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ASIEN/995: Sozialkreditsystem in China - Totale Kontrolle oder Schließung regulatorischer Lücken? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2019

Totale Kontrolle oder Schließung regulatorischer Lücken?
Über das Sozialkreditsystem in China

Von Genia Kostka


Algorithmusbasierte Scoringsysteme werden immer weiter verbreitet. Ein Algorithmus bestimmt, wie gut oder schlecht eine Person bewertet wird, welche Vorteile sie dementsprechend genießt bzw. welche Strafen sie verdient - basierend auf ihrem Verhalten im Straßenverkehr, dem Einkauf im Internet und der Freundesliste in den sozialen Medien.

Bald soll dieses Szenario zum Alltag aller Chinesinnen und Chinesen gehören. Vor fünf Jahren beschloss der Staatsrat Chinas, dass bis 2020 weiter an einem Plan zur Einführung eines zentralen Sozialkreditsystems gearbeitet werden soll. In den nächsten Jahren soll es dann landesweit installiert werden, obwohl es hierzu noch keine Festlegung seitens der Regierung gibt. Bereits seit einigen Jahren testen die chinesische Regierung und Chinas große Technologiefirmen verschiedene Bewertungssysteme, welche das Verhalten von Bürgern, ebenso wie das von Unternehmen, Organisationen und Regierungsstellen analysieren. Das Sozialpunktesystem soll offiziell zum Aufbau einer ehrlicheren und vertrauenswürdigeren chinesischen Gesellschaft beitragen. Die Nutzung von Big Data und der Zugriff auf persönliche Daten der Bürger aus praktisch allen Lebensbereichen bedeuten für die Kommunistische Partei Chinas vor allem aber auch einen wichtigen Schritt in Richtung sozialer Kontrolle der Bevölkerung.

In über 40 chinesischen Städten finden bereits Pilotprojekte der Regierung statt, welche die Bürger und Unternehmen zum Beispiel mithilfe von Punktesystemen bewerten. Diese Versuchssysteme sind verpflichtend für die lokalen Bürger und Unternehmen. Das Bild dürfte einigen bekannt sein: Auf öffentlichen roten und schwarzen Listen werden besonders »aufrichtige« Menschen oder Unternehmen gewürdigt, daneben »Unaufrichtige« angeprangert. Technologieriesen wie Alibaba und Tencent betreiben zusätzlich freiwillige kommerzielle Sozialkreditsysteme, welche zum Beispiel als Handy-Apps genutzt werden können. Wie schon am Namen erkennbar, berechnen die verschiedenen Kreditsysteme nicht nur ökonomische Faktoren, sondern ebenso soziale Aspekte. Wer häufig Onlinespiele kauft, wird als weniger vertrauenswürdig eingestuft als jemand, der zum Beispiel Babywindeln kauft. Wer mit »unaufrichtigen« Personen online verknüpft ist, wird dadurch ebenfalls abgewertet. Wer für gemeinnützige Zwecke spendet, steigt in der Bewertungsskala.

Obwohl bislang noch kein landesweit gültiges System in Kraft getreten ist, kann bereits die Testphase Aufschluss über die Wirkung eines solchen Systems auf die Gesellschaft geben. Mit dem Ziel, Reaktion und Verhalten der chinesischen Bürger in Bezug auf die bereits existierenden Sozialkreditsysteme festzustellen, habe ich in 2018 eine Onlineumfrage mit über 2.200 Chinesinnen und Chinesen und separate Interviews durchgeführt. Die Ergebnisse ermöglichen teils überraschende Einblicke. Während hierzulande die Vorstellung eines auf künstliche Intelligenz gestützten Punktesystems zur Bewertung aller Menschen mit Überwachung und Verletzung demokratischer Grundwerte assoziiert wird und bei vielen auf Ablehnung und Sorge stößt, sind in China negative Stimmen in der Minderheit. Laut meiner Studie, welche die Gesamtheit der chinesischen Internetnutzer repräsentieren soll, heißen 80 % der Menschen ein Sozialkreditsystem »sehr gut« oder »relativ gut«. Der Anteil der Zustimmung mit »sehr gut« ist dabei mit fast 50 % aller Teilnehmenden der mit Abstand größte. Nur 1 % drückte leichte bis starke Ablehnung aus, während die übrigen 19 % neutral blieben. Diese letzte Zahl könnte jedoch darauf hinweisen, dass trotz außergewöhnlich hoher positiver Resonanz zumindest jeder fünfte Chinese nicht von dem Bewertungssystem überzeugt ist, ihm vielleicht sogar skeptisch gegenübersteht.

