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ASIEN/935: Der chinesische Traum (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 3 vom 16. Januar 2015
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Der chinesische Traum
Die Volksrepublik China strebt einen neuen Platz in der Welt an

von Helmut Peters


Die Volksrepublik China hatte bisher aufgrund des für sie ungünstigen globalen Kräfteverhältnisses in den internationalen Angelegenheiten, solange die nationalen Interessen nicht betroffen waren, eine Politik der relativen "Zurückhaltung", des "Abwartens auf ihre Zeit" (taoguang yanghui) verfolgt. Das hat sich mit der Führung von Partei, Staat und Militär durch Xi Jinping geändert. Die neue Parteiführung ist dazu übergegangen, ihren politischen Kurs in einer Art Vorwärtsstrategie umzusetzen. Das erklärte Anliegen, das in den nächsten Jahrzehnten auf dem Weg des "Sozialismus chinesischer Prägung" erreicht werden soll, ist die "Renaissance der chinesischen Nation"(1). Xi Jinping hat dieses Ziel kurz nach seiner Wahl zum Generalsekretär offiziell verkündet und begründet: "Die Verwirklichung der großen Renaissance der chinesischen Nation ist der größte Traum der chinesischen Nation seit der Neuzeit. Das ist unser gemeinsamer 'chinesischer Traum'", "dafür haben Generationen hervorragender Söhne und Töchter Chinas unter Führung der KP Chinas gekämpft und das neue China geschaffen."(2) Und kurz darauf kommentierte die der Führung vorbehaltene Nachrichtenagentur Xinhua die ersten Arbeitswochen der neuen Parteiführung mit den Worten: "Die auf dem Parteitag gewählte neue kollektive Führung hat den Staffelstab der Geschichte übernommen, und die riesigen Räder des von ihr geführten Schiffes 'China' haben begonnen, die neue Fahrstrecke des 'chinesischen Traums' zu bewältigen."(3)

Schon die Bezeichnung der neu aufgestellten Außenpolitik in chinesischen Medien als "Außenpolitik der Ära Xi Jingpings" weist darauf hin, dass Xi in seiner Funktion als Generalsekretär der Partei selbst damit befasst ist, die heutige Außenpolitik des Landes maßgeblich zu konzipieren, zu verwirklichen und der Welt aufzuzeigen, dass auch sie von dem "chinesischen Traum" profitieren werde. Davon zeugen seine Staatsbesuche in über 30 Ländern auf sechs Kontinenten zwischen März 2013 und November 2014, um die internationale Zusammenarbeit Chinas weltweit zu intensivieren und zu vertiefen. In diese Aufgabe ständig einbezogen sind auch der Ministerpräsident Li Keqiang und weitere Mitglieder der höchsten Führungsebene.


Hintergründe, Charakter und Prinzipien der neuen Außenpolitik

Was erforderte bzw. ermöglichte den Übergang der KP Chinas zur Strategie, die Verwirklichung des "chinesischen Traums" aktiv in Angriff zu nehmen? Für mich spielen hier drei dialektisch miteinander verbundene Faktoren eine wesentliche Rolle.

Erstens, die Rückkehr der USA in die asiatisch-pazifische Region veränderte aus chinesischer Sicht das politische Gleichgewicht in dieser Region zuungunsten Chinas. China sieht sich veranlasst, darauf mit einer ökonomischen "Go west"-Strategie zu reagieren, um "das Gleichgewicht wieder herzustellen". Zu dieser Strategie gehört der Aufbau eines "Wirtschaftsgürtels der Seidenstraße" zu Lande von Nordwest-China durch Zentralasien nach Europa und die Entwicklung der "Seidenstraße des 21. Jahrhunderts auf dem Meer" von Südwest-China über Südostasien, Indien, Nairobi und das Mittelmeer nach Europa. Dazu gehört auch der von der APEC-Tagung im November in Beijing aufgegriffene chinesische Vorschlag, über die Einrichtung einer regionalen Freihandelszone nachzudenken.

Zweitens, die dialektischen Beziehungen zwischen Reform- und Öffnungspolitik erfordern, mit der Vollendung des Übergangs zu einer "modernen Marktwirtschaft im Innern auf dem Wege der "allseits zu vertiefenden Reform" die Integration der chinesischen Wirtschaft in die kapitalistische Weltwirtschaft weiter zu treiben, um sich auch die Ressourcen des Weltmarktes und die Triebkräfte der internationalen Marktwirtschaft voll erschließen zu können.

