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LATEINAMERIKA/1166: Bolivien - Privatunternehmen ade, das Land wächst trotzdem (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 18. Oktober 2010

Bolivien: Privatunternehmen ade - Land wächst trotzdem

Von Franz Chávez


La Paz, 18. Oktober (IPS) - Ausländische Direktinvestitionen sind in Bolivien rückläufig, und die Strategie, auch zum Teil erst kürzlich privatisierte Betriebe wieder zu verstaatlichen, sorgt in Bolivien für erregte Debatten. Doch trotz aller Kritik am Wirtschaftskurs von Staatspräsident Evo Morales wächst das Bruttoinlandsprodukt des südamerikanischen Landes.

In den vier Jahren, in denen der Andenstaat bereits nach dem Modell des 'socialismo comunitario' (gemeinschaftlichen Sozialismus) verfährt, hat die Regierung in Bereiche eingegriffen, die traditionell zum Hoheitsbereich der Privatunternehmen zählten. So gründete sie die Fluggesellschaft 'Boliviana de Aviación' (BoA) und baute das Serviceangebot für den Fracht- und Passagierverkehr der Bolivianischen Luftwaffe aus.

Zudem zog der Staat Papier- und Kartonagefabriken hoch und gründete das Unternehmen 'Almendra y Derivados', das Paranüsse weiterverarbeitet und exportiert. Ferner greift sie den Kleinproduzenten kaufmännisch und finanziell und die Arme und plant den Aufbau einer nationalen Milch- bzw. Zuckerindustrie.


Heilige Kühe werden geschlachtet

Das Modell des Gemeindesozialismus, das in der neuen Verfassung Boliviens vom Februar 2009 festgeschrieben ist, impliziert auch die neuerliche Regie des Staates in Wirtschaftssegmenten, die zuvor privatisiert worden waren, darunter die Produktion fossiler Brennstoffe wie Erdöl und Gas, den Energiesektor, die Luftfahrt und das Fernmeldewesen.

Neben der Bereitstellung neuer Arbeitsplätze geht es der Morales-Administration auch darum, günstige Bedingungen zu schaffen, um die in Kooperativen und Gewerkschaften zusammengeschlossenen Kleinbauern zu fördern und so die Lebensmittelproduktion anzukurbeln. Dadurch will die Regierung ein Gegengewicht zur exportorientieren Agro-Industrie im Department Santa Cruz, im Westen des Landes, schaffen.

Die staatliche Präsenz in der Lebensmittelproduktion und im Dienstleistungssektor steckt allerdings noch in den Kinderschuhen. In der noch andauernden Startphase sind gerade einmal 1.028 neue Arbeitsplätze geschaffen worden, wie aus Daten des Entwicklungs- und Produktionsministeriums hervorgeht.

Im Mai 2006, während der ersten Präsidentschaft von Evo Morales, begann sich der neue Kurs der Regierung in den Statistiken niederzuschlagen: Mit der Neuverhandlung von Verträgen über die Erdölförderung durch ausländische Unternehmen flossen dem Staat mehr Steuern zu, die die Einnahmen Boliviens beträchtlich erhöhten.


Staat investiert in sich selbst

Die Regierung gibt die staatlichen Investitionen mit derzeit 2,2 Mrd. US-Dollar an. 2005 waren es nur 500 Millionen Dollar gewesen. Mit den öffentlichen Investitionen werden die Ausgaben für den Straßenbau und den Ausbau der sozialen Infrastruktur wie Schulen und Gesundheitszentren, die Wasser- und Sanitärversorgung und technische Hilfe für Kleinbauern finanziert.

Im offiziellen Regierungsdiskurs würde das Ausland zwar einerseits dazu ermutigt, in Bolivien zu investieren, auf der anderen Seite fehlten jedoch die entsprechenden politischen Maßnahmen zur Entwicklung der Kohlenwasserstoffproduktion, des Bergbaus, der Energiebranche, des Fernmeldewesens und des Verkehrssektors, kritisiert die private Stiftung 'Milenio'.

