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EUROPA/778: Italien - Renaissance des Reformismus (spw)


spw - Ausgabe 7/2009 - Heft 175
Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft


Renaissance des Reformismus
Pierluigi Bersani und die sozialdemokratische Neuorientierung der Demokratischen Partei

Von Christina Ujma

Während europaweit Sozialdemokratie und progressive Kräfte schwächeln, zeigen die verschiedenen Bestandteile der italienischen Linken ihre Stärke auf den Piazzas und Straßen des Landes. Mit der Mobilisierungsfähigkeit und der Vielfältigkeit der italienischen Linken kann in Westeuropa gegenwärtig keiner mithalten. Das hat sich auch im heißen Herbst 2009 gezeigt, in dem kaum eine Woche ohne Großdemonstration gegen die Regierung Berlusconi verging. Die Protestintensität war so stark, dass es schwer fiel, noch freie Wochenenden für die verschiedenen Proteste zu finden, denn seit Anfang Oktober haben jedes Wochenende Hunderttausende für die Pressefreiheit, gegen Ausländerfeindlichkeit, Frauenfeindlichkeit, Bildungsabbau, gegen die Verarmung des Südens und Sozialabbau demonstriert. Die Linksgewerkschaft CGIL, die die meisten dieser Kundgebungen mitorganisierte, hat daneben auch noch zahlreiche Streiks und Kundgebungen gegen die Aushöhlung gewerkschaftlicher Rechte und den Abbau des Flächentarifvertrages organisiert.


Pierluigi Bersanis Rückkehr zur Sozialdemokratie

Das wichtigste parteipolitische Ereignis dieses Herbstes war aber unbestreitbar die Wahl des neuen PD Vorsitzenden Pierluigi Bersani. Auch hier spielte die Piazza eine wichtige Rolle, denn am 25. Oktober standen über 3 Millionen ItalienerInnen auf italienischen Plätzen Schlange, um ihre Stimme in den Primaries der PD abzugeben. Diese Vorwahlen, bei denen alle wahlberechtigt waren, die sich als UnterstützerInnen der Demokratischen Partei betrachteten, gewann Bersani eben so eindeutig, wie die Urwahl der Mitglieder der Partei. Es ging bei diesem langwierigen Prozess nicht nur um Personen, sondern mindestens genauso stark um Inhalte. Alle drei Kandidaten, der Interimsvorsitzende Dario Franceschini, der Außenseiter Ignazio Marino, und eben Bersani selber, kandidierten mit wohlausgearbeiteten inhaltlichen Plattformen, die monatelang Gegenstand der Diskussionen der PD und ihres Umfelds waren. Auch hier zeigte sich noch einmal, dass die Kommunikation der Partei mit ihren UnterstützerInnen funktioniert, denn Hunderttausende beteiligten sich an den Wahlkampfveranstaltungen in ganz Italien und am Ende gab es sogar noch ein Fernsehduell der drei Kandidaten. Bersani konnte landesweit mit seiner dezidierten Rückkehr zu traditionellen sozialdemokratischen Themen überzeugen. Für ihn steht das Thema Arbeit im Mittelpunkt, hier vor allem der Kampf gegen die vielen prekären und unterbezahlten Arbeitsverhältnisse. Bersani plädiert leidenschaftlich dagegen, Italien vor allem als Wirtschaftsstandort zu begreifen, in dem es um Profitmaximierung auf Kosten der ArbeitnehmerInnen geht, wobei er besonders auf die niedrigen Frauenlöhne und die prekären Arbeitsverhältnisse der jungen ArbeitnehmerInnen abzielt. "Wenn die Arbeit ihre Würde verliert, dann wird auch die Demokratie geschwächt", sagt er. Dagegen setzt Bersani ein klar reformistisches Programm, das sich gegen die Marktgläubigkeit in Stellung bringt und auf die Stärkung der ArbeitnehmerInnenrechte setzt. Sowohl bei Bersani als auch bei seinem Kontrahenten Franceschini findet sich eine Renaissance der alten sozialdemokratischen Forderung nach Gleichheit. Dies bezieht sich nicht nur aufs Arbeitsleben, sondern auch auf gleiche Rechte für Männer und Frauen. Zusätzlich wird noch eine umfassende soziale Absicherung für ArbeitnehmerInnen und besonders für Frauen propagiert, um sie aus der Abhängigkeit vom männlichen Ernährer zu befreien. Diese Maßnahmen, die gar nicht bescheiden als Kopernikanische Wende in der Arbeits- und Sozialpolitik beschrieben werden, beinhalten natürlich die mittlerweile in Europa üblichen Forderungen nach einem Mindestlohn und einer Reform des Bildungswesens. Besonderes Augenmerk liegt auch auf der Verbesserung der staatlichen Infrastruktur in Süditalien, die bewirken soll, dass der Süden nicht weiter verarmt und abgehängt wird. Der Kampf gegen Korruption und Mafia spielen ebenso eine Rolle wie ein kräftiges Bekenntnis zu einer ökologischen Politik.


