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INITIATIVEN/008: Ni'lin - Gewaltfreier Widerstand gegen die israelische Besatzung (Gabi Bieberstein)


Ni'lin, Palästina: Gewaltfreier Widerstand gegen die israelische Besatzung

Vortragsreise von Saeed Amireh durch Europa

von Gabi Bieberstein, 11. Dezember 2011

Saeed Amireh - © Manfred Malarz

© Manfred Malarz

Der 20-jährige Saeed Amireh, Vertreter des gewaltfreien Widerstands aus Ni'lin, Palästina, wurde vom schwedischen Parlament eingeladen und nach Deutschland vom Koordinationskreis Palästina Israel (KoPI), der Gruppe für Demokratie im arabischen und Mittelmeerraum (DeAM) und vom Internationalen Versöhnungsbund Deutscher Zweig.

Saeed Amireh berichtete drei Monate lang in vielen europäischen Städten auf eine sehr persönliche und eindrucksvolle Weise über das Leben in seinem Dorf Ni'lin sowie über den gewaltfreien Widerstand und die brutale Antwort der israelischen Armee.


Ni'lin - Eintauchen in eine andere Welt

Wer nach Ni'lin reist, taucht quasi in eine andere Welt ein, sagt Saeed Amireh. In dem Ort nahe von Ramallah gibt es keine Marktstraßen, keine Bushaltestelle, keine Kulturstätten und öffentlichen Parks. In Ni'lin gibt es Wohnhäuser, Schulen, wenige Läden für die Waren des täglichen Bedarfes - und die Mauer. Die israelische Mauer verläuft durch palästinensisches Gebiet. Der Staat Israel hat rund um Ni'lin fünf Siedlungen gebaut; die Palästinenser sprechen von Kolonien. Außerdem hat er den israelischen Siedlern landschaftliches Gelände zur Verfügung gestellt und eine Landstraße zur Verbindung der Siedlungen gebaut. Alles darf nur von Israelis und nicht von Palästinensern genutzt werden; nach internationalem Recht ist dies illegal.

Im Jahre 1967 gab es in seinem Dorf mehr als 12.000 Einwohner. Nun sind es gerade einmal 5.000. Grund dafür sind die Unterdrückung, der die Bevölkerung seit 1967 gegenübersteht - durch all die Enteignungen, durch die Errichtung dieser fünf illegalen Siedlungen, der Apartheid-Straße und der Apartheid-Mauer. Dagegen verfügt die israelische Kiryat-Sefer-Siedlung im Südosten über mehr als 43.000 Siedler. Sie wurde erst im Jahre 1997 errichtet. Die anderen israelischen Siedlungen dort verfügen über 500 bis 2.000 Siedler.

In Zukunft soll Ni'lin ganz isoliert werden; die Bewohner werden das Dorf nur durch ein Tor verlassen können, das um 6 Uhr morgens geöffnet und um 18 Uhr abends geschlossen wird.


"Es geht um unsere Würde!"

In Ni'lin gibt es unzählige Arbeitslose, nächtliche Razzien, Schüsse, Verletzte, Verhaftete, Tote - und den gewaltfreien Widerstand gegen Landnahme, Besat­zung und Mauer, der auch international zunehmend Aufmerksamkeit bekommt.

"Es geht uns nicht um eine Einstaaten- oder eine Zweistaatenlösung, es geht nicht um Namen, es geht um einen gerechten Frieden, um Freiheit und es geht um unsere Würde!" sagt Saeed Amireh.


Gewaltfreier Widerstand in Ni'lin, Palästina

Und er fährt fort: "Gewaltfreier Widerstand ist sehr viel mächtiger und effektiver als anderer. Er ist keineswegs schwach, sondern erfordert sogar mehr Mut... Wir konnten damit weltweite Unterstützung erlangen."

Der arabische Nachrichtensender Al Jazeera hat begonnen, für eine Dokumentation zu recherchieren. Diese wird berichten, auf welche Weise der Widerstand in palästinensischen Dörfern wie Ni'lin den "arabischen Frühling" inspiriert hat.

Die israelischen Besatzer wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Auch in den Wikileaks-Dokumenten war zu lesen, dass die Armee mit friedlichen Demonstrationen gegen die Mauer überfordert sei. Amos Gilad, Mitglied des Generalstabs der israelischen Streitkräfte, wird darin zitiert: "We don't do Gandhi very well."(1)

Saeed Amireh verweist auf Erfolge rund um die Erde, z. B. die britische Besetzung in Indien, die ja auch durch gewaltfreien Widerstand beendet wurde, sowie auf das Apartheid-System in Südafrika.

