opfern einer der größten konfliktbedingten Vertreibungswellen im Lande geworden sind, warnt das Asiatische Menschenrechtszentrum vor einer humanitären Krise.

Derartige Gewaltexzesse und ihre Folgen erklären die Schwierigkeiten des Subkontinents, die Millenniumsentwicklungsziele (MDGs) der Vereinten Nationen zur Armutsbekämpfung zu erreichen und die grundlegenden Bedürfnisse der 1,2 Milliarden Inder zu befriedigen.


Angriff auf Adivasi

Am Abend des 23. Dezember hatten bewaffnete Mitglieder des Songbijit-Flügels der Nationalen Demokratischen Front von Bodoland (NDFB) mehrere Adivasi-Dörfer in den als 'Bodoland Territorial Authority Districts' ausgezeichneten und vom Bodoland-Territorial-Rat verwalteten Bezirken überfallen.

Bild: © Priyanka Borpujari/IPS

Nahrung ist in Flüchtlingslagern rar
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Die dort lebenden Adivasi, wie sich Indiens Indigene selbst bezeichnen, waren etwa 150 vor Christi Geburt aus Zentralindien nach Assam eingewandert. Später, unter der britischen Kolonialherrschaft, wurden sie zu Hunderten gewaltsam nach Assam gebracht, um dort auf den Teeplantagen zu arbeiten.

Zwischen 1996 und 1998 kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Adivasi und den Bodo. Bis zu 200 Menschen wurden dabei getötet. Viele Überlebende sind bis heute traumatisiert.

Die meisten Vertriebenen, die jetzt Zuflucht in den rund 120 Aufnahmelagern gefunden haben, wollen erstmal nicht wieder nach Hause - trotz der erbärmlichen Lebensbedingungen in den Camps. In dem Dorf Serfanguri in Kokrajhar haben sie keinen Zugang zu sanitären Anlagen. Männer und Frauen schlafen in getrennten Zelten.

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Mutter mit Kind, das an einer Hautinfektion leidet
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"Die Männer verbringen die Nächte in anderen Zelten und halten Wache. Nur weil es so kalt ist, können wir die Enge in den Zelten ertragen", berichtet Maino Soren aus dem Dorf Ulghutu, in dem vier Häuser niedergebrannt wurden. In dem Lager fehlt es an allem, auch an warmen Decken für den Winter.

Die andauernde Gewalt und Vertreibungen stellen für Indien, das nur über begrenzte Ressourcen verfügt, eine erhebliche Belastung dar. Immer wieder sehen sich die Zentralregierung und die Bundesstaaten mit dem Problem konfrontiert, die Flüchtlingsströme zu bewältigen.

Draußen sind sichtlich unterernährte Kinder zu sehen, die versuchen, Kekse gegen Palmzucker und Reis zu tauschen. Siebenjährige Mädchen balancieren auf ihren Köpfen Wasserbehälter vom nahen Rohrbrunnen zu den Zelten. Manche stolpern, weil die Last zu schwer ist. Andere helfen ihren Müttern beim Abwasch.


UN-Millenniumsziele in weiter Ferne

Die von der UN gesteckten Ziele bei der Armutsbekämpfung erscheinen hier in weiter Ferne. So wird es Indien kaum gelingen, bis Ende dieses Jahres den Anteil der untergewichtigen Kinder auf 26 Prozent zu senken. Laut den neuesten verfügbaren Daten, die im Zeitraum 2005 bis 2006 gesammelt wurden, sind etwa 40 Prozent aller Kinder untergewichtig.

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Frauen fangen Fische in den Sumpfgebieten nahe den Aufnahmelagern
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Zahlen der lokalen Bildungsbehörden belegen zwar, dass nahezu alle Kinder im Alter zwischen sechs und zehn Jahren inzwischen zur Schule gehen. Doch gewaltsame Zwischenfälle wie jüngst in Assam verhindern, dass sie kontinuierlich den Unterricht besuchen können.

Wie die Sozialaktivistin Anjuman Ara Begum berichtet, die sich die Zustände in den Flüchtlingslagern angesehen und an Berichten des Kontrollzentrums für Binnenfluchtbewegungen (IDMC) mitgewirkt hat, dürfen die Kinder aus den Notaufnahmelagern zwar die nahegelegenen Schulen besuchen. Doch würden ihnen die Mahlzeiten im Rahmen der Schulspeisungen vorenthalten. Am Ende würden sie nicht mehr zum Unterricht erscheinen.

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Der Schulbesuch dieses Flüchtlingsjungen ist zunächst unterbrochen
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Aus den Dörfern Balagaon und Jolaisuri, wo es Lager für Adivasi und Bodo gibt, wurde bekannt, dass mehrere Säuglinge der Vertriebenen erfroren sind. Bei Besuchen in den Lagern zeigte sich allerdings auch, dass für stillende Mütter und Schwangere keine zusätzliche Nahrung zur Verfügung stand.

Auch in anderen Teilen Indiens gefährden Gewalt und Konflikte die Gesundheit von Müttern und Kindern. Allein im Zentrum und Osten des Landes leben etwa 22 Millionen Frauen in Gebieten, in denen es jederzeit zu Kämpfen kommen kann. Der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen wird durch die Präsenz bewaffneter Gruppen und der Sicherheitskräfte verhindert.


Hohe Mütter- und Kindersterblichkeit

Für die indische Regierung wird es daher schwer, die Müttersterblichkeitsrate von 230 Todesfällen pro 100.000 Lebendgeburten auf 100 pro 100.000 zu senken. Das Land wird es voraussichtlich auch nicht schaffen, die Säuglingssterblichkeitsrate um 13 Prozent und die Sterblichkeitsrate bei Kindern unter fünf Jahren um fünf Prozent zu reduzieren.

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Eine in den Flüchtlingslagern typische Szene
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Aus einem kürzlich veröffentlichten Bericht der Kinderhilfsorganisation 'Save the Children' geht hervor, dass Indien diesbezüglich zu den Schlusslichtern in Asien gehört. 2012 verzeichnete das Land mit etwa 1,4 Millionen Todesfällen die höchste Sterblichkeit in der Altersgruppe der unter Fünfjährigen.

Auch der fehlende Zugang zu Sanitäranlagen hat gravierende Folgen. Ungefähr 636 Millionen Indern stehen keine Toiletten zur Verfügung, obwohl die Behörden sich wiederholt dazu verpflichtet haben, Abhilfe zu schaffen. (Ende/IPS/ck/2015)


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/01/conflict-related-displacement-a-huge-development-challenge-for-india/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 3. Februar 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Februar 2015


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