Drittens, die gravierenden Veränderungen im internationalen Kräfteverhältnis zugunsten Chinas und der anderen Schwellen- und Entwicklungsländer, die sich seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts und vor allem im Zusammenhang mit der internationalen Finanzkrise 2008 vollzogen haben, ermöglichen es Beijing, die Position der relativ zurückhaltenden Politik grundsätzlich zu verlassen und das strategische Ziel chinesischer Politik nunmehr offen und allseitig anzusteuern.

Was hat es mit diesem strategischen Ziel auf sich? Warum gibt es überhaupt einen "chinesischen Traum"? Historischer Ausgangspunkt ist die nationale Empfindung von Schmach und Schande über die Niederlage Chinas in den hundert Jahren vor 1949 durch die Kolonialpolitik der westlichen Mächte und die damit eingetretene Marginalisierung der alten Weltmacht in ein weltpolitisch unbedeutendes Land. Es geht gewissermaßen um eine Korrektur dieses "historischen Unfalls", um die Wiederherstellung der alten Größe Chinas unter den heutigen Bedingungen. Für chinesische Reformer im 19. Jahrhundert hieß das, China in ein "reiches Land mit einer starken Armee" (fuguoo qiangbing) zu verwandeln. Verkürzt zu "Wohlstand und Stärke" (fu qiang) findet sie sich heute in der Forderung Xi Jinpings wieder, China beschleunigt in ein "Land mit Wohlstand und starker Militärmacht" zu verwandeln.(4)

Die neue Außenpolitik ist vom Streben nach einer qualitativen Aufwertung des Platzes Chinas in der internationalen Machtstruktur geprägt. Während sich offizielle Verlautbarungen in der Frage, welchen Einfluss die Umsetzung des "chinesischen Traums" auf das internationale Kräfteverhältnis tatsächlich haben werden, zurückhalten, wird in den chinesischen Medien, offen über die "Großmachtpolitik chinesischer Prägung" geschrieben. Sie werde die globale Machtstruktur in ein neues Gleichgewicht bringen und die Verantwortung und Rechte in der Welt neu ordnen.(5) Hu Angang, einer der prominenten Wissenschaftler des Landes, geht noch weiter. China werde in der kommenden Zeit "aus der marginalen Position ins Zentrum vorstoßen", "aus der 'zweiten Welt' in die 'erste Welt' voranschreiten und zu einer 'Supermacht neuen Typs' werden". "Die Großmachtpolitik chinesischer Prägung", schreibt er, "ist in der Tat die außenpolitische Strategie einer 'Supermacht neuen Typs'".(6) Nur das übersteigerte nationale Selbstbewusstsein einiger Autoren? Wenn China tatsächlich den Status einer Supermacht gleich welchen Typs erreichen sollte, hätten die Kräfte, die eine neue, bessere Welt anstreben, damit ein neues Problem.

Zwiespältig in ihrer objektiven Auswirkung auf die internationalen Auseinandersetzungen sind für mich auch die Prinzipien und Wege, die die Umsetzung der chinesischen Außenpolitik prägen.

Unbestreitbar ist einerseits, dass China an den Prinzipien der friedlichen Koexistenz festhält, die Erhaltung des Weltfriedens für das Land aus den Erwägungen seiner eigenen Entwicklung heraus oberste Priorität hat, China sich grundsätzlich gegen die Hegemonieund Machtpolitik der USA wendet und die Existenz wie die Politik Chinas, die bestehende Weltordnung im Sinne der aufstrebenden Länder umzugestalten, diesen Ländern neue Entwicklungschancen eröffnet hat. Nicht nur transnationale Konzerne, sondern auch eine Reihe Länder werden ökonomisch weiter vom Aufstieg Chinas profitieren. Die chinesisch-amerikanischen Beziehungen haben dabei zwei Gesichter. Auf dem Hintergrund einer gegenseitigen ökonomischen Abhängigkeit stimmte Präsident Obama dem chinesischen Vorschlag zu, zwischen beiden Ländern "Großmachtbeziehungen neuen Typs" zu entwickeln, das heißt Konfrontationen zu vermeiden, sich gegenseitig zu respektieren, die gemeinsame Entwicklung zu fördern und zu gemeinsamem Nutzen die gegenseitige Interessenverflechtung zu vertiefen. Gleichzeitig verschärfen sich jedoch durch die militärische und ökonomisch angedachte Einkreisungspolitik der USA und die chinesische Reaktion darauf die Spannungen in den Beziehungen und verstärkt sich zusehends die chinesische Aufrüstung.