Passend zum hohen Beliebtheitsgrad des Sozialkreditsystems ist die Zahl der Umfrageteilnehmer, welche angaben, bereits freiwillig an solch einem teilzunehmen. Über 80 % nutzen kommerzielle Programme, wobei »Sesame Credit« der Favorit der meisten ist, gefolgt von »Tencent Credit«. Sesame Credit und andere kommerzielle Punktesysteme funktionieren spielerisch. Wie bei einem Computerspiel wird auf der App der eigene »Highscore« angezeigt, ebenso wie der der Freunde. Auch Fortschrittsanzeigen in den verschiedenen Bewertungskategorien sind erkennbar. Diese »Gamification«, also die Einführung spielerischer Elemente in einen spielfremden Kontext, motiviert unterbewusst zu besseren Leistungen und den Wettstreit mit Freunden um die beste »Leistung«. Dies erklärt teilweise, warum so viele Menschen sich freiwillig dem Bewertungssystem aussetzen - das neue »Spiel« will niemand verpassen, wenn die Freundin es hat, will man es auch.

7 % der an meiner Umfrage teilnehmenden Chinesinnen und Chinesen gaben an, Teil eines Pilotprojekts der Regierung zu sein. Tatsächlich lebten jedoch 43 % von ihnen in einem der Orte, an denen ein solches Pilotprojekt durchgeführt wird. Dies lässt auf noch mangelnde Aufklärung über das Thema in weiten Teilen der chinesischen Bevölkerung schließen. Ebenso verdeutlicht es aber auch, dass sich viele der Projekte noch in der Startphase befinden und offensichtlich die Aufmerksamkeit der betroffenen Bevölkerung kaum bis gar nicht geweckt haben. Ausnahmen sind Pilotprojekte wie das in Rongcheng in der Provinz Shandong, wo bereits seit 2014 ein Punktesystem alle Bürger der Stadt bewertet und das seither als das Aushängeschild des neuen Systems international bekannt geworden ist.

Ein weiteres überraschendes Ergebnis meiner Umfrage war, dass besonders Stadtbewohner sowie die Bevölkerungsgruppen mit dem höchsten Einkommen und Bildungsstand die stärkste Zustimmung für Sozialkreditsysteme zeigen. Hier kommt eines der zentralen Elemente des Punktesystems ins Spiel - Belohnung durch Boni und Vorteile bei »gutem Verhalten«. Preisnachlass beim Nutzen von Leihfahrrädern, besonders schnelles Check-in beim Fliegen oder im Hotel sowie Vorteile beim mobilen Bezahlen - in urbanen Gegenden ist die Bandbreite an möglichen Vorzügen am größten. Somit können sozial privilegiertere Menschen, die oft in Stadtgebieten leben, am meisten von diesen profitieren und kommen so am stärksten in den Genuss der positiven Seiten eines sozialen Kreditsystems.

Trotzdem bleibt ein bitterer Beigeschmack - warum gibt es keinen Aufschrei über den Verlust von Privatsphäre und Datenmissbrauch, wie es bei uns zu erwarten wäre? Auch diese Frage konnte im Rahmen meiner Studie beantwortet werden. In China gab es im Bankensektor lange strukturelle Probleme, Kredite konnte man teils nur schwer oder gar nicht bekommen. Firmen wie Ant Financial, ein Tochterunternehmen der Handelsplattform Alibaba und Entwickler von »Sesame Credit« helfen dabei, diese institutionellen Lücken im chinesischen System zu schließen. Zudem erschüttern immer wieder große Lebensmittelskandale das Land und viele Bürger leiden unter den von Firmen verursachten Umweltschäden. Da das Sozialkreditsystem auch Unternehmen bewertet, erwarten viele Bürger, dass dies auch zu mehr Transparenz und der Einhaltung von Vorschriften und Regularien führt. Denn eine Abwertung im Punkterating könnte dazu führen, eine Firma in den Ruin zu treiben. Ganze drei Viertel der befragten Studienteilnehmer gaben an, dass es ihrer Meinung nach ein Vertrauensproblem in der chinesischen Gesellschaft gebe und Sozialkreditsysteme ein gutes Mittel seien, dieses zu bekämpfen. Die Sorge um den Missbrauch ihrer Daten für Überwachungszwecke seitens der Regierung wurde kaum geteilt; die meisten sind davon überzeugt, dass ihre Daten dem chinesischen Sicherheitsapparat sowieso frei zugänglich seien.