Laut einem Milenio-Bericht hat es in den letzten Jahren einen drastischen Einbruch bei den ausländischen Direktinvestitionen gegeben. Sie gingen von 402 Millionen Dollar 2008 im Folgejahr auf 245 Millionen Dollar zurück. In den ersten drei Monaten dieses Jahres sind 156 Millionen Dollar ins Land geflossen - angesichts eines Bruttoinlandsprodukts von 17 Milliarden Dollar eine verschwindend geringe Summe, konstatiert die Stiftung.

Die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) kam hingegen in ihrem letzten Jahresbericht auf Direktinvestitionen von 507,5 Millionen Dollar für 2008 und 418,4 Millionen Dollar für 2009. Dieser Rückgang ist wesentlich geringerer, als ihn andere Länder der Region aufgrund der weltweiten Wirtschaftskrise zu beklagen hatten.


Referendum stützt derzeitigen Wirtschaftskurs

Die Experten der Stiftung Milenio machen eine zunehmende Distanzierung zwischen Staat und Investoren aus. Als Beispiel führen sie die kürzliche Verstaatlichung von 33,34 Prozent der Aktienanteile an der Zementfabrik 'Fancesa' an, die sich mehrheitlich im Besitz der Firma 'Soboce' befindet. Einer der Mehrheitseigner der Soboce ist das mexikanische Konsortium 'Grupo Cementos de Chihuahua de México'.

"Die Verdrängung der Privatinvestoren zugunsten von Staatsunternehmen überrascht eigentlich nicht", meint der Dekan der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und Finanzwesen an der Bolivianischen Katholischen Universität, Alejandro Mercado.

Der Wissenschaftler verweist darauf, dass mehr als 60 Prozent der Wähler im Jahr 2008 den Präsidenten bei einem Referendum in seinem Amt bestätigt und damit auch ihre Unterstützung für das ideologische Projekt von Evo Morales zum Ausdruck gebracht haben. Damit hätten die Bürger signalisiert, dass sie den Staat für einen leistungsstarken Anbieter von Dienstleistungen halten, der stark genug sei, um effizient zu produzieren und die Reichtümer des Landes angemessen zu verteilen.

Der Staat komme allerdings seinen Versprechen nicht nach, strategische Allianzen mit dem Privatsektor zu knüpfen und gehe, wie im Fall Fancesa, den Weg der Enteignung, beklagt der Präsident der Vereinigung der Privatunternehmer von La Paz, Enrique García.

Es sei allerdings legitim, "dass die Regierung ihre ideologische Vision verfolge, nachdem die Bevölkerung an den Wahlurnen ihre Unterstützung für diesen Weg erklärt hat", unterstreicht Mercado.


Monopole sollen zerschlagen werden

Das Amt für Steuer- und Sozialkontrolle von Unternehmen (AEMP) verhängte im September eine Geldstrafe von etwa 56.000 Dollar über die Zementfabrik Soboce. Eine ähnlich hohe Strafe musste die private Fluggesellschaft Aerosur zu zahlen. Den beiden Unternehmen werden Verfahrensfehler bei der Umwandlung von Gesellschaften zur Last gelegt, wodurch gegen das Handelsrecht verstoßen worden sei. Dem AEMP-Geschäftsführer Óscar Cámara zufolge ist man dabei, Produktionsmonopole zu zerschlagen um auf diesem Wege niedrigere Preise und Tarife zu ermöglichen, die den Verbrauchern zugute kommen sollen.

Nach Angaben der CEPAL wuchs das Bruttoinlandsprodukt in Bolivien im Jahr 2008 um 6,1 Prozent und inmitten der Weltwirtschaftskrise 2009 um 3,8 Prozent. Dieses Jahr wird mit einem Anstieg von 4,5 Prozent gerechnet und die Prognosen für 2011 liegen bei vier Prozent.

Obwohl es weltweit kein staatliches Unternehmen gibt, dass in Punkto Effizienz mit privaten Firmen mithalten könnte, stellt der Wirtschaftswissenschaftler Mercado die Effizienz privater Unternehmen in Bolivien in Frage. Die Firmen seien auf staatliche Protektion aus gewesen. Sie hätten sich Steuererbefreiungen und somit höhere Einnahmen verschafft. (Ende/IPS/beh/2010)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Oktober 2010