Andererseits ist nicht zu übersehen, dass sich China im Interesse seines Aufstiegs aus den Klassenauseinandersetzungen unserer Zeit weiter heraushält. Die chinesische Führung betreibt in diesem Sinne nicht nur eine ausgesprochen pragmatische Politik, sondern sie ist auch bestrebt, ihre eigene Weltsicht aktiv zu verbreiten. Für Xi Jinping ist die "gemeinsame Entwicklung aller Länder" eine "wichtige Grundlage für die weitere Entwicklung der Welt" (hier geht es nicht um Ökologie, sondern um allgemeine Politik - d. V.). Alle (z. B. China, die USA, Kanada, Russland, Kuba und die Entwicklungsländer - d. V.) säßen "im selben Boot" und sollten sich das "Bewusstsein einer Schicksalsgemeinschaft" aneignen, die der "Strömung der Zeit" folgt und die Welt ständig zu neuen Höhen führt.(7) Die chinesische Führung sucht die Länder und Parteien in der Welt, ob links oder rechts, "zu vereinnahmen" und verkündet, dass Chinas Aufstieg damit verbunden sei, eine "harmonische Welt" zu schaffen und alle Länder und Völker im Sinne der klassischen chinesischen Vorstellung von der "Großen Gemeinsamkeit"(Da tong)(8) zusammenzuschließen.

Xi Jinping erklärte, dass China niemals die "Kerninteressen des Staates" opfern, wie es auch die "Kerninteressen" der anderen Staaten nicht antasten werde. Das heißt aber auch, dass China die Kerninteressen der USA, der EU und anderer imperialistischer Mächte wiederum offiziell anerkennt und respektieren will. Diese chinesische Position bietet in ihrer heutigen Auslegung zudem Zündstoff für heiße Konflikte. So besteht durch die absoluten Ansprüche Chinas in den territorialen Streitigkeiten faktisch keinerlei Verhandlungsspielraum in dieser Frage. Der Sozialistischen Republik Vietnam bliebe da nur, auf eine Veränderung der chinesischen Politik zu hoffen, nachzugeben oder auf eine gewaltsame Konfliktlösung zu setzen. Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass Beijing versuchen wird, die Gegenseite z. B. durch in der ökonomischen Zusammenarbeit gewährte größere Vorteile zur Anerkennung der chinesischen Ansprüche zu bewegen.

Die grundsätzliche Widersprüchlichkeit in der chinesischen Außenpolitik ist also nicht zu übersehen. Sie widerspiegelt die objektiven und subjektiven Auswirkungen des Versuchs, die materielle Basis für den "Sozialismus chinesischer Prägung" mit Hilfe des Kapitals und der Integration in die kapitalistische Weltwirtschaft zu schaffen. Damit hat sich die traditionelle nationalistische Tendenz in der neuen und neueren Geschichte des Landes zum Nationalismus einer aufsteigenden Weltmacht ausgebildet. Ich bin mir nicht sicher, ob der "chinesische Traum" heute tatsächlich in der breiten Masse des chinesischen Volkes gelebt wird. Nicht zu bestreiten ist jedoch, dass er in der Zeit eines höchst schwierigen und unsicheren Umbruchs der chinesischen Gesellschaft als Instrument der Politik zur Disziplinierung und Mobilisierung der Nation genutzt wird.


China und Russland

Die Entwicklung der chinesisch-russischen Beziehungen ist unter zwei Gesichtspunkten von Interesse: Werden diese Beziehungen stabil genug sein, um dem Angriff Washingtons, das seine Hegemonie über die Welt mit allen Mitteln zu erhalten sucht, standzuhalten und den Weltfrieden sicherer zu machen? Wie werden sich die Beziehungen zwischen diesen beiden neuen Großmächten mit ihren auch divergierenden nationalistischen Interessen gestalten?