Auf dem Weg zur Kopernikanischen Wende

In Europa ziemlich einmalig ist die Rolle, die die Themen Gleichheit und Arbeit in Bersanis Programm spielen. Bei dieser programmatischen Wende kann er sich durchaus auf prominente Gewährsleute berufen, nicht zuletzt der Philosoph und MicroMega Herausgeber hat in einem vieldiskutierten Aufsatz mit dem Titel "Die DNA der Sozialdemokratie" festgestellt, dass die große Schwäche der Schröder-Blair Strömung der europäischen Sozialdemokratie die Vernachlässigung des Themas Gleichheit gewesen sei, das elementarer Bestandteil der DNA der Sozialdemokratie ist (Il Manifesto, 28.10.2009). Mit Blick auf die deutschen und die englischen Genossen stellt der Vordenker der linksbürgerlichen Opposition Italiens fest, dass Hilfskonstruktionen wie Chancengleichheit, Chancengerechtigkeit oder Zugangsgerechtigkeit, die an die Stelle des alten sozialdemokratischen Kernbegriffs traten, wenig Überzeugungskraft erlangten und an ihrer Umsetzung auch nicht wirklich gearbeitet wurde. Aber ohne Gleichheits- und Gerechtigkeitsforderungen würde die Sozialdemokratie teilweise ihre Existenzberechtigung verlieren, so D'Arcais weiter.

Zumindest programmatisch hat Pierluigi Bersani eindeutige Konsequenzen aus dem Debakel der europäischen Sozialdemokratie gezogen. Weniger deutlich als mit diesem Programm kann man sich wohl nicht von der Schröder-Blair Linie verabschieden, der Bersanis im Februar 2009 zurückgetretener Vorgänger Walter Veltroni bedingt zuneigte. Dies ist immerhin ein erster Schritt auf dem Weg zu einer Kopernikanischen Wende. Mit seinem reformistischen Programm, das die PD quasi in eine Partei der Arbeit verwandelt, hat er für einige innerparteiliche Unruhen gesorgt, denn damit hat er den Charakter der Partei nicht unwesentlich verändert. Die wurde nämlich im Oktober 2007 als Fusion aus der postkommunistischen DS und der linkskatholischen Margherita gegründet. Dieser Zusammenschluss, der auch der von Giddens stammenden Maxime folgte, dass die alten arbeiterbewegten Politikformen und die traditionellen Milieus obsolet seien, sollte nun alle progressiven Kräfte in einer Art postsozialdemokratischen Partei vereinen, die zumindest in der Vorstellung des Gründungsvorsitzenden Walter Veltroni eher den amerikanischen Demokraten als der alten PCI oder den sozialistischen Parteien Europas ähneln sollte. Das hat der starke sozialdemokratische Flügel um Ex-Parteichef Massimo D'Alema von Anfang an zu verhindern gewusst, aber das Resultat dieser Fusion war bestenfalls eine ziemlich entsozialdemokratisierte Sozialdemokratie, die bei den letzten Wahlen zusammen mit ihren kleinen Partnern 37 Prozent erreichte, was als gravierende Niederlage betrachtet wurde. In dieser Wahl, wie auch in den folgenden regionalen Wahlen wurde deutlich, dass genau jene, von denen man meinte, es gebe sie nicht mehr oder sie würden keine Rolle mehr spielen, der PD in Scharen davon liefen. Die Arbeiter und Arbeiterinnen sind vielfach zu den Parteien aus Berlusconis Bündnis übergegangen, die jungen Arbeitslosen und die Prekären gehen teilweise gar nicht mehr wählen. Insofern hat Bersani mit seiner programmatischen Wende auch die Notbremse gezogen, was ihm der christdemokratische Parteiflügel nach einigem Grummeln mehrheitlich verziehen hat, zumal er mit der christdemokratischen Sozialpolitikerin Rosy Bindi als Präsidentin der Partei und Bersanis unterlegenem Kontrahenten Dario Franceschini an der Spitze der Fraktion personell großzügig entschädigt wurde.