2004 begannen die Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner mit dem gewaltfreien Widerstand gegen den Mauerbau. "Nach den damaligen Planungen sollte die israelische Mauer so gebaut werden, dass sie unser Dorf weitgehend aufgelöst hätte", so Saeed Amireh. "Zwischen 2004 und 2008 sind wir aus unserem Dorf ausgezogen, errichteten Zelte auf dem Baugelände und haben es somit besetzt. Auf diese Weise hinderten wir Israel daran, die Mauer nach Plan zu errichten, und haben dadurch 150 ha Land gerettet, das von Israel beschlagnahmt werden sollte."

2008 entwickelten sie ihre Strategie weiter und gründeten ein Volkskomitee, in dem alle politischen Parteien, die Bauern und die Familien vertreten waren. Sie organisierten sich international und mit israelischen Aktivisten sowie Medien.

Sie haben ausschließlich friedlich protestiert. Um dies zu demonstrieren, hoben sie ihre Hände und riefen: "Wir wollen Frieden und diese Mauer wird den Frieden nicht befördern."


Brutales Vorgehen der israelischen Armee gegen den gewaltfreien Widerstand

Die israelischen Soldaten reagierten brutal, wie Saeed Amireh berichtet:

"Die israelische Armee hat einen großen Vorteil. Sie weiß, dass die Medien kaum über uns berichten. Das gab ihr sehr viel Raum für ein extrem grausames Vorgehen gegen uns:

Eine viertätige Ausgangssperre wurde verhängt und ein 10jähriges Kind getötet. Sein Name war Ahmad Mousa. Ein Soldat schoss ihm direkt in den Kopf. Und ich war gerade ganz nah bei Ahmad. Ich war damals 16 Jahre alt... Dann folgte die Erschießung eines 17jährigen Jungen. Er war ein Familienangehöriger und mein Freund, sein Name war Youssef Amireh... Wir bestatteten ihn am 4. August 2008. Und dann wurden weitere drei Leute getötet...

Nun führten die Soldaten nächtliche Überfälle auf sehr brutale Art und Weise durch. Sie fuhren in unser Dorf und verschleppten willkürlich 350 Dorfbewohner."

Saeed Amireh wurde selbst als Aktivist während gewaltfreier Demonstrationen bereits mehrfach angeschossen, wurde verhaftet und für vier Monate in ein Gefängnis in Israel gesperrt. "Ich war gerade 17 Jahre alt und war in meinem Abschlussjahr in der Schule. Meine Zukunft hing von diesem Schuljahr ab. Mit der Inhaftierung wollten sie meine Zukunft zerstören und damit auch meinen Vater bestrafen."

Aber nicht nur er, sondern seine ganze Familie ist am Widerstand beteiligt und von dem oft brutalen Vorgehen der israelischen Soldaten betroffen: seine kleinen Schwestern wurden angeschossen, und sein Vater, Ibrahim Amireh, war, als einer der drei Anführer des friedlichen Widerstandes in Ni'lin, für ein Jahr inhaftiert und wurde wie viele andere gefoltert.

Israel versucht durch zunehmende Gewalt den gewaltfreien Widerstand der Palästinenser in Ni'lin und vielen anderen Orten zu brechen und sie auch zu provozieren, von ihrem gewaltfreien Weg abzugehen. Vor Beginn von gewaltfreien Demonstrationen schießen Scharfschützen der israelischen Armee bereits mit scharfer Munition von den Dächern des Dorfes gezielt auf Menschen. Internationale und israelische Friedensaktivisten unterstützen den Widerstand in Ni'lin.