Die USA verfolgen die Strategie, zunächst das Russland Putins zu verwestlichen, um dann auch China ihrer Hegemonie- und Machtpolitik unterzuordnen. Wie wird sich China gegenüber diesem Vorgehen Washingtons weiterhin verhalten? Zwischen China und Russland besteht kein Bündnis, sondern nur eine strategische Partnerschaft, die jeder Seite Raum lässt, um im Fall, dass Interessen beider Seiten divergieren, sich von der Politik des Partners zu distanzieren. Was würde ein Triumph des Westens über das heutige Russland für China bedeuten? Der dadurch wahrscheinlich eintretende Anschluss Russlands an den Westen hätte für China gravierende Auswirkungen: Die NATO würde an China heranrücken, die Energieressourcen Russlands würden China wahrscheinlich nicht mehr, zumindest nicht mehr in der vereinbarten Größenordnung zur Verfügung stehen, und der "Go west"-Strategie Chinas wäre der Boden entzogen. Damit hätte sich die geostrategische Lage Chinas wesentlich verschlechtert. China dürfte wohl schon aus eigenem Interesse alles unternehmen, um das Russland Putins zu erhalten.

China und Russland verbindet heute mehr als der Kampf gegen die globale Vorherrschaft der USA. Ihre gemeinsamen Interessen widerspiegeln sich in der langfristig angelegten Kooperation in allen Bereichen der Wirtschaft, der militärischen Sicherheit, der Kultur und der Außenpolitik. Sie drücken sich in einer Reihe von Großprojekten aus in Bereichen der Infrastruktur, der Telekommunikation, dem Aufbau von Häfen und der Erschließung des russischen Fernen Ostens unter chinesischer Beteiligung. Beide Länder arbeiten gemeinsam an der Realisierung der multilateralen mittelfristigen Vorhaben der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, um die "drei großen Aufgaben" zu lösen: Schutz der Sicherheit, Förderung der Entwicklung und Integrität der Wirtschaften und Verbesserung des Lebens der Völker aller Mitgliedsländer. Gleichzeitig sind Vorbehalte und Divergenzen in den nationalen Interessen beider Länder, zum Teil auch grundsätzlicher Natur, nicht zu übersehen. Das wurde in der Debatte chinesischer Medien über die "Go west"-Strategie im September/Oktober 2014 deutlich. Russland wurde darin z. B. vorgeworfen, mit dem Anspruch auf "seinem Hinterhof" Zentralasien und der Eurasischen Wirtschaftsunion keinen Raum für China zu lassen.(9) Kurz danach vertiefte die Renmin Ribao in zwei Aufsätzen das Thema, um festzustellen, dass das chinesische Projekt des "Wirtschaftsgürtels der Seidenstraße" in allen Belangen der russischen Eurasischen Wirtschaftsunion überlegen sei. Offenbar durch offizielles Eingreifen ging die Debatte dann in eine konstruktive Diskussion über, wie die Beziehungen zwischen dem chinesischen Projekt "Wirtschaftsgürtel der Seidenstraße" und der russischen Eurasischen Wirtschaftsunion im Rahmen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit für beide Seiten annehmbar gestaltet werden können. Es wird nicht der letzte Dissens in der Gestaltung der chinesisch-russischen Beziehungen gewesen sein.


Anmerkungen:

(1) Der Begriff "fuxing" kann auch mit Wiederauferstehung oder Wiederbelebung übersetzt werden.

(2) Xi Jingping, Mit "dreimal unbedingt verwirklichen können" haben wir die Kraft für den chinesischen Traum, in: Xin Hua Wang v. 29.11.2012

(3) Kommentator, Mit "dem Vermögen, die drei Dinge unbedingt bewältigen zu können" haben wir die Kraft für den chinesischen Traum, in: Xinhua Wang v. 30.12.12

(4) Nanfang Zhoubao v. 21.2.14

(5) Ding Gang, Der Turm mit dem Blick aufs Meer: Die chinesische Außenpolitik vermittelt der Welt Energie, in: Renmin Ribao vom 28.3.2014

(6) Hu Angang, Durchdringende Analyse des "vorbildlichen Auftretens Chinas" in der Außenpolitik der Großmächte,, in: Renmin Ribao v. 18.2.2014

(7) Xi Jinping. Rede auf dem Asien-Forum 2013 in Boao auf Hainan am 7. 4.2013, in: Xinhua Wang v. 7.4.14

(8) Der Begriff "Da tong" steht in der traditionellen Auslegung auch für "Kommunismus".

(9) Cao Xin, Nach Westen oder nach Osten? Das ist wirklich ein Problem, in: Nanfang Zhoubao v.7.9.14

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 47. Jahrgang, Nr. 3 vom 16. Januar 2015, Seite 13
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Februar 2015

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