Von Facebook auf die Piazza

Die Ernennung Franceschinis zum Fraktionsvorsitzenden zeigt bereits, dass Bersanis Prioritäten nicht in der parlamentarischen Politik liegen. Sein Ziel ist ein breites gesellschaftliches Bündnis, dabei hat er nicht nur die anderen progressiven Parteien im Visier, sondern auch die zahlreichen sozialen Bewegungen und Initiativen. Zusammen mit der Gewerkschaft CGIL haben diese mit ihren Demonstrationen und Aktionen in den vergangenen Monaten die eigentliche Opposition gegen Berlusconi gebildet, denn die Piazza ist der einzige Raum, der der Linken geblieben ist, sagte unlängst der Krimiautor Andrea Camilleri, der sich seit langem links engagiert (L'Unita, 3.12.2009). Die dialektische Beziehung von parlamentarischer Parteipolitik und der zivilgesellschaftlichen Politik der sozialen Bewegungen, die Bersani in seiner großen Rede auf dem Parteitag der PD beschwor, soll die Partei in der Zivilgesellschaft voranbringen. Diese Strategie bietet aber nicht nur Chancen, sondern auch Fallstricke, denn die PD und die Bewegungen haben sich in den zwei Jahren, in denen Veltroni und Franceschini den Vorsitz innehatten, sehr von einander entfernt und die Bewegungen haben nicht auf Bersani gewartet oder sind bereit ihre Politik wegen des neuen PD Vorsitzenden zu ändern. Der mag noch sehr die Autonomie der neueren und älteren sozialen Bewegungen beschwören, am Ende hat er doch ein Politikverständnis, das von der alten PCI, der legendären eurokommunistischen Partei Italiens geprägt wurde, in deren Kontext Bewegungen außerhalb der Arbeiterbewegung immer mit Misstrauen betrachtet wurden.

Das Fremdeln zwischen PD und den neuesten sozialen Bewegungen wurde am 5. Dezember, am internationalen No Berlusconi Day deutlich, mit dem die Partei wenig anfangen konnte. Der Protesttag war ein echter Event der Zivilgesellschaft, der von Initiativen und Bewegungen basisdemokratisch organisiert wurde. Die Mobilisierung lief weniger über die üblichen Kanäle, sondern vor allem über Facebook, Twitter und Youtube, die die Zielgruppe jener Kommunikationskanäle, d.h. ein vorwiegend junges Publikum ansprachen. Die etablierten außerparlamentarischen und parteipolitisch angebundenen Bewegungen staunten nicht schlecht über die plötzliche Politisierung einer Generation, der man nicht zugetraut hatte, dass sie sich jemals für etwas anderes als ihre Klamotten, ihr Styling oder ihre eigenen Zukunftsperspektiven einsetzen würden. Man war schon froh, dass sie sich im letzten Jahr in den zahlreichen Protesten gegen einschneidende Bildungskürzungen und die Hochschulmisere aufraffen konnte. Entsprechend unbedarft waren dann auch die politischen Statements, No Berlusconi bzw. weg mit Berlusconi war der kleinste gemeinsame Nenner und mehr als die Forderung nach Berlusconis Rücktritt stand nicht auf der politischen Agenda. Dafür war der Protesttag ausgesprochen gut gelaunt, die Farbe der Bewegung war lila und die Kostüme phantasievoll. Was den politischen Statements an Tiefe und inhaltlicher Differenzierung fehlte, das machten engagierte Songs und künstlerische Darbietungen wett, kurz: allen Beteiligten machte der No Berlusconi Tag sichtlich Spaß. Die überwiegend jungen Leute mochten politisch unbedarft sein, die Tatsache, dass die Lieder, die auf der Piazza angestimmt wurden, die Hymnen der italienischen Linken wie Bella Ciao oder Cento Passi waren, zeigt, dass die DemonstrantInnen zumindest vom Selbstgefühl her linker waren, als ihnen die etablierte Linke abnehmen wollte. Es mögen 350.000, 500.000 oder eine Million DemonstrantInnen gewesen sein, wie die VeranstalterInnen behaupten, es war jedenfalls beeindruckend, dass sie einen drei Kilometer langen Demonstrationszug weitgehend ohne parteipolitische Unterstützung oder Hilfe von Großorganisationen auf die Straße gebracht haben. Überraschend war auch die Tatsache, dass junge Italiener und ihre einheimischen Freunde in der ganzen Welt protestierten: in London, Paris, Madrid, München oder Schottland fanden Kundgebungen statt. Natürlich auch in Berlin, am Brandenburger Tor, wo einige hundert junge ItalienerInnen ihrem Unmut über ihren Premierminister Luft machten, trug die Veranstaltung den Charme des Aufbruchs und politischen Neubeginns.