Saeed Amireh spricht auch über die Waffen, die die israelische Armee verwendet:

• eine Sorte von Tränengas, das "Raketentränengas" (rocket tear gas) genannt wird:
Das Gehäuse davon kann Mauern zerstören. Die Soldaten schießen damit auch in Häuser, was zu Fehlgeburten und missgebildeten Kindern geführt hat. Die Reichweite beträgt mehr als 500 m. Es ist schwer zu sehen und absolut geräuschlos. 150 Menschen haben lebenslange Behinderungen davon bekommen. Einen amerikanischen Aktivisten schossen sie damit in den Kopf. Er lag 1 ½ Jahre im Krankenhaus.
Und als Saeed Amireh bereits wieder in Palästina war erlag am 10. Dezember 2011 ein junger Palästinenser, der bei einer gewaltfreien Demonstration mit einer Tränengasgranate beschossen worden war, seinen Verletzungen.(2)

• so genannte Gummigeschosse:
Dieser Begriff ist irreführend. Denn es handelt sich um 0.22 Kaliber-Geschosse, die mit Gummi ummantelt sind. Der Kern ist aus Stahl, so dass die Geschosse tödlich sein können. Sie explodieren im Körper. Solche Waffen sind nach internationalem Recht verboten.

In der Zeit als Saeed Amireh in Deutschland war wurden am 11. November wieder vier friedliche Demonstranten in Ni'lin durch so genannte Gummigeschosse der Armee verletzt.(3)


Gewaltfreier Widerstand in ganz Palästina

Der gewaltfreie Widerstand gegen die israelische Besatzung ist in Palästina sehr weit verbreitet, auch in Gaza. Dort wird dagegen protestiert, dass die Palästinenser 20 % des Gaza-Streifens - nämlich den Bereich, der nahe an Israel liegt - nicht betreten dürfen sowie gegen Häuserzerstörungen und das Verbot zu fischen.

Gerade im Westen wird die große Bedeutung des gewaltfreien Widerstands der Palästinenser sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart oft nicht zur Kenntnis genommen.(4)

Von der Palästinensischen Autonomiebehörde wird der gewaltfreie Widerstand nicht unterstützt, weil diese sehr stark von Israel unterdrückt wird.


Was kann jeder einzelne tun?

Alle Teilnehmenden waren von den Veranstaltungen tief beeindruckt, insbesondere auch von der Entschlossenheit und dem Mut der Demonstranten und ihrer konsequenten Gewaltfreiheit. Eine wichtige Frage war, was wir persönlich dazu beitragen können, dass die Besatzung beendet wird und es zu einem gerechten Frieden kommt.

1. Es gibt verschiedene Möglichkeiten zur Unterstützung. Die wichtigste ist, die deutsche Regierung zu drängen, damit sie Druck auf die israelische Regierung ausübt die Besatzung zu beenden. Saeed Amireh rief dazu auf, die Besatzung nicht weiter zu unterstützen. Schließlich werden von deutschen Steuergeldern Waffen zu Verfügung gestellt, die dazu verwendet werden, auf Palästinenser zu schießen. Der Druck vom Ausland sei die einzige Lösung. In den 25 Jahren der Verhandlungen sei nichts passiert. Das Leiden der Palästinenserinnen und Palästinenser sei im Gegenteil immer größer geworden.

2. "Wir müssen die Menschen wachrütteln. Sie dürfen die Augen nicht vor den Geschehnissen in Palästina verschließen." Saeed Amireh rief dazu auf
a. sich selbst und andere zu informieren, z. B. über Websites und Mailinglisten
b. mehr über Palästina zu berichten und nach Möglichkeit dorthin zu reisen, um authentisch erzählen zu können. Besonders empfehlenswert sei gerade auch der Besuch von Dörfern, die vom Mauerbau besonders hart betroffen sind. Anregungen für Reisen sind auf der Website der Gruppe für Demokratie im arabischen und Mittelmeerraum (DEAM) zu finden:
www.deam.msx.de

3. Wichtig ist es, dass internationale Aktivisten nach Palästina fahren. "Denn wann immer internationale Aktivisten zwischen uns und den Soldaten sind, haben die Soldaten Angst, unsere Leute umzubringen."

4. Die Bauern sollten unterstützt werden, da sie durch die israelische Politik in ihrer Existenz bedroht sind.

5. Auch die palästinensische Wirtschaft allgemein sollte unterstützt werden. "Wir werden den Kampf für eine Existenzgrundlage fortsetzen. Wir haben eine schwere Existenz während die Besatzer unsere ökonomische Situation mit allen Mitteln kontrollieren: Die Industrie, die Nahrung, die Löhne - einfach alles. In unserem Leben fühlt sich die Besatzung wie ein Krebsgeschwür im Körper an. Wir benötigen die Unterstützung für all unsere Leute."



Ni'lin: Palästina wiederbepflanzen!

Saeed Amireh berichtet über ihre Aktion für neue Olivenbäume in Ni'lin: "In Palästina sagen wir: 'Wenn die israelische Besetzung einen Olivenbaum entwurzelt, dann pflanzen wir zehn Bäume ein, um zu zeigen, dass wir an unserem Land unbeirrt festhalten und nicht aufgeben'. Spenden für neue Olivenbäume unterstützen den gewaltfreien Widerstand politisch und menschenrechtlich, und auch die Bauern, die sehr viel durchstehen müssen."

70% der zerstörten Olivenbäume kann das Dorf Ni'lin bereits durch die bis November 2011 erhaltenen Spenden ersetzen. Bitte helft mit, dass die Aktion "Replant Palestine" bis Jahresende alle 1.100 durch den illegalen Mauerbau in Ni'lin verlorene Olivenbäume ersetzen kann. (http://replantpalestine.org/en)


Die israelische Besatzung hat die palästinensische Wirtschaft zu einem großen Teil ruiniert

Der Staat Israel profitiert wirtschaftlich von der Besatzung - sogar von Hilfslieferungen an die Palästinenser - und hat die palästinensische Wirtschaft zu einem großen Teil ruiniert:

• Die Beschlagnahme von Land und Gebäuden, der Wasserraub, häufige Ausgangssperren, Abriegelungen von Gebieten, ca. 600 Checkpoints mit oft stundenlangen Wartezeiten für Fußgänger und Fahrzeuge, willkürliche Verhaftungen, Zerstörungen und Schließungen von Firmen, massive Bau- und Export- und Importbeschränkungen machen eine weitgehend normale Wirtschaft in Palästina unmöglich.

• Die Kontrolle des palästinensischen Zahlungsverkehrs mit dem Ausland durch Israel mit immer wieder durchgeführten finanziellen Blockaden "zur Bestrafung" verschärft die katastrophale Situation.



Veranstaltungen in Bielefeld und Umgebung

Anfang November 2011 wurden drei öffentliche Veranstaltungen sowie zwei Schulveranstaltungen mit Saeed Amireh in Ostwestfalen organisiert, darüber hinaus weitere in Deutschland, Frankreich und Italien. Seine Vorträge wurden jeweils aus dem Englischen oder Arabischen ins Deutsche übersetzt. Die Teilnehmenden waren sehr beeindruckt und schockiert in Anbetracht des Vortrags und des Film- und Fotomaterials, das massive Gewalt der israelischen Armee gegen friedliche Demonstranten und gegen Frauen und Kinder im Dorf sowie das höhnische Grinsen eines Soldaten zeigte.

Überlegt wurde wie wir diese Informationen und diese starken Eindrücke weiter geben können. Insbesondere wurde die Bedeutung für Schulen diskutiert.


Ein Interview mit Saeed Amireh, eine Aufzeichnung eines seiner Vorträge sowie weitere Informationen stehen auf YouTube, auf der Website der Gruppe für Demokratie im arabischen und Mittelmeerraum (DEAM) sowie auf der Website des Versöhnungsbunds zur Verfügung:
www.deam.msx.de

Gabi Bieberstein ist Vorstandsmitglied im Versöhnungsbund und Mitglied in der Gruppe für Demokratie im arabischen und Mittelmeerraum (DeAM).



Fußnoten:

(1) US cable tells of Israel's 'harsh measures'. Leaked diplomatic despatches highlight efforts by army to use force against peaceful protesters in the West Bank, Aljazeera 4.9.2011,
http://www.aljazeera.com/news/middleeast/2011/09/201194151030677316.html

(2) Palästinenser getötet - Von Tränengasgranate im Gesicht getroffen, derStandard .at 10. Dezember 2011,
http://derstandard.at/1323222707334/Palaestinenser-getoetetVon-Traenengasgranate-im-Gesicht-getroffen

(3) Four people got injured in Ni'lin Town during the Non-violent Weekly protest against the Apartheid wall, 11.11.2011,
http://www.nilin-village.org/2011/11/14/four-people-got-injured-in-nilin-town-during-the-non-violent-weekly-protest-against-the-apartheid-wall-11-11-2011/

(4) Siehe dazu: Ludwig Watzal: Popular Resistance in Palestine - Book Review,
http://between-the-lines-ludwig-watzal.blogspot.com/2011/11/popular-resistance-in-palestine.html


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Quelle:
© 2011 by Gabi Bieberstein
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Dezember 2011