Obwohl der Missbrauch von persönlichen Daten in China bislang kein großes Thema ist, schätzt doch die Mehrheit der chinesischen Bevölkerung die eigene Privatsphäre. Mehr als die Hälfte der Umfrageteilnehmenden gaben an, die Datenschutzeinstellungen bei der Nutzung eines kommerziellen Sozialkreditsystems geändert zu haben. Vielleicht wird sich die allgemeine Einstellung zum Datenschutz in China noch verändern, wenn mehr und mehr Menschen das massenhafte Datenauswerten durch mögliche Folgen wie negative Klassifizierungen und einhergehende Benachteiligungen im Alltag bis hin zu Strafen schmerzhaft zu spüren bekommen. Auch die Beziehung zwischen den Technologiefirmen und der Regierung sowie das Weitergeben von Daten an letztere könnten irgendwann den Missmut der Bevölkerung hervorrufen. Bislang scheinen jedoch die Aussicht auf Vorteile durch gutes Benehmen und die gerechte Bewertung aller Bürger und Unternehmen die allgemeine Meinung zu bestimmen.

Hierbei ist es interessant zu beobachten, dass offensichtlich positive Anreize eine stärkere Auswirkung auf das Verhalten der Menschen haben als die Angst vor negativen Konsequenzen. Dies zeigt ebenfalls meine Studie von 2018: Die Zahl der Menschen, die angaben, ihr Verhalten geändert zu haben, um ein besseres Rating zu erhalten, ist höher als die Zahl derer, die es aus Angst vor einer Strafe oder Einschränkung taten. Eines ist jedoch unbestreitbar: Das Wissen um eine Bewertung der eigenen Handlungen mit Punkten führt zu einer Veränderung des Verhaltens. Beinahe alle Chinesinnen und Chinesen, die wissentlich Teil eines Pilotprojekts der Regierung sind, haben in mindestens einem Aspekt anders gehandelt als sie es sonst getan hätten. Die Reaktion auf kommerzielle Kreditsysteme ist etwas schwächer, doch auch hier weicht ein Großteil der Nutzer von seinem normalen Verhalten ab. Menschen unter einem Punktesystem der Regierung gehen öfter freiwilligen Tätigkeiten nach oder spenden Geld. Diejenigen, die »Sesame Credit« oder eine ähnliche App nutzen, ändern ihr Shopping- und Bezahlverhalten. Doch auch das unfrienden einer Person in den sozialen Medien, also das Kappen der Onlineverknüpfung zu einem anderen Menschen, ist keine seltene Reaktion auf den Punktealgorithmus hinter den Sozialkreditsystemen - 17 % gaben an, dies bereits getan zu haben. Es überrascht nicht, dass auch das Verbreiten der eigenen Meinung oder von Inhalten im Internet nicht unverändert bleibt. Fast jeder fünfte Chinese hat bereits andere Dinge im Internet verbreitet, als er oder sie es in einer unbewerteten Situation getan hätte, um einen negativen Einfluss auf die eigene Sozialkreditbewertung zu vermeiden. Einige Tendenzen sind also schon heute erkennbar: Es ist ein System mit gleicher Bewertung aller - Strafen für diejenigen, die sich nicht an Vorschriften halten und Belohnungen für all jene, die »gut und richtig« leben -, das aber keine »anderen« Meinungen und keine »schlechten« Freunde duldet und ein Land repräsentiert, das sich für die Moralvorstellungen der regierenden Partei verbiegt.


Genia Kostka ist Professorin für Chinesische Politik an der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Digitale Transformation, Umweltpolitik und Politische Ökonomie in China.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2019, S. 22 - 25
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung
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Internet: www.ng-fh.de, E-Mail: ng-fh@fes.de
 
Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Dezember 2019

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