Bürgerliche und sozialdemokratische Linke

Es scheint fast so, als sei der italienischen Linken ohne eigenes Zutun eine Jugendbewegung zugelaufen. Wie in Italien nicht unüblich, bewog der unerwartete Erfolg, den die InitiatorInnen mit ihrem Aufruf hatten, viele progressive Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens mitzumachen. Die ehemaligen Christdemokraten innerhalb der PD und viele Linksintellektuelle waren ebenfalls mit Begeisterung dabei. Der sozialdemokratische Mehrheitsflügel der PD und Bersani mochten sich nicht anschließen, ihnen war das Ganze zu unpolitisch und unausgereift. Womit sie sicherlich recht hatten, aber der Populismusvorwurf gegen die Jugendinitiative ist nur bedingt tragfähig. Denn die ist anders als der gegen Berlusconi engagierte Showmaster Beppe Grillo oder der ehemalige Anti-Mafia Staatsanwalt Antonio di Pietro und seine Partei Italia dei Valori nicht populistisch aus PR Kalkül, sondern weil ihnen bislang wirklich wenig mehr als die Formel: Berlusconi muss weg, einfällt. Bersani sagt dagegen, dass er Personalisierungen, Schlammschlachten und populistische Politikformen ablehnt und durch inhaltliche Fundiertheit und nachhaltige Politisierung gegen die Rechte gewinnen will. Von der Forderung nach Berlusconis Rücktritt sind zahlreiche Linke auch deshalb nicht begeistert, weil Nachfolger im Amt des Premierministers vermutlich Gianfranco Fini werden wird. Der zum christsozialen Politiker geläuterte ehemalige Vorsitzende der postfaschistischen Partei agiert um einiges rationaler und seriöser als der jetzige Premierminister und wäre für die von Bersani geplante Wahlallianz der Parteien links von Berlusconi sicherlich der schwierigere Gegner.

Am 11.12, d.h. eine Woche nach dem Anti Berlusconi Tag, war der linke Gewerkschaftsdachverband CGIL unter Beifall der PD mit Generalstreik und Großdemonstrationen an der Reihe. Ihr Ansinnen war der Erhalt von sozialen und gewerkschaftlichen Rechten, sowie der Protest gegen die nach Auslaufen der italienischen Kurzarbeiterregelung rasant angestiegene Arbeitslosigkeit. Auch die CGIL schaffte es Hunderttausende zu mobilisieren, sowie die Unterstützung zahlreicher Künstler, Intellektueller und Geistschaffenden zu gewinnen. Abgesehen von kleineren Linksparteien wie Sinistra e Liberta, die sich für beide Aktionstage engagierten, spiegelten die getrennten Großproteste aber eine klare Spaltung zwischen linksbürgerlicher und linkssozialdemokratischer Bewegung wieder. Solange beide Strömungen dermaßen mobilisierungsfähig sind, erscheint diese Spaltung tendenziell als ein Luxusproblem; vor allem im Vergleich mit der Situation nördlich der Alpen, wo es allen drei Linksparteien und den Gewerkschaften zusammen schwerfallen dürfte, auch nur eine solche Aktion auf die Beine zu stellen. Um aber einen Erfolg des von Bersani, wie von CGIL Chef Epifani, angestrebten sozialen Blockes der progressiven Kräfte zu ermöglichen und bei den nächsten Wahlen nicht nur Berlusconi sondern die Rechten insgesamt abzulösen, können es sich die Kräfte der inner- und außerparlamentarischen Opposition aber nicht wirklich leisten, getrennt zu marschieren und nur gelegentlich gemeinsam zu agieren, sonst gibt es eine wiederholte Wiederholung der alten Querelen und Konflikte, die die linke und progressive Basis bei den letzten Wahlen in massenhafte Wahlenthaltung oder in die Arme der rechten Parteien getrieben hat.


Dr. phil. Christina Ujma ist Wissenschaftlerin und Publizistin und lebt in Berlin.


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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 7/2009, Heft 175, Seite 51-55
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Februar 2010