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LATEINAMERIKA/1099: Brasilien - Landverlust durch Satellitenbahnhof, Sklavennachfahren verelenden (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 13. Juli 2010

Brasilien: Landverlust durch Satellitenbahnhof - Sklavennachfahren verelenden

Von Vera Salles


Alcántara, Brasilien, 13. Juli (IPS) - In der Region Alcántara im nordostbrasilianischen Bundesstaat Maranhão kollidieren Hightech und Tradition. Hier, auf dem Traditionsland der Nachfahren schwarzer Sklaven, hat sich ein Weltraumbahnhof breitgemacht. Die Quilombola, wie die Angehörigen der Minderheit genannt werden, verlangen Entschädigungen.

Die Quilombola unterscheiden sich nicht nur durch ihre dunkle Hautfarbe von den anderen Bewohnern der Region. Sie haben auch eine eigenständige Kultur, einen eigenen Dialekt und verfahren nach anderen Produktionsweisen. In ihrem Gebiet an der Nordostküste des Landes organisieren sie sich weitgehend selbst.

Doch 1983 beschloss das Luftfahrtministerium, auf ihrem Territorium einen Weltraumbahnhof zu bauen. Seit dem Jahr 2000 dürfen die USA von dort Trägerraketen ins All bringen und Satelliten kontrollieren. Die Quilombola wurden nicht gefragt - obwohl ihnen die Verfassung von 1988 den Besitz an dem Boden, auf dem sie leben, zusichert.

Nahezu 80 Prozent der rund 19.000 Menschen in der Region Alcántara leben in Quilombos, wie die Siedlungen der Nachfahren ehemaliger Sklaven genannt werden. Sie ernähren sich von Landwirtschaft, Fischerei und Urwaldfrüchten.


500 Familien vertrieben

Mehr als 500 Familien wurden durch den Bau der Station heimatlos. Als der Satellitenbetrieb begann, wurden über 300 Familien in so genannte 'Agrovillas', landwirtschaftliche Dörfer, umgesiedelt. Die hatten nicht viel gemeinsam mit den alten traditionellen Siedlungen: schmucklose Backsteinhäuser, gruppiert um eine Schule, eine Kirche, ein Gemeinschaftszentrum und eine Maniok-Mühle. Maniok ist ein typisches Grundnahrungsmittel der Quilombola.

Sieben dieser Agrovillas gibt es inzwischen, die traditionelle Lebensweise der Menschen ist dort verloren gegangen. Zum Beispiel funktioniert das alte System des Gemeinbesitzes ihrer Dörfer nicht mehr. Jede Familie hat eine Parzelle zugeteilt bekommen, die aber nicht genug zum Leben hervorbringt.

Fischfang ist nicht mehr möglich, weil die nächsten Binnengewässer zu weit weg sind und das Sperrgebiet des Weltraumbahnhofs sie vom Meer abschneidet. Als Konsequenz wanderten viele Quilombola in die Städte, die illegalen Siedlungen rund um Alcántara zeugen davon. Die Gewalt nahm drastisch zu.


Verelendung und Krankheiten

1992 gründeten die Quilombola-Frauen MONTRA, die Bewegung der Landarbeiterinnen von Alcántara und verschiedene andere Organisationen, um ihre Interessen zu vertreten. "Der soziale und kulturelle Verfall hat zu Kinderprostitution, Teenagerschwangerschaften und einer Zunahme von sexuell übertragener Krankheiten geführt", sagt die Aktivistin Fátima Diniz Ferreira, eine ehemalige MONTRA-Koordinatorin.

Cajueiro ist eins dieser Agrovillas. Das Dorf liegt 14 Kilometer entfernt von der Stadt Alcántara, die Bewohner bauen Mais, Maniok und Reis an und fischen im nahen Fluss. Die Frauen tragen wesentlich zum Familieneinkommen bei, indem sie Öl aus dem Kern der Nuss der Babassu-Palme gewinnen.

Das Öl bringt auf dem Markt in der Stadt 2,60 Dollar pro Liter. Es wird als Speiseöl oder in Kosmetika eingesetzt. Die Gewinnung ist ein Knochenjob. "30 Frauen brechen hier die Kerne auf, ich mache das, seit ich 18 bin", sagt Zildene Torres Silva, heute 33 und Mutter von zwei Kindern. "Die Mädchen heute wollen das aber nicht mehr machen, es ist ihnen viel zu anstrengend."


Harte Arbeit, keine Zukunft

Die Frauen verdienen zwischen 21 und 27 Dollar im Monat - zu wenig für so harte Arbeit, sagt die 58-jährige Basilia Diniz Silva. "Wir schwitzen wie verrückt und oft wird uns schlecht, weil wir die Kerne so hart klopfen und dann über dem Feuer erhitzen müssen."

Am schlimmsten aber sei für die jungen Frauen das Leben in dem Agrovillas, wo es nur eine Grundschule gibt. "Die Mädchen haben keine Zukunft. Sie arbeiten auf dem Feld mit, helfen ihren Eltern und heiraten früh", sagt sie. Torres hat selbst eine 14-jährige Tochter. Wer es durch die Grundschule schafft, muss nach Alcántara auf eine weiterführende Schule. Danach, so fügt ihre Tochter hinzu, könne man nur noch weggehen, in der Region gebe es keinerlei Möglichkeiten.

Regina Lúcia de Azevedo Pacheco kümmert sich um Erwachsenenbildung. Auch sie sieht kaum Chancen für junge Quilombola-Frauen. "Für die meisten ist die Universität nur ein weit entfernter Traum, ihre Zukunft besteht aus Haushalt, zu früher Schwangerschaft oder Arbeitssuche in den Städten, wo sie als Haushaltshilfen oder Arbeitslose enden", sagt sie.

Wer studieren will, muss raus der Region, und das wiederum ist finanziell problematisch für die Familie. "Manchmal wiederholen Mädchen die letzte Klasse der Grundschule mehrere Male, weil sie einfach nicht weggehen können", berichtet sie.

Jetzt steht eine Erweiterung des Weltraumbahnhofs an - zu Lasten weiterer Quilombos. Die Dörfer haben das Bundesgericht angerufen, um einen Schutz ihrer Landrechte zu erwirken. Es sollen keine Siedlungen zerstört werden, die wirtschaftlich produktiv arbeiten. Doch Pacheco ist sich darüber im Klaren, dass die Quilombola von Alcántara vor dem Aussterben stehen, denn die Bedrohung durch die Außenwelt wird nie verschwinden. (Ende/IPS/sv/2010)


Links:
http://www.alcantaracyclonespace.com/?lng=2
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IPS-Tagesdienst vom 13. Juli 2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